09/02/2022

MINUS - Kommerzialisierung des öffentlichen Raums am Lendplatz.
Vom Platz für die Allgemeinheit zum heiß umkämpften Ort der Verwertung.

Nach einstimmigem Beschluss im Stadtsenat dürfen die Marktstandln am Lendplatz vorübergehend auch am Sonntag öffnen. 

09/02/2022

Privatisierung des öffentlichen Raums Lendplatz

©: Elisabeth Kabelis-Lechner

Lendplatz vor Inbetriebnahme der neu errichteten Standln auf der Südseite

©: Elisabeth Kabelis-Lechner

öffentlicher Raum als Abstellfläche für Standler

©: Elisabeth Kabelis-Lechner

nach Marktschluss

©: Elisabeth Kabelis-Lechner

Lendplatz an einem Sonntag, verstellt und vermüllt

©: Elisabeth Kabelis-Lechner

Verkehrskonzept 2019
©: verkehrplus

Die temporäre Öffnung der Gastro-Standln am Sonntag wurde einstimmig Ende Jänner 2022 im Stadtsenat beschlossen. „Der Markt am Lendplatz ist seit Jahren ein Fixpunkt im Grazer Marktgeschehen. Von Montag bis Samstag laden die Lokale am Markt ein, sich niederzulassen - ob zum Frühstücken oder um in den heißen Monaten ein Eis zu genießen. In einem Pilotprojekt von März bis Oktober 2022 wird nun evaluiert ob eine Öffnung der Gastrostände auch am Sonntag sinnvoll ist. Veranstaltungen und Musikbeschallung vom Stand nach außen sind an Sonntagen weiterhin nicht erlaubt. Am Ende des Projekts wird es gemeinsam mit Sozialpartnern, Bezirksrat und Co. eine Schlussevaluierung geben.“ (Quelle: www.graz.at)

„Es war ein Wunsch aus dem Bezirksrat, den Kurt Hohensinner (ÖVP) nun aufgreift“, so G. Winter-Pölsler in der Kleinen Zeitung vom 16.1.. Dies stimmt so nicht ganz, denn der neue Bezirksvorsteher Christian Carli (KPÖ) bekräftigt, dass dies ein Wunsch der Bezirks-ÖVP war. 2018 gab es dazu im Bezirksrat eine Abstimmung, die Mehrheit war dafür. Die KPÖ war dagegen, laut Carli waren die Grünen auch dagegen bzw. haben sich enthalten. BV Carli ist auch jetzt weiterhin strikt gegen eine Sonntagsöffnung und wird die Evaluierung sehr genau beobachten. 

Im Wahlkampf haben sich sowohl KPÖ als auch Grüne vehement gegen die weitere Eventisierung der Stadt ausgesprochen und uns auch mehr konsumfreie Räume versprochen. Umso mehr verwundert hier die einstimmige Entscheidung zu dieser weiteren Kommerzialisierung des Lendplatzes.

Bereits unter Mario Eustacchio (FPÖ) - in der abgewählten Regierung für das Marktwesen zuständiger Politiker - wurde der Lendplatz mit weiteren zwei fixen Ständen im südlichen Bereich verbaut. War das wirklich notwendig? Der städtebaulichen Wirkung des Platzes hat es nicht gut getan, der Platz ist nun an seiner Westseite durch eine durchgehende Standlreihe abgeriegelt und nicht mehr einsehbar. Im Sommer konnte man dann eine zweite ungünstige Auswirkung bemerken. Das südlichste, jüngst errichtete Standl betreibt seit 2021 einen weiteren großen Gastgarten am Lendplatz. Blaue Riesenschirme werben für Augustinerbräu, es ist laut und Marktbesucher*innen müssen sich zum Bauernmarkt durch die verbliebene schmale Gasse durchkämpfen. Der Lendplatz hat sich nun endgültig zu einem riesigen kommerziellen Gastgarten entwickelt. (Auf Bild 6 - Verkehrskonzept ist ersichtlich, wie wenig fixe Stände es bis vor kurzem auf der Westseite des Platzes gab.)

Wer kann schon etwas gegen Gastgärten haben, wir alle sitzen gerne in Gastgärten? Stimmt. Und diese Gastgärten gibt es ja bereits, was soll sich durch die Öffnung großartig ändern? Ein Tag mehr Lärm ist eine Änderung, denn bisher gehörte wenigstens am Sonntag der Lendplatz der Allgemeinheit. Die Menschen konnten sich dort in Ruhe ohne laute Biergartenstimmung unter schattigen Bäumen aufhalten und sich den Platz nach ihren Interessen konsumfrei aneignen.

Bereits Anfang 2014 empfahlen die Autor*innen der Studie LQI 2013 – RESIDENZIELLE SEGREGATION. VERTIEFTE ANALYSE AUSGEWÄHLTER TEILRÄUME für den Teilraum Lendviertel: 
„Mit der Ausweitung der Kernzone und damit einhergehenden Erhöhung der Dichte (im Stadtentwicklungskonzept 4.0) sollte eine begleitende Auseinandersetzung mit qualitativen Inhalten stattfinden: in welche Richtung kann sich der Stadtteil künftig entwickeln, welche weiteren Qualitäten können geschaffen werden und wie kann das Zusammenleben im Stadtteil weiter verbessert werden? Vor allem Grünflächen und konsumfreie Begegnungsorte können hierbei eine wesentliche Rolle spielen.In der Zusammenfassung liest man u.a.: „Grundsätzlich funktioniert das Zusammenleben gut und konfliktfrei. Im öffentlichen Leben gibt es jedoch wenig Berührungspunkte zwischen neu Zugezogenen und Menschen mit Migrationshintergrund. So bevorzugen MigrantInnen eher konsumfreie Orte. Dies ist im Stadtteil vor allem der Volksgarten. Sonst verweilen MigrantInnen eher in ihrem nahen Wohnumfeld – so zum Beispiel in Innenhöfen von Wohnhäusern."

Die nun getroffene Entscheidung im Stadtsenat für eine Öffnung der Gastro-Standl am Sonntag ignoriert sowohl diese Empfehlung der Lebensqualitätsindikatoren-Studie 2013 wie auch die dringenden Handlungsempfehlungen der LQI Studie 2018. Und sie ignoriert vor allem die Tatsache, dass es in Lend einen großen Mangel an konsumfreiem öffentlichem (Grün-)Raum gibt.

Besonders verwunderlich an dieser Entscheidung ist, dass die Parteien der Regierungskoalition dem Vorschlag der ÖVP übereilt und ohne öffentliche Diskussion der Auswirkungen dieser Maßnahme auf den Stadtteil und sein Gemeinwesen zugestimmt haben. Verwunderlich auch, weil diese Vorgansweise auch dem Regierungsprogramm von KPÖ, Grünen und SPÖ widerspricht, indem u.a. ein Mehr an öffentlichem, konsumfreiem Raum und ein Mehr an Bürger*innenbeteiligung als Ziele formuliert sind. Originaltext: „Die Innenstadt soll in Zukunft nicht mehr als reine Eventzone gesehen, sondern auch als Wohn- und Lebensraum wahrgenommen werden.“

Konfrontiert mit einer Anfrage nach den Beweggründen für diese nicht konsequente Entscheidung, meinte Edith Glanzer vom Grünen Club: erstens handle es sich um eine Öffnung auf Probe für nur ein paar Monate und zweitens habe man nach sehr intensiver Diskussion kein schlagendes Argument gefunden, dem Vorschlag von der ÖVP nicht zuzustimmen. 

Vielleicht hätte man zuerst offene Gespräche im Lendviertel führen und die Menschen in die Entscheidungsfindung einbeziehen sollen. Empfehlenswert wäre auch ein Blick in das Lendwirbel-Manifest gewesen: Vielleicht hätte man dann doch Argumente gegen eine Kommerzialisierung durch die Sonntagsöffnung gefunden. 

Einige Forderungen aus dem Lendwirbel-Manifest: 

„OFFENE RÄUME: Einen öffentlichen Raum, der als Basis gelebter Demokratie funktioniert. Die NutzerInnen dieser Räume sollen nicht auf die Rolle von KonsumentInnen reduziert werden, sondern Möglichkeiten haben, die selbstbestimmten BürgerInnen entsprechen. Straßen, Plätze und Gassen wollen wir so gestaltet sehen, dass Begegnungen zwischen unterschiedlichen Menschen und Milieus möglich (…). Einen öffentlichen Raum, in dem es Erlaubtes an Stelle von Verbotenem gibt. Konflikte sind dabei nur unvermeidbar. Nur so können wir eine kultivierte Konfliktfähigkeit erlernen und wiedererlangen, die entscheidend für die Zukunft unserer Gesellschaft sein wird!"

OFFENE ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUREN: Politische Ausverhandlungsprozesse auf Grundlage eines offenen und konstruktiven Diskurses mit den BürgerInnen sind für uns eine Notwendigkeit. Es gibt gegenwärtig eine zunehmende Tendenz, politische Diskurse zurückgezogen hinter verschlossenen Türen zu führen und die BürgerInnen mit vollendeten Tatsachen zu konfrontieren. Oder Gesetze zu beschließen, hinter denen die EntscheidungsträgerInnen eine demokratische Mehrheit wähnen und die Rechte von Minderheiten ignorieren. In so einer Gesellschaft wollen wir nicht leben. Deswegen fordern wir Teilhabe für alle innerhalb des gesellschaftlichen Gestaltungsspielraums. Damit meinen wir keine BürgerInnenbefragungen und Projektbeteiligungen als Alibiaktion. Es geht uns um die Schaffung einer neuen Kultur unter Berücksichtigung des veränderten Kommunikations- und Informationsverhalten. Wir glauben an die Intelligenz der Vielen, wenn wir alle Teil eines offenen, gleichberechtigten Diskurses sind. Durch diese gebündelte Kreativität wird es möglich, Lösungen für all die gegenwärtigen dringlichen Fragen und Problemstellungen zu kreieren

."

Schanigärten auf öffentlichen Plätzen tragen zum Flair und zur Belebung bei. Sie verhindern aber die kostenlose Aneignung und damit auch andere Nutzungsarten des Platzes. 

Positiv an dieser Entscheidung ist, dass sie nur befristet gilt. Die angekündigte Evaluierung muss sich neben den Auswirkungen auf die Wohn- und Lebensqualität auch mit der gerechten Verteilung des öffentlichen Raums am Lendplatz beschäftigen. Dazu müssen neben der angekündigten Einbindung von Sozialpartnern und des Bezirksrats auch die Bevölkerung sowie im Quartier agierende soziokulturelle Akteur*innen einbezogen werden. Man darf gespannt sein, wie diese Probephase bewertet wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden. 

Anonymous

ich hoffe "kein Argument zu haben um nicht zuzustimmen" in diesem Zusammenhang ist, hoffe ich die journalistische Freiheit einer interpretation. Wenn nicht, zeigt das von keiner Ahnung des eigenen politischen Programms.
- dem flächen - und qualitätsverlust des öffentlichen raumes durch zweckentfremdung und kommerzialisierung muss entgegengewirkt werden- so oder ähnlich trommeln die Grünen, wissenschaftsbasiert, seitJjahren, wenn es um Raumplanung und öffentlichen Raum geht. Und jetzt, kaum an der macht, beugt man sich dem Kommerzdruck und meint kein Argument gehabt zu haben um wirklich dagegen sein zu können. Wann kommt endlich eine Massnahme an der man merkt dass ein anderes Stadtverstänrdnis im Rathaus sitzt.

Mi. 09/02/2022 10:17 Permalink
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