01/10/2021

Wie wir leben woll(t)en

Wenzel Mračeks Rückblick auf das Grazer Kulturjahr 2020, das zwei Jahre dauerte

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01/10/2021

Klima Kultur Pavillon, Breathe Earth Collective (Foto: BEC, https://klima-kultur-pavillon.at)

TanzPflanzFeld, TanzPflanzPlan AG, Wetzelsdorf (Foto: transparadiso, http://www.transparadiso.com/de/projects/tanzpflanzplan)

Space*Object*Inbetween, studio Asynchrome (Foto: studio Asynchrome, http://www.asynchrome.com/spaceobjectinbetween)

Termingerecht begann The Graz Vigil am 1. Jänner 2020. Während des für La Strada von der australisch-französischen Choreografin Joanne Leighton entwickelten Projekts fanden sich 732 Menschen, die jeweils zu Sonnenauf- und Untergang eine Stunde lang die Stadt vom Schloßberg aus beobachteten. Bis zum 31. Dezember des Vorjahres hielten sie ihre Gedanken, Selbst- und Stadterfahrungen, in einem Community Blog fest.

Per Ausschreibung lud die Stadt Graz „Akteurinnen und Akteure sowie Einrichtungen aus Kunst und Wissenschaft“ zur Einreichung von Projekten für das Grazer Kulturjahr 2020 ein. Bis Ende der Frist, am 18. März 2019, gingen 568 Vorschläge ein, aus denen ein Programmbeirat 94 umzusetzende auswählte. Die im Call angeführten Themenschwerpunkte umfassten die Kategorien Umwelt und Klima, Digitale Lebenswelten, Urbanismus, Soziales Miteinander und Arbeit von Morgen, die schließlich unter dem Programmtitel Wie wir leben wollen subsumiert wurden. Budgetiert war das Kulturjahr mit fünf Millionen Euro, pandemiebedingt wurde bis zur Abschluss-Gala auf den Schloßberg-Kasematten, am 7. September 2021, verlängert. An 639 Tagen, ist nun auf der Website der Stadt zu lesen, fanden 8000 Veranstaltungen statt und 42 Bücher, Kataloge und Filme wurden veröffentlicht. Weitere Zahlen wurden und werden noch erhoben, darunter nur ein Beispiel: „92 % der Projektträger ist (sic.) überzeugt, dass das Graz Kulturjahr einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt.“ Von einem Abschlussgespräch mit Medienvertretern berichtete die Kleine Zeitung (1): Hinsichtlich der Stadtentwicklung, wird Bürgermeister Siegfried Nagl zitiert („unsere spannendste Aufgabe“), wolle man das Zusammenspiel mit Künstlerinnen und Künstlern als Standard etablieren, „weil gemeinsam gestalteter öffentlicher Raum anders angenommen wird“. In dem Bericht verweist Kultur- und Finanzstadtrat Günter Riegler auf eine Umfrage, nach der sich 67,2 Prozent der Grazer Bevölkerung ein ähnliches Format für die Zukunft wünschten. Allein, eine Finanzierung wurde mit Verweis auf die gerade stattgefundenen Gemeinderatswahlen nicht in Aussicht gestellt.
Aus dem Zusammenhang der Abschlussgala seien hier nur vier Projekte mit Wirkung über das Kulturjahr hinaus erwähnt: Der Leitfaden für inklusive Kultur der Akademie Graz steht infolge allen interessierten Institutionen zur Verfügung. Der im Rahmen des Projekts NORMAL vom italienischen Kollektiv orrizontale in der Grünangerbucht errichtete Badeturm bleibt erhalten. Die von Privatsphäre und Öffentlichkeit handelnde Installation Space*Object*Inbetween des Grazer Duos studio Asynchrome, installiert an der Schloßbergbahn, wird Teil des Österreichpavillons auf der Expo in Dubai, die vom 1. Oktober 2021 bis 31. März 2022 stattfinden soll. Und für den Klima-Kultur-Pavillon des Breathe Earth Collectives werden für 2022 Nachnutzungsmöglichkeiten gesucht.

Urbanes Leben im weitesten Sinn wurde in Projekten erforscht und paraphrasiert, wobei vielfach die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Zugang aufgelöst schienen. Zugänge wurden gefunden zu etwa Unsichtbarem Handwerk im Annenviertel oder Vorgärten in Graz untersucht. In einem weitergeführten Langzeitprojekt von Wolfgang Eder und Walter Felber werden kontaminierte Böden mittels Bepflanzung gereinigt. Mit diversen Fragen um Urbanität ist der Club Hybrid im „neuen“ Stadtteil Reininghaus befasst und könnte durchaus ein Modell für ein dort angesiedeltes – und in früheren Diskussionen immer wieder eingeschlafenes – Kulturzentrum sein. In temporärer Initiative wurde mit Anwohnern ein TanzPflanzFeld in Wetzelsdorf eingerichtet. Anstoß immerhin, Gemeinschaftsgärten auch abseits des Kulturjahres weiter zu betreiben. Bauvorhaben und Bürgerbeteiligung in Eggenberg wurden im FH-Projekt Interface Nachbar thematisiert, partizipative Stadtplanung und Wohnpolitik mit Grazotopia von Ana Jeinić und Gabu Heindl untersucht und in Sonderausgaben von außreiser publiziert. Den „Stoffwechsel“ der Stadt konnte man auf Performativen Forschungsreisen in die Grazer Logistiklandschaft verfolgen: Wo entsteht der Müll und wie wird er entsorgt?
Kunst fand freilich auch in Form einigermaßen skurriler Projekte (nicht) Stadt. Verwundert zeigten sich die Einreicher des Forum Stadtpark, dass ihr Konzept Als die Autos die Stadt verließen. 168h Graz wie es sein könnte abgelehnt wurde, obwohl die Zustimmung des Programmbeirats bestand. In dem Versuch hätten für eine Woche Bereiche zwischen Bahnhofsgürtel und Universität, zwischen Kalvarienbergstraße und Schönaugürtel für den Autoverkehr gesperrt und zu einer temporären Parklandschaft umgestaltet werden sollen. Im gegenteiligen Sinn verwundert zeigte sich die Neigungsgruppe K.O. (Martin Behr, Johanna Hierzegger, Markus Wilfling), dass ihr Vorschlag 5000 Pfeffersprays für Graz angenommen wurde. Einige Hundert 1:1-Betonabgüsse von Pfefferspraydosen, nummeriert und signiert, wurden angefertigt, um ein vermutetes „Sicherheitsbedürfnis“ der Grazerinnen und Grazer zu kompensieren. Angesichts der Pandemie mutierte die Neigungsgruppe 2021 von K.O. zu O.K. und stellte die Produktion auf 5000 Desinfektionssprays für Graz um.

Mit Graz 2020 wurde bewusst kein Festivalcharakter angestrebt und auch nicht Augenmerk auf Blockbuster gelegt. Vielmehr wurden in durchwegs partizipativen Ansätzen der Zeit adäquate Fragen um ein urbanes Gefüge mittels Kunst und Wissenschaft thematisiert.
Bis Jahresende erstellt Programm-Manager Christian Mayer eine Projektdokumentation, die im besten Fall auch Anstoß für eine künftige Stadtregierung sein sollte, einer Stadtentwicklung auch aus künstlerischer Perspektive deutlich Raum zu geben.

(1) Kleine Zeitung, 08.09.2021

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