11/02/2022

Wenn David Tudor interdisziplinär mit Kolleg*innen aus anderen Bereichen kooperierte und Werke schuf, die zwischen Komposition, Performance, Objektkunst und Installation angesiedelt sind, bewegt sich die von Christina Penetsdorfer am Museum der Moderne Salzburg kuratierte Ausstellung „Teasing Chaos. David Tudor“ (3.7.2021-13.2.2022) an der Schnittstelle von bildender Kunst, Musik, Performance und Technologie, und erweitert in Verbindung mit der inhaltlich und formal überzeugenden Publikation ganz entscheidend das Narrativ von Tudor als Interpret und Pianist, wodurch eine rezeptionsgeschichtliche Lücke in der Wahrnehmung seines Werks geschlossen wird.

11/02/2022

David Tudor, Black Mountain College, 1953, Detail, Ausstellungskatalog S. 8

©: Bettina Landl

David Tudor und John Driscoll während einer Performance von Rainforest IV, Institute of Contemporary Art, Philadelphia, April 1979, Detail, Ausstellungskatalog S. 14/15

©: Bettina Landl

John Cage, Variations II, 1961, Partitur, Ausstellungskatalog S. 24

©: Bettina Landl

David Tudor, „Nomographs", Spielpartitur für John Cages Variations II, 1961, Tinte auf Karton, Getty Research Institute, Los Angeles (980039), Detail, Ausstellungskatalog S. 26/27

©: Bettina Landl

Robert Rauschenberg, Elgin Tie / David Tudor, Fluorescent Sound, 13. September 1964, Performances, Moderna Museet, Stockholm, Ausstellungskatalog S. 21

©: Bettina Landl

Jasper Johns / Robert Rauschenberg / Niki de Saint Phalle / Jean Tinguely / David Tudor, Homage to David Tudor, 20. Juni 1961, Performance, US-Botschaft Paris, Getty Research Institute, Los Angeles (2014.R.20), Ausstellungskatalog S. 29

©: Bettina Landl

David Tudor, Ralph Flynn und Fred Waldhauer während des Aufbaus von Bandoneon! (a combine), Oktober 1966, Foto: Peter Moore, Ausstellungskatalog S. 35

©: Bettina Landl

David Tudor, Bandoneon! (a combine), 1966, Performance, 69th Regiment Armory, New York, Foto: Peter Moore, Ausstellungskatalog S. 37

©: Bettina Landl

Im Prozess der Formfindung ist der Zufall ein wesentliches Moment und komponiert gelegentlich fantastische Variationen zur Unbestimmtheit eines Objekts. Improvisation, Gravitation und Bewegungsmuster erzeugen Flächen- und Phasenverschiebungen, sind Raumhandeln. When a line crosses a line, also: Punkt. Klanggebilde sind Objekte, (un)sichtbar, sind fallweise Fetisch, Erwartung, indessen immer raummodulierend. Das Betreten eines Systems: „Teasing Chaos“, das Symbiose(n) ausweist, vor allem die Welt als eine große Klangmaschine und Allianz aus Linien und Punkten. Ergebnis von Experiment, Spiel und der Tatsache von (invasiven) Tönen – selbstreferenziell einer eigenen Logik folgend. Anschaulich wird die Körperlichkeit der Musik und der Versuch, sich hehren Erfindungen auszusetzen/anzupassen und darauf angemessen zu reagieren/antworten. Basale Verzerrungen, schiefe Drehungen, originelle Bewegungsabläufe sind die Folge, also: Formen, die einem Hämmern, Pochen, Rauschen und Klopfen entspringen und entlang der Achse Körper als dessen Klangumgebung wirken.

In der von Christina Penetsdorfer am Museum der Moderne Salzburg kuratierten Ausstellung „Teasing Chaos. David Tudor“ bewegen sich die Besucher*innen an der Schnittstelle von bildender Kunst, Musik, Performance und Technologie. David Tudor (1926-1996) war in den 1950er- und 1960er-Jahren einer der führenden Pianisten und Interpreten zeitgenössischer Musik. Er etablierte sich als Interpret der bekanntesten Komponisten experimenteller Musik, um sich nach und nach von seiner Rolle als Theoretiker und ausführender Interpret allmählich hin zu einem Composer-Performer und Live-Elektroniker zu wandeln. Gleichzeitig begann er interdisziplinär mit Künstler*innen aus anderen Bereichen zu kooperieren und schuf Werke, die zwischen Komposition, Performance, Objektkunst und Installation angesiedelt sind. „Teasing Chaos. David Tudor“ ist die erste Präsentation seiner ab 1961 entwickelten Projekte. Ausstellung und Publikation erweitern ganz entscheidend das Narrativ von Tudor als Interpret und Pianist und schließen eine Lücke in der Wahrnehmung dieses Künstlers. „Dieser hatte die Begabung, den vagen Angaben der grafisch notierten Partituren, die den Prinzipien von Unbestimmtheit und Zufall folgten, durch präzise Mess- und Rechenmethoden in allererst spielbare und damit erstaunliche und minutiös ausgeführte Stücke zu verwandeln, (…)“ erklärt Penetsdorfer. „Dass über Tudor bislang kaum nachgedacht wurde, nicht nur im Kontext der Musikwissenschaft, zeigt sich beispielsweise in der lückenhaften Rezeption von Tudors erster live-elektronischer Komposition Fluorescent Sound (1964).“ – wofür er Kontaktmikrofone an mehr als zweihundert an der Decke befestigten Leuchtstoffröhren applizierte, um den „fluoreszierenden“ Sound des Lichts hörbar zu machen. Diese wurde durch die zeitgleich und am selben Ort (Moderna Museet, Stockholm) stattfindenden Performance Elgin Tie von Robert Rauschenberg jedoch gewissermaßen verdrängt. Seine brachiale multimediale Performance Bandoneon! (a combine) im Jahr 1966 als Teil von 9 Evenings: Theatre & Engineering erzeugte hingegen etwas mehr Resonanz. Sein Ziel war es dabei, die fast 3000 Quadratmeter große Armory Hall in ein einziges Musikinstrument zu verwandeln, das nur von ihm allein gespielt wurde. Beinahe unsichtbar bleibt Tudor (auch) in D. A. Pennebakers Film Rainforest von 1968, der eine Dokumentation der Proben und der Premiere von Merce Cunninghams gleichnamiger Choreographie ist, zu der Tudor die live-elektronische Musik entwickelt hat. Dokumentiert ist, dass er in den 1950er-Jahren einen direkten Einfluss darauf hatte, wie Komponisten ihre Stücke geschrieben haben. 1961 schrieb John Cage Variations II und in der US-Botschaft in Paris fand eine Performance mit dem Titel Homage to David Tudor statt, an der, neben Tudor, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely teilnahmen. Variations II gilt als der Wendepunkt in der Entwicklung Tudors vom ausführenden Interpreten hin zum schöpferischen Komponisten, denn das Stück galt als die bis dahin abstrakteste und komplexeste Komposition Cages. Die Partitur bestand aus sechs Strichen und fünf Punkten, je verteilt auf elf transparenten Folien, die vom Interpreten auf dem Boden ausgeworfen wurden. Dessen Aufgabe war es dann, aus der Lage der Folien unter Beachtung kompositorischer Parameter (Häufigkeit, Dauer, Lautstärke, Klangfarbe, Zeitpunkt des Auftretens in einem festgelegten Zeitraum und Struktur des Ereignisses) die Striche und Punkte in Bezug zueinander zu setzen und daraus ein spielbares Werk abzuleiten. Als eine denkbare Referenz bietet sich Wassily Kandinskys „Punkt und Linie zur Fläche“ an, das 1926 unter der Schriftleitung von Walter Gropius und Ladislaus Moholy-Nagy als Band 9 der Bauhaus-Bücher veröffentlicht wurde und als Fortsetzung seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ (1912) gilt. Darin heißt es: „Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben: Äußeres – Inneres. Die Straße kann durch die Fensterscheibe beobachtet werden, wobei ihre Laute vermindert, ihre Bewegungen phantomartig sind und sie selbst durch die durchsichtige aber feste und harte Scheibe als ein abgetrenntes, im ‚Jenseits‘ pulsierendes Wesen erscheint. Oder es wird die Tür geöffnet: man tritt aus der Abgeschlossenheit heraus, vertieft sich in dieses Wesen, wird darin aktiv und erlebt die Pulsierung mit allen seinen Sinnen. Die sich fortwährend wechselnden Tongrade und Tempi der Laute wickeln sich um den Menschen, steigen wirbelartig und fallen plötzlich erlahmt. Die Bewegungen wickeln sich ebenso um den Menschen herum – ein Spiel von horizontalen, vertikalen Strichen und Linien, die sich durch die Bewegung nach verschiedenen Richtungen neigen, von sich aufhäufenden und sich zerstreuenden Farbenflecken, die bald hoch, bald tief klingen.“

Tudors performative Praxis setzte stets bei einem spezifischen Ort an. Dabei entwickelte er aus dessen räumlich-akustischen Gegebenheiten und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine Situation, in der er den Raum als Resonanzkörper nutzte und mit den vorhandenen Objekten Klang erzeugte. „Seit einiger Zeit finde ich, dass es schön wäre, die eigenen Gedanken von innen nach außen zu kehren, was mir möglich ist, da ich nicht in einer linearen Weise komponiere. Ich komponiere um die Peripherien herum, musst du wissen.“ (in: David Tudor and Larry Austin,
A Conversation, April 3, 1989, Denton, Texas)

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