26/10/2021

zeitenweise – 12

Ein Schub im Politischen II:
Ein Geist aus der Vergangenheit

In den Hohen Häusern spukt es und viele verspüren Angst. Auch die Politik ist nicht von Heimsuchungen durch Geister und Gespenster gefeit. Während die einen als Totgeglaubte, als Geschichte, als Verborgenes und Verheimlichtes zum Vorschein kommen, treten die anderen als Frage der Gerechtigkeit aus der Zukunft in Erscheinung.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

26/10/2021

the failure of speech

©: Severin Hirsch

Ein Schub im Politischen II: Ein Geist aus der Vergangenheit

Im ersten Akt von Shakespeares Hamlet erscheint den Wachen von Helsingör der Geist des kürzlich verblichenen Königs Hamlet. In einem von Fäulnis/Faulheit befallenen Staat trachtet dieser Geist danach, wieder Ordnung herzustellen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Dieses Spektakel der verquickten Rollenverteilungen von Recht, Rache und Gerechtigkeit spielt sich heute auch mit (mehr oder) weniger treffenden Formulierungen auf der österreichischen politischen (Kleinkunst-) Bühne ab. Dass dabei ein Geist die Hauptrolle spielt, der zwar in der Vergangenheit schon gestorben schien und dennoch aus der Zukunft kommt, wird vielerorts ignoriert. Gespenstisch. Wir müssen mit dem Geist, mit den Geistern, die schon gestorben und noch nicht geboren sind, leben, wir müssen immer mit ihnen rechnen – in unseren Leben als unserem Über-Leben. Für jede unserer Taten müssen wir die Verantwortung tragen und Rechenschaft ablegen können, als ein Ruf der Geschichte und als ein Rufen in die Zukunft. Das sind der Geist der Gerechtigkeit und die Geister aus der Vergangenheit und Zukunft.
Der Anfang eines politischen Umbruchs oder Umdenken fand in Graz mit der Wahl der KPÖ (und der Grünen) und der Abwahl des Bürgermeisters Nagl und seiner ÖVP (sowie der FPÖ) statt. Ein klares Zeichen gegen Feudalsysteme, Industriellenlobbys, unverantwortlichen Umgang mit der Umwelt, Fremdenfeindlichkeit/Menschenhetze und Abbau von Sozialsystemen. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet […]. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrieen worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl, wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848. S. 3.) Es wäre wohl verfrüht (oder verspätet) die Grazer Gemeinderatswahl als Gespenst (das vielleicht das Fremde an sich ist, ohne Zeit, jederzeit und unerwartet bereit, in Erscheinung zu treten, im Gegensatz zum Geist, mit dem wir in einer Form über die Zeit hinweg verbunden sind) über Europa zu bezeichnen, doch die Reaktionen auf nationalpolitischer Ebene fielen größtenteils mit großem Bedenken bis Bedauern aus, wenngleich wir von internationaler Seite mit viel Staunen bis Bewunderung bedacht wurden. Es bleibt die Frage offen, vor welchem Gespenst, welchem Geist sich die Politik (und auch Teile der Grazer Bevölkerung) bei diesem Linksruck fürchten, hat die Linke in der Vergangenheit doch den Wohlfahrtsstaat mit all seinen sozialen Errungenschaften unter Einsatz von viel Blutvergießen aufgebaut.
Es ist verständlich, dass in der Politik die Angst vor dem Geist der Gerechtigkeit, dem Aufdecken von Korruption, dem Offenlegen von Konten, wirtschaftlichen Verstrickungen, Gesprächsprotokollen, E-Mailverkehr u. ä. herrscht, es ist berechtigt, dass Menschen mit kommunistischem Migrationshintergrund an dieser Wahl ihre Zweifel hegen, doch die Furcht vieler vor Enteignung, Gulags, Planwirtschaft, Zensur oder Stasi-ähnlichen Zuständen mit Spitzeln in jedem finsteren Winkel dieser Stadt geht schon stark ins Groteske. Eine bessere Umverteilung der ökonomischen Mittel sollte doch im Interesse einer großen Mehrheit der Bevölkerung sein. Und die Verschärfung von Überwachung, Kontrolle und Zensur sowie eine ökonomische Umverteilung an die Spitze der Pyramide hat uns ohnehin die türkis-blaue Regierung beschert. Damals hat sich kaum wer beschwert, geschweige denn demonstriert und Randale geschlagen. Die Fäulnis und die Faulheit im Staat gehen Hand in Hand. Nicht von unseren demokratischen Rechten und Pflichten Gebrauch zu machen ist eine Beleidigung unseres politischen Erbes. Die aufgedeckten und aufzudeckenden Zustände ermahnen uns, nicht wie Treibgut im Fluss der politischen Entscheidungen zu schwimmen. So wecken wir nur die Geister. Die aus der Vergangenheit, die uns totgeglaubte politische Ideologien als gegenwärtige Meinungen offenbaren oder als politisch-kulturelles Erbe unserer Pflichten gemahnen. Die aus der Zukunft, die uns gleich Ebenezer Scrooge aus Charles Dickens A Christmas Carol Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sich selbst zu informieren, selbst zu denken, zu reflektieren, aufmerksam zu beobachten, daraus eine Meinung zu bilden, den eigenen Geist zu formen, wären durchaus probate Mittel, um die Geister zu beschwichtigen. Unser damaliger Bundeskanzler Sebastian Kurz merkte nach der Wahl an: „Dass Kommunisten in Österreich eine Wahl gewinnen können, sollte nachdenklich stimmen.“ Der Kommunismus (als Herrschaftsform) ist uns fremd, ein Gespenst (ein Geist, eine Vergangenheit), vor dem sich viele fürchten. Warum haben/hatten in Österreich so wenige Angst vor dem ständig wiederkehrenden Geist des Nationalsozialismus? Weil er Teil unserer Geschichte, Teil von uns ist, das Misanthropische, Fremdenfeindliche Teil unserer Mentalität, unserer Identität ist? Es wäre doch erstrebenswert, den eher zweifelhaften Titel der „Stadt der Volkserhebung“ loszuwerden und eine politische Welle ins Rollen zu bringen, die dem Blick mehr als nur die sichtbare Spitze des Eisbergs politischer Machenschaften preisgibt.
Der Kommunismus hat seine Wurzeln im Marxismus, wie auch die Arbeiter(innen)bewegung, ohne die keine moderne Demokratie, kein Sozialstaat denkbar wären. Kaum einer der großen denkenden Menschen der Postmoderne, des Strukturalismus, des Poststrukturalismus war nicht einmal Teil einer marxistischen Bewegung. Der postkolonialistische Diskurs, der feministische, der Sexualitätsdiskurs haben ihre theoretischen Fundamente im postmodernen Denken. All diese Diskurse, vom Marxismus ausgehend, sind sozial und furchtlos gegenüber den Geistern der Zukunft (und Vergangenheit), tragen verantwortungsbewusst das geistige Erbe in sich, um es einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände bereitzustellen. „Es war also ein Fehler meinerseits, daß ich aus meinem Gedächtnis entfernte, was im Manifest am manifestesten war. Was sich dort an erster Stelle manifestiert, ist ein Gespenst, diese erste Vaterfigur, ebenso mächtig wie irreal, Halluzination oder Simulakrum, und virtuell viel wirksamer als das, was man unbesorgt eine lebendige Anwesenheit nennt. Als ich das Manifest und einige andere der großen Werke von Marx wiederlas, sagte ich mir, daß ich wenige Texte kenne, vielleicht keinen anderen in der ganzen philosophischen Tradition, deren Lektion mir heute dringlicher scheint – vorausgesetzt, man vergißt nicht, was Marx und Engels selbst […] über ihr eigenes mögliches ,Altern’ und ihre unhintergehbare Historizität sagen. Welcher andere Denker hat jemals so explizit vor dieser Gefahr gewarnt? Wer hat jemals zur künftigen Transformation seiner eigenen Thesen aufgerufen? Und zwar nicht nur um einer progressiven Anreicherung der Erkenntnis willen, von der die Ordnung eines Systems unangetastet bliebe, sondern um darin den Brechungs- und Restrukturierungseffekten Rechnung, eine andere Rechnung, zu tragen? Um im voraus und jenseits jeder möglichen Programmierung die Unvorhersehbarkeit neuer Kenntnisse, neuer Techniken, neuer politischer Gegebenheiten in sich aufzunehmen?“ (Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main 1995. S. 31.) Dies möge als Beispiel für unseren Ex-Bundeskanzler und neuerdings Schattenkanzler und alle Links-Skeptischen dienen, dass die Grundlagen für Politik auf eine menschenwürdige Zukunft hin geöffnet sein sollten. Dafür muss man sich auch Fehler eingestehen und mit offenen Karten spielen, um vertrauensvoll und verantwortungsbewusst den Veränderungen der Zukunft die Weichen zu stellen. (Auch) andere haben Visionen. Auch Roboter können Fehler machen. Sie lassen sich nur nicht zur Rechenschaft ziehen. Sie haben auch keine Angst vor Gespenstern und Geistern. Sie haben keinen Geist – weder einen Zeitgeist noch einen Weltgeist. Sie werden programmiert, um Aufgaben zu erfüllen.

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