22/06/2021

zeitenweise – 08

Fragmente einer Sprache der Lüge

Die Sprache als Medium menschlicher Kommunikation, als Vermittlern von Information ist ein fragiles Gebilde, das uns verbinden oder auseinander-bringen kann. Nur der Glaube an ein Miteinander, an ein gegenseitiges Verstehen der transportierten Inhalte hält sie aufrecht. Doch die Möglichkeit des Verständnisses schließt auch die Möglichkeit der Täuschung, des Irrtums, der Lüge ein.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

22/06/2021

whenever it rains I think of you

©: Severin Hirsch

Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ (Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 1. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1984. S. 245.)

Es scheint mir durchaus wichtig, einmal jene Stadt zu besuchen, die wir hier Sprache nennen wollen, Licht in die dunklen Gassen und verborgenen Winkel zu bringen, die erhellten und belebten Plätze und Straßen zu durchqueren und ihre politischen und ökonomischen Wirkungsweisen zu durchleuchten. Im Anfang war bekanntlich das Wort und so lange es bei Gott, in seiner Idealität verhaftet blieb, war es gültig, gütig, wahr – war es Tat. Die Bezeichnung (das Wort, das Symbol, das Zeichen, der Signifikant) entspricht seiner Bedeutung (dem Signifikat, dem Sinn, dem Gegenstand, dem Referenzobjekt), einem in der Realität abgebildeten (Perfekt) oder abzubildenden (Futur) Sachverhalt. Das Wort ist Gott oder zumindest ein Gott, dem wir in der Regel Vertrauen schenken und an das wir glauben (müssen). Das Imperfekt der Sprache liegt nun in der Gegenwart, der Anwesenheit des Menschen selbst, doch kraft der menschlichen Perfektibilität, der Vervollkommnungsfähigkeit (der Rousseau’schen perfectibilité) haben wir die Möglichkeit, im Laufe unserer Entwicklung (des Menschen und der Menschheit) unsere Unzulänglichkeiten auszumerzen oder zumindest zu mindern. Klingt logisch und vernünftig.
Der pneu, der göttliche Hauch (nicht der Autoreifen) unserer Seele, ist der Garant, dass unser Wort (logos) an eine Bedeutung, an die Vernunft (logos und ebenfalls Teil der Seele) geknüpft ist, von anderen beseelten Wesen verstanden werden kann und unsere Verbindung zu Gott (der platonischen Idee des Guten) darstellt, noch lange bevor er zum Vater (zum Gesetz) wird, der der Mutter das Wort (die Sprache) abringt. Sokrates, der nicht schrieb, und Platon, der die Schrift als Abbild des gesprochenen, gehauchten Wortes (dessen Bedeutung sich aus dem Reich der Ideen abbildet) ansah, wussten um diese Verbindung. Das Misstrauen gegenüber der Schrift, dem Gesetzten, den Gesetzen hat eine lange philosophische Tradition (den Logozentrismus, die Präsenzphilosophie) , handelt es sich dabei doch um eine Auslagerung, eine Exteriorisierung, eine Enträumlichung und Entzeitlichung der Präsenz gesprochener Sprache, eine Distanznahme zum Hauch Gottes, zur Wahrheit des Dialogs, zur Wahrhaftigkeit.
Ich nehme Dich beim Wort“, „Ich gebe Dir mein Wort“, „Ich glaube Dir aufs Wort“, „Ich schenke Deinen Worten Glauben“: Die zwischenmenschliche Sprache ist ein fragil geknüpftes Band, das in erster Linie auf einer Glaubensbeziehung basiert – im Glauben an eine gegenseitige Verständnismöglichkeit, im Glauben an die je eigenen Ausdrucksfähigkeiten, den Worten die zutreffenden Bedeutungen zuzuweisen. Und Gott/„Gott“ ist das Wort; die urtümliche Form der Sprache, ein Vertrauen in die Sprache als Medium der Kommunikation zwischen Menschen und als adäquate Übersetzungsform für die eigenen Gedanken. Deshalb beruht der Glaube nicht auf Gott, sondern auf einer Sprache, in der wir miteinander kommunizieren, mit der wir uns verständlich machen, die wir übersetzen und in der wir überhaupt erst den Glauben an etwas ausdrücken können. Zugleich ist dieser Glaube auch ein Glaube an die Menschen.
Was ich sage, das meine ich nicht, und was ich meine, vermag das Wort nicht zu sagen.“ Diese Aussage des deutschen Philosophen Max Stirners (die mir noch in Erinnerung blieb, ohne erneut auf ihre Quelle zu stoßen) beschreibt einen Bruch in der Beziehung von Wort und Bedeutung, Signifikant und Signifikat, weist der Sprache die Rolle eines Korsetts, eines Gefängnisses für die Freiheit der Gedanken zu und kappt das göttliche Band der Sprache. Die Sphäre der Bedeutung, die Sinnebene verlässt das metaphysische, transzendente Himmelsgewölbe, und taumelt von nun an wie ein heiliger Trinker in einer göttlichen Komödie unter uns Menschen. Seither beschäftigen sich wissenschaftliche Disziplinen wie Logik, Linguistik, Hermeneutik, Psychologie, Strukturalismus oder Semiotik mit der Frage, wie Sprache Bedeutung generiert.
Wittgenstein hat in seinen späteren Schriften erkennen müssen, dass die logische Beweisführung über Wahrheit oder Falschheit einer Aussage nur in den wenigsten Fälle funktioniert, da sprachlichen Äußerungen größtenteils keine empirisch nachvollziehbaren Tatsachen zugrunde liegen. (Dass innerhalb des zwischenmenschlichen Kommunikationsaktes nur etwa ein Fünftel auf der Inhaltsebene, in der es um den Austausch von Informationen geht, stattfindet, während der Rest unterbewusst auf der Beziehungsebene passiert, ist eine andere Geschichte, die wir hier außen vor lassen.)
Der britische Evolutionspsychologe und Anthropologe Robin Dunbar hat in seinen Forschungen herausgefunden, dass Primatinnen und Primaten täglich in etwa gleich viel Zeit – nämlich 20 Prozent – mit der Fellpflege, also dem Lausen anderer Gruppenmitglieder verbringen wie Naturvölker (und vermutlich auch andere Menschen mit genügend Sozialkontakten) mit belanglosem Sprechen. Beides dient dem Zusammenhalt der Gruppe, wobei sich Letzteres aufgrund der Gruppengröße (die bei Ersterer – als soziale Intelligenz – auch für das Gehirnvolumen mitverantwortlich ist, nicht mehr in der individuellen körperlichen Zuwendung ereignen konnte. Auch das ist eine Form der Sprachökonomie – die gleichzeitige Hinwendung zu mehreren Personen. Die Bedeutung (innerhalb) der Sprache, ihr vermittelter Inhalt kann also nur vor dem Hintergrund ihrer sozialen Funktion ins Zentrum der Betrachtung rücken.
Die Sprache hat in der Reflexion, im Akt der Abstraktion ihre Unschuld verloren. Urschrift nennt Derrida diese Spur, diese Morgendämmerung der Menschheit, die sich vom ersten Steinwerkzeug, vom ersten Wort bis zu den techno-logischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts zieht und er schreibt über Hegel, dass er das Denken als Zeichen produzierendes Gedächtnis wieder zu Ehren gebracht hat (vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1974. S. 48).
Wir produzieren Zeichen, Signifikanten, symbolische Formen, die zu materiellen Gegenständen werden. Wir leben in einem Text ohne Außerhalb, ohne Autoren und Autorinnen. Die gesamte Menschheit hat den Text von Anbeginn der Abstraktions- und Symbolisierungsfähigkeit in Form der Urschrift geschrieben. Die Bedeutung der Zeichen entsteht in einem ständigem Fluss stets aufs Neue, verändert sich, ist weder außer- noch innerhalb, weder über- noch unterhalb von uns verankert. Signifikanten werden zu Signifikaten und umgekehrt. „Das Signifikat wird durch die veränderlichen Signifikantenketten, in die es verstrickt ist, verändert.“ (Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 1994. S. 112.)
Die Sprache legt lediglich Zeugnis ab über die Kluft, die sie selbst schafft: es gibt keinen unmittelbaren Garant innerhalb der Sprache über die Wahrheit einer Aussage, keine Ausschlussmöglichkeiten eines Irrtums oder bewusster Täuschung. Um dem vorzubeugen, entsteht der Eid (und mit ihm der Meineid), den auch heute noch Minister und Ministerinnen bei Amtsantritt abzulegen haben, der diese Kluft in und mit Sprache zu beheben versucht, indem er die Eidzuleistenden an ihre Aussage bindet, um für deren Wahrheitsgehalt zu bürgen.
Im Römischen Reich gab es überdies noch das sacramentum, das einerseits einen heiligen Eid („ich schwöre bei Gott“, wie Herr Kurz es getan hat), andererseits aber ein Pfand oder eine Geldsumme bezeichnete, die bis zur Bewahrheitung der Aussage hinterlegt werden mussten. Und doch ist nicht die Religion die Bedingung für den Eid, das sacramentum, sondern umgekehrt sind diese erst überhaupt Bedingung für die Religion. Der Eid (und dessen Verletzung, der Meineid) selbst, der Schwur ist vermutlich bereits dort aufgetreten, wo die Sprache zur Bedingung für ein geregeltes Zusammenleben wurde.  
In einer Zeit, in der alle europäischen Sprachen dazu verdammt zu sein scheinen, nichtige Schwüre zu schwören, und in der die Politik nicht anders kann, als die Form einer oikonomia anzunehmen, einer Regierung mit dem leeren Wort über das nackte Leben, ist es immer noch die Philosophie, die im nüchternen Bewußtsein der Extremsituation, die der Mensch, der im Besitz der Sprache ist, in seiner Geschichte erreicht hat, einen Weg des Widerstands und der Wende weisen kann.“ (Giorgio Agamben, Das Sakrament der Sprache. Berlin 2008. S. 90.)

    

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