06/09/2021

Architekturbiennale 2021

Thema
How will we live together?

Hauptkurator
Hashim Sarkis

22. Mai – 21. November 2021

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Kann die Architektur die Welt retten?

"Um was es auf dieser Biennale in ihren guten Momenten geht: Um Architektur als kritische gesellschaftliche Praxis, Architektur nicht allein, sondern als Teil eines komplexen Netzwerks aus Ideen und Technologien und dem fragilen Zusammenspiel von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft. Und darum, was Architekt*innen dazu beitragen können, dass unsere Welt belebbar bleibt und vielleicht sogar lebenswerter wird. Für alle." (Martin Grabner)

Martin Grabner zur
17. Architekturausstellung
in Venedig

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06/09/2021

"How will we live together?" – das Thema der 17. Architekturbiennale in Venedig, die mit einem Jahr Verspätung 2021 durchgeführt wird.

©: Martin Grabner

MAEIDs "Magic Queen" ist ein Habitat, in dem Nichts ohne den Anderen bestehen kann.

©: Martin Grabner

Verschiedene Spezies treffen sich bei Superflux, um bei einem Bankett über Modi des Zusammenlebens zu sprechen. Ob der Mensch da mit dabei ist?

©: Martin Grabner

Das "NEST DFAB HOUSE" der ETH Zürich

©: Martin Grabner

Das "Maison Fibre" besteht ganz aus Glas- und Carbonfasern.

©: Martin Grabner

Die geschwungene Ziegelwand von Manuel Herz’ "Tambacounda Hospitals" in Senegal

©: Martin Grabner

Strategien für ein Zusammenleben in gerechteren Städten

©: Martin Grabner

Im Inneren von Tomás Saracenos "Museo Aero Solar"

©: Martin Grabner

In dem Glaskasten riecht es nach dem ausgestorbenen "Hibiscadelphus wilderianus"

©: Martin Grabner

Im japanischen Pavillon liegen akribisch geordnet die Bestandteile eines Durchschnittshauses

©: Martin Grabner

Ein Mix verschiedener Medien erzählt im österreichischen Pavillon vom „Plattform-urbanismus“

©: Martin Grabner

"We Like". Platform Austria zeigt Aspekte und Elemente der Durchsetzung der gebauten mit der virtuellen Welt.

©: Martin Grabner

Eine andere Form einer materiellen Cloud zeigt der spanische Pavillon.

©: Martin Grabner

Im wunderschön leergeräumten deutschen Pavillon beschäftigen sich die Besucher*innen gemeinsam allein mit ihren Smartphones.

©: Martin Grabner

Der Gemeinschaftstisch von orizzontale, im Hintergrund ein modularer Glaspavillon von Zaha Hadid Architects.

©: Martin Grabner

Und wenn man dann doch wieder Lust auf mehr hat: Die Ausstellung Bruce Nauman: "Contrapposto Studies" in Tadao Andos Punta della Dogana ist ebenso ein Muss wie die von Peter Fischli kuratierte Ausstellung STOP PAINTING in der Fondazione Prada.

©: Martin Grabner

Nach eineinhalb, von der Corona-Pandemie geprägten Jahren öffnete Ende Mai dieses Jahres die 17. Architekturbiennale in Venedig. Mit einem Jahr Verspätung und entgegen zahlreicher Zweifel, ob es denn möglich sei, zu früh sei, überhaupt sein dürfe. Aber sie sollte sein und sie wurde zum symbolischen Restart der physischen Kulturwelt Europas. Ja, wir wollen wieder gemeinsam leben! Aber wie? Wie vorher? Besser? Anders? Wie anders?
Das schon lange vor dem Auftreten des Virus festgelegte Thema How will we live together? wurde in seiner Relevanz durch die Auswirkungen der Pandemie bestätigt, die viele bestehenden Probleme sichtbarer gemacht hat. Nur wenige Beiträge wurden umgearbeitet, bei vielen wurde, fast pflichtbewusst, ein Satz mit Pandemiebezug eingefügt. Meist unnötigerweise – die Herausforderungen sind ohnehin vielfältig und groß, im Fall der Klimakrise deutlich größer als die der Pandemie.

Die Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen ist eine, die sicher nicht von der Architektur allein beantwortet werden kann. Aber auch nicht ohne sie. Der Kurator, der libanesische Architekt Hashim Sarkis, versteht die Aufgabe, Architektur auszustellen so auch nicht als die Sammlung der besten Einzelobjekte der letzten Jahre, sondern als das Generieren und Sichtbarmachen eines dichten Netzes an Analysen und Ideen, Zusammenhängen und Beziehungen, Wissenschaft und Kunst. Man sieht der Ausstellung die Verwurzelung ihres Kurators, der auch Dekan der School of Architecture and Planning am MIT ist, in der Wissenschaft an. Er denkt Architektur als ein komplexes System der Koexistenz. Nicht nur der Koexistenz von Menschen untereinander – was mit einem Blick in die Nachrichten oder sozialen Netzwerke schon schwer genug zu sein scheint – sondern mit anderen Spezies, der Natur, der Erde. Und damit wird es kompliziert. Vielleicht zu kompliziert für eine Ausstellung, die in einer langen Tradition von Biennalen steht, die sich als Ausstellungen über Architektur, mit Architektur und von Architekt*innen verstehen.

How will we live together?

In der von Sarkis kuratierten Ausstellung im Arsenale und im zentralen Pavillon der Giardini regiert Vielfalt. Eine schier unüberschaubare Vielfalt unzähliger Projekte, Konzepte und Ideen dazu, wie die Menschen in Zukunft, allen von ihnen selbst geschaffenen Problemen zutrotz, zusammenleben könnten. Die einzelnen Beiträge sind nach ihrem Maßstab in fünf Kapitel geordnet: vom einzelnen Lebewesen über kleine und große Gemeinschaften in der Corderie und weiter grenzüberschreitend und global in den Giardini. Die teilweise redundanten Unterkapitel und die langen Titel unterlaufen jedoch jede Übersichtlichkeit. Vielleicht ist aber gerade das Scheitern des Versuchs, die Ideen zu ordnen gar nicht so schlecht. So kann man sich auf einzelne, herausstechende Arbeiten konzentrieren. Die guten unter ihnen überzeugen ohnehin durch eine Komplexität, die eine klare Zuordnung zu Themenfeldern oder Maßstabsebenen verunmöglicht. Alles ist mit allem vernetzt. Ein paar Highlights – durchaus durch eine Grazer Brille betrachtet:

Gleich im ersten Raum (der insgesamt leider völlig überfrachtet, ja zugeräumt ist) reflektiert die Künstlerin Azra Akšamija in ihrer Arbeit Silk Road Works Fragen der Arbeitsmigration, Ausbeutung und Identitätspolitk entlang der Seidenstraße. Die historische Handelsroute verband Europa über Venedig mit den Kulturen des Osten, heute ist sie ein strategisches, wirtschaftspolitisches Instrument Chinas. Zwischen der behausenden, Schutz bietenden Funktion von Textilien und der Fragilität von Muranoglas sieht die Künstlerin, die in Graz studiert hat und am MIT in Cambridge unterrichtet, kulturelle Mobilität als Leitmotiv eines möglichen friedlichen Zusammenlebens. Ebenfalls mit Koexistenz beschäftigt sich ein weiterer Beitrag mit Graz-Bezug: Magic Queen von MAEID (Büro für Architektur und Transmediale Kunst, Daniela Mitterberger und Tiziano Derme) ist ein hybrides Habitat aus organischem Material, das von einem sensor-gesteuerten Roboterarm genährt und pflegt wird. In dem 3D-gedruckten „Roboter-Garten“ kann nichts ohne dem anderen bestehen. Nur der Mensch ist nicht mehr unbedingt nötig. Das transdisziplinär arbeitende Londoner Kollektiv Superflux wiederum, von dem derzeit auch im Kunsthaus Graz zwei Arbeiten zu sehen sind, inszeniert ein Bankett nach dem Ende der Welt. In Refuge for Resurgence trifft sich eine speziesübergreifende Gemeinschaft in den zerstörten Ruinen der Moderne, vor den Fenstern eine von der Klimakatastrophe gezeichnete Erde, um neue Modi des Zusammenlebens zu finden, gespeist aus den Überresten der alten Welt.

Dass diese Arbeiten nur am Rande, oder metaphorisch, mit Architektur zu tun haben, ist kein Zufall. Nach wirklich überzeugenden architektonischen Projekten muss man suchen, sie beschäftigen sich meist mehr mit der Analyse als mit der Produktion von physischem Raum. So etwa die Studie Many Houses / Many Worlds, die die weltweite Vernetzung der Bauindustrie anhand der nahezu unendlichen materiellen und prozessualen Ursprünge eines typischen US-amerikanischen Hauses in vier Dimensionen nachvollzieht. Unmittelbarer mit dem Bauen beschäftigen sich Forschungsprojekte mehrere Universitäten, etwa das interessante NEST DFAB HOUSE der ETH Zürich, das auf einer Stahlbetongrundstruktur Plugins in experimentellen Bauweisen realisiert. Das Maison Fiber des Institute for Computational Design and Construction der Universität Stuttgart ist ein 1:1-Prototyp eines begeh- und bewohnbaren Gebäudes, das zur Gänze aus Glas- und Carbonfasern gefertigt ist. Hier denkt man unweigerlich – und nicht das einzige Mal auf dieser Biennale – an Cedric Prices „Technology is the answer, but what was the question?“ Oder etwas direkter: Ja eh, aber warum eigentlich? Aber es geht auch vielschichtiger: Manuel Herz präsentiert die vielen ökonomischen, materiellen und kulturellen Dimensionen des in Bau befindlichen Tambacounda Hospitals in Senegal. Mit zahlreichen Fotos von Iwan Baan und einer Wand aus Ziegeln, die für das Spital entwickelt wurden und inzwischen auch in einer, im Prozess entstandenen Schule verwendet werden. Ebenfalls auf der strategischen Ebene bewegt sich die Installation How to Begin Again: An Initiation Towards Unitary Urbanism, die in Form eines Vier-Stufen-Manuals Alternativen für die Schaffung einer sozial und ökologisch gerechten Stadt aufzeigt, als Gegenmodell zum vorherrschenden neoliberalen Paradigma der rücksichtslosen Urbanisierung mit allen ihren Folgen für Gemeinschaften, Umwelt und Kulturen.

Die Kunst hat es leichter

Die Flut der Projektbeiträge wird, bei aller Relevanz, durch die schiere Masse und die vielfache Wiederholung von Nachhaltigkeit, Technologien, Daten, etc. schnell ermüdend. Die gezeigten künstlerischen Arbeiten haben hier den klaren Vorteil, dass sie nicht nur die Ratio, sondern auch emotional, über alle Sinne ansprechen. Das trifft auf Azra Akšamija und Superflux ebenso zu wie auf Tomás Saracenos begehbares Museo Aero Solar im zentralen Pavillon. Die 2007 initiierte, verteilt und kooperativ entstehende Sammlung fliegender DIT (Do-It-Together) Museen aus wiederverwendeten Plastiksackerln, die sonst die Umwelt verschmutzen würden, macht das zerstörerische Potenzial des Anthropozäns deutlich. Resurrecting the Sublime, ein, ebenfalls begehbarer, Glaskasten mit drei wuchtigen Gesteinsbrocken, erinnert an einen Reiz, der schon lange nicht mehr existiert: Der Duft des Hibiscadelphus wilderianus, einer Pflanze aus Hawaii, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für mehr Weideflächen von den Kolonialherren ausgerottet wurde, wird künstlich simuliert. Noch real, aber in unmittelbarer Gefahr ist die noch weitgehende Unberührtheit der Antarktis. Durch die Klimaerwärmung, aber auch die weiter wachsende Gier nach den Rohstoffen, die unter ihrem Eis schlummern. Die Zerstörung der kilometerdicken Schicht, die 70% des Trinkwassers der Erde entspricht, könnte den Profit aus den Rohstoffen schnell obsolet machen. Die Antarctic Resolution von Giulia Foscari / UNLESS unternimmt eine weltweite Anstrengung, genau das zu verhindern. Die Installation lässt den ohrenbetäubenden Schrei brechenden Eises durch die Ausstellung im Herzen Europas dröhnen. Sandi Hilal und Alessandro Petti von DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency) hingegen behaupten unter dem Titel Stateless Heritage die Ernennung des palästinensischen Flüchtlingslagers Dheisheh bei Bethlehem und der zerstörten Herkunftsorte der dort Lebenden zum Weltkulturerbe. Ein kreativer Schachzug, um auf die permanent temporäre Situation vieler Menschen in dem illegal besetzten Land hinzuweisen, die durch politische Pattstellungen und Winkelzüge seit Jahrzehnten ungelöst bleibt.

Thematische Vielfalt in den Pavillons

Weiter in die Länderpavillons, auf der Suche nach genuin architektonischen Beiträgen zur Rettung der Welt. Nach den inflationären, aber fernen Visionen einer nachhaltigen Koexistenz von Menschen und Natur mithilfe verschiedener Technologien ist es eine Wohltat, den dänischen Pavillon zu betreten. Die Kurator*innen von connectedness bringen Nachhaltigkeit auf ökologischer und sozialer Ebene auf den Punkt. Hier lässt sich mit allen Sinnen erleben und fühlen, von was in der Hauptausstellung die Rede ist. Am Dach gesammeltes Regenwasser tropft und rinnt, fließt und rauscht durch die Räume. Den Kreislauf kann man bei einem Tee aus getrockneten Kräutern beobachten, die im Pavillon wachsen. Gegossen von den Besucher*innen. Ein Haus als Kreislauf. Verstehen und Reflexion von Zusammenhängen passieren hier wie von selbst, über den eigenen Körper. Übrigens verweist die Aufbereitung des Wassers auf die alte Technik der Pozzi, der Trinkwasserbrunnen – eigentlich Zisternen –, die man in ganz Venedig findet.

Hervor sticht auch der israelische Beitrag LAND. MILK. HONEY., der sich – nicht sehr architektonisch, aber spannend – mit Koexistenz beschäftigt. Gezeigt werden in Israel verdrängte oder nahezu ausgerottete Arten, präsentiert wie in einem Leichenschauhaus. Seit der Gründung des Staates Israel wurden im ungebremsten Fortschritts- und Wachstumsglauben der Moderne durch immer stärkere Übernutzung des Landes, etwa durch die industrielle Landwirtschaft, zahlreiche Ökosysteme zerstört und Arten verdrängt. In dem Kontext wird aber auch die Geschichte der schwarzen Ziege erzählt. Ihr wurde, als wichtigstem Nutztier der palästinensischen Bauern, von den einwandernden europäischen Juden die Schuld am kargen Land gegeben. Weiße Ziegen aus Europa wurden importiert, viele arabische Bauern durch Reglements in den Ruin getrieben. Ein Schelm wer hier Absicht vermutet. Erst 2018 wurde das sozial und ökologisch verheerende Gesetz aufgehoben. Eine wunderbare Parabel auf das menschliche Zusammenleben.

Baumateriell konkret wird es überraschenderweise im Pavillon der Vereinten Arabischen Emirate: Der Architekt und Kurator Wael Al Awar hat mit mehreren Universitäten einen Beton entwickelt, der statt Zement Magnesiumoxid als Bindemittel verwendet. Dieses ist nicht nur ein Abfallprodukt der in den Emiraten im großen Stil durchgeführten Meerwasserentsalzung, sondern als hochkonzentrierte Salzlösung ein veritables Umweltproblem. Als Baumaterial kommt es CO2-bindend und als Ersatz für Zement, den großen CO2-Emittenten, zum Einsatz.

Während der gefühlt jedes Jahr größer werdende italienische Pavillon eigentlich alles zeigt und viele Themen aus der Hauptausstellung wiederholt, wird in einigen Nationenpavillons doch eine größere Diversität an Themen beleuchtet. So zeigt Frankreich unter dem Titel Communities at work verschiedene Projekte mit intensiver Bewohner- und Nutzer*innenbeteiligung, von Bordeaux über Detroit und Johannesburg bis Hanoi, während sich Großbritannien auf britisch-skurrile Weise der zunehmenden Privatisierung unserer Städte widmet. Eindrücklicher gelingt das allerdings dem peruanischen Beitrag Playground: Artifacts for Interaction: Ein Kinderspielplatz aus architektonischen Elementen der Segregation, konsequent hinter einem unüberwindbaren Zaun „gesichert“. Rumänien und Polen beschäftigen sich mit Migrationsströmen und Konzepten im Umgang mit der Schrumpfung im ländlichen Raum, die im Osten Europas eine große Herausforderung darstellt. Der skandinavische Pavillon – wie üblich formal überzeugend – thematisiert, wie auch Luxemburg und Finnland (hier mit einer humorigen Note) einen „hyggeligen“ Rückzug ins Private. Eine offensichtliche Folge der Corona-Pandemie, die sich mit Augenzwinkern reflektiert auch im Arsenale wiederfindet: Aristide Antonas hängt im Rahmen der Hall of Protocols kokonartige, textile Wohnzellen hoch in die Corderie. In sie kann sich das einzelne Individuum zurückziehen, zugänglich nur über eine lange Strickleiter, die zur vollendeten Isolation eingerollt werden kann.
Der Beitrag Usbekistans weist in die entgegengesetzte Richtung und bringt eine Mahalla aus Taschkent in Form eines abstrahierten 1:1-Nachbaus aus gelben Gasrohren ins Arsenale. Können die traditionellen, von mehreren Familien gemeinschaftlich genutzten Hofhaus-Einheiten ein Modell für einen nachhaltigen, „urban-ruralen“ Lebensstil sein? Vor dem Pavillon der USA wurde eine eindrucksvolle, begehbare Holzkonstruktion errichtet, die die Pfosten-Riegel-Bauweise thematisiert, die in den USA einem Großteil der ruralen Bauten zugrunde liegen – etwa die bekannten, gemeinschaftsbildenden und oft gemeinschaftlich errichteten Farmhäuser. Die japanischen Teilnehmer hingegen transportieren ein durchschnittliches Holzhaus aus den 50er-Jahren, in seine Einzelteile zerlegt, nach Venedig. Einige der Teile finden eine neue Verwendung, beispielsweise als Sitzbänke rund um den Pavillon, der große Rest liegt chronologisch geordnet im oberen Geschoß des Pavillons und macht die Geschichte des Hauses, seiner Transformationen und Bewohner*innen sichtbar.

De- und Rematerialisierung

Der österreichische Beitrag ist einer jener, die die Digitalisierung nicht nur nutzen, sondern kritisch thematisieren. Die Kuratoren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer analysieren und diskutieren in We Like. Platform Austria die tiefgreifenden Veränderungen, die digitale Plattformen in unserem Zusammenleben und in unserer gebauten Umwelt bewirken. Dazu verwandeln sie den österreichischen Pavillon selbst in einen Diskursraum und verschränken die physische Ausstellung in Venedig geschickt mit einem virtuellen Teil, der über die Seite platform-austria.org (s. Link) zugänglich ist. Nicht zuletzt durch das breite Feld an Beitragenden, die unter anderem als Blogger*innen ein vielschichtiges Spektrum an Aspekten des „Plattform-Urbanismus“ aufspannen. Sie behandeln Themen wie die Ökonomisierung des Alltags, die Datenakkumulation und damit einhergehende Machtkonzentration bei großen Technologiekonzernen, Auswirkungen von E-Commerce, Co-working und Co-living und diversen Sharingmodellen auf die städtische Infrastruktur, Verdrängungs- und Prekarisierungsprozesse, Inklusion und Exklusion – kurz die Veränderung des Zusammenlebens in all seinen Facetten. Aufbauend auf unser aller Beteiligung und gespeist durch unsere Daten entsteht ein neuer „Plattformkapitalismus“, der „das soziale Leben in Städten zum Zweck von privater Kapitalanhäufung neu gestaltet“. Eine hochaktuelle Forschungsarbeit und notwendige Reflexion der Mechanismen und Wirkungsweisen nativ digitaler Gemeinschaften und Netzwerke und der, durch sie unausweichlichen, Transformation unserer alltäglichen Lebenswelten.

Ebenfalls mit der Materialisierung des Digitalen beschäftigt sich der irische Beitrag Entanglement von Annex, eine der positiven Überraschungen. Wuchtig, kraftvoll und immersiv lässt eine raumfüllende Installation die Besucher*innen mit allen Sinnen spüren, dass die Cloud einen Körper hat, so gar nicht immateriell ist. Serverfarmen und Datenzentren sind nicht nur eine relativ junge kritische Infrastruktur, sie brauchen auch enorme Mengen an Energie. In Irland, das historisch bedingt als Knotenpunkt der Datenkabelverbindung von Europa nach Amerika ein Zentrum der Informations- und Kommunikationstechnologie wurde, stehen 25% des europäischen Datenspeichers. 2027 werden die Server ein Drittel der gesamten Energie der Insel verbrauchen und ihre Landschaft verändern. Die Installation in Form eines Lagerfeuers aus Wärmebildsensoren und -kameras, Ventilatoren und weiteren Versatzstücken der Datentechnologien gibt den Netzwerken, dem Rückgrat des digitalen Zeitalters, einen eindrucksvollen Körper.

Das Kuratorenteam des deutschen Pavillons, unter anderem Arno Brandlhuber und Olaf Grawert, verlegte sich gleich ganz ins Digitale und hinterlässt mit dem ebenso ambitionierten wie konsequenten Ansatz von 2038. The New Serenity ambivalente Gefühle. Die Idee, die gesamten Inhalte nur online von jedem Ort der Erde zugänglich zu machen ist demokratisch und ökologisch nachhaltig zugleich. Bewusst stellen sie damit auch die Anwesenheit in Venedig und den CO2-Verbrauch der Anreise zur Disposition. Es hakt aber an vielen Enden. Man braucht ungleich mehr Zeit, um die Inhalte erfassen zu können, und gibt schnell auf. Einfach weil die menschlichen Sinne in einem physischen Raum viel mehr Reize gleichzeitig überblicken, selektieren und rezipieren können, als auf einem Smartphone. Viele der sicher sehenswerten Interviewfilme – Rückblicke aus einer Zukunft im Jahr 2038, in der alles gerade nochmal gut gegangen ist – bleiben so ungesehen. Ein kollektives und produktives Ausstellungserlebnis fehlt. In Venedig bleibt ein ästhetischer, antiseptisch leergeräumter Pavillon zurück, in dem Besucher*innen gemeinsam alleine mit ihren Smartphones eine amüsiert bis nachdenklich zu beäugende Choreographie vollführen. Eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung von Ausstellungen wird durch dieses mutige Experiment allerdings auf jeden Fall angeregt.

Realistische Selbsteinschätzung oder Rückzug der Architektur?

Eines ist diese 17. Architekturbiennale sicher nicht: eine Ausstellung stylischer, selbstverliebter Objektarchitektur, in der sich Stararchitekt*innen und welche die es noch werden wollen selbst verwirklichen. Probiert haben das Zaha Hadid Architects mit einem High-performing Urban Ecologies benannten Glaspavillon. Er steht deplatziert, ratlos und unbeachtet im Garten am Ende des Arsenale herum. Wenn es das ist, was von den Stararchitekt*innen bleibt, dann ist zu hoffen, dass ihre Ära nachhaltig vorüber ist. Daneben steht, im Schatten eines Baumes, ein einfacher, ringförmiger Holztisch, bestens geeignet zum niederschwelligen Aushandeln von urbanem Zusammenleben. Er ist Teil der Präsentation des italienischen Kollektivs orizzontale, das diesen Sommer im Rahmen von transparadisos NORMAL x 4 - direkter Urbanismus in Graz eine bei der Seifenfabrik in der Mur schwimmende Installation realisiert hat. Der Tisch und die Herangehensweise solcher transdisziplinären Kollektive verkörpern viel mehr, um was es in Zukunft in der Architektur gehen muss, will sie weiterhin (oder wieder) eine gesellschaftliche Relevanz haben. Und um was es auf dieser Biennale in ihren guten Momenten geht: Um Architektur als kritische gesellschaftliche Praxis, Architektur nicht allein, sondern als Teil eines komplexen Netzwerks aus Ideen und Technologien, Menschen und der Natur, und vor allem dem fragilen Zusammenspiel von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft. Und darum, was Architekt*innen dazu beitragen können, dass unsere Welt belebbar bleibt und vielleicht sogar lebenswerter wird. Für alle.

Hier könnte dieser Text enden. Kann er aber nicht, weil diese Biennale diesen hohen Anspruch nur bedingt auszufüllen vermag. Sie verschiebt nicht bloß den Schwerpunkt der Architektur weg vom prestigeträchtigen großen Wurf hin zum Denken und Arbeiten in interdisziplinären Netzwerken, sie verschiebt die Architektur selbst heraus aus ihrem Zentrum. Sie fokussiert auf Problemanalysen und Lösungsansätze aus anderen Disziplinen. Was bedeutet dieser Rückzug von der Frontline der gesellschaftlichen Transformation, von der Alejandro Aravena 2016 noch berichten wollte? Ist es ein Eingeständnis, dass die Architektur keine überzeugenden Lösungskonzepte für die globalen Probleme mehr zu bieten hat? Jahrzehntelang haben sich Architekt*innen (mit wechselndem Erfolg) den sozialen Problemen gestellt, sich an ihnen abgearbeitet, Lösungen entwickelt. Werden diese in zwei Jahren, auf der nächsten Architekturbiennale, als work-in-progress der diesjährigen Analyse nachgeliefert? Oder drohen wir vor der ökologischen Krise und den daraus folgenden anderen Krisen, die uns bevorstehen, als Disziplin zu kapitulieren und das Staffelholz an jemand anderen zu übergeben? Dann müsste die Antwort auf die titelgebende Frage, ob Architektur die Welt retten könne, die sich in den letzten Biennalen schon angedeutet hat und nun überdeutlich geworden ist, wohl lauten „Eher nicht“.

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