25/05/2021

zeitenweise – 07

Die Liebe in Zeiten von Corona

Die Liebe ist eine Gabe und die Gabe ist Liebe – abseits einer ökonomischen Tauschbeziehung, in der beide Seiten auf ihre Kosten kommen wollen. Die uneingeschränkte, uneigennützige Liebe ist die höchste Form moralischen Handelns, das in der heutigen Zeit durch mangelnde Vorbilder zunehmend verloren geht.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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25/05/2021

a moment of dreams

©: Severin Hirsch

„Man  darf  sich  nicht  damit  zufriedengeben, über die Gabe zu sprechen und sie zu beschreiben – ohne zu geben und ohne zu sagen, daß man geben muß, ohne zu geben, indem man sagt, daß man geben muß, ohne zu denken zu geben, daß man geben muß, wobei dieses Denken aber nicht bloß darin bestünde, das, was man geben nennt, zu denken, sondern es zu tun, also ein Denken wäre, das dazu aufriefe, wirklich und eigentlich zu geben, das heißt mehr zu tun, als bloß dazu aufzurufen, im eigentlichen Sinne des Wortes zu geben, sondern eben zu geben über den Ruf und das bloße Wort hinaus.“ (Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. München 1993. S. 86.)

Die Gabe als Ausgangspunkt von wechselseitigen Verhältnissen zwischen (archaischen) Gesellschaften, wie erstmalig von Marcel Mauss in seinem 1923/24 erschienen Essai sur le don (dt. Die Gabe) dargestellt, unterliegt komplexen Strukturen und Funktionen und beinhaltet neben der ökonomischen auch juristisch-moralische, magische, mythologisch-religiöse, ästhetische und soziomorphe Dimensionen. Sie dient als eröffnende Geste für einen gemeinsamen Austausch, kann aber in ihrer verschwenderischen Großzügigkeit aufgrund ihrer Reziprozität Menschen (Gesellschaften) vor den wirtschaftlichen Abgrund treiben. Die Gabe als Geste eines willkommenen Austausches, als Willkommensgeschenk, als Eröffnung eines gemeinsamen Raumes impliziert zugleich die Gegengabe, den Zwang zur Erwiderung – in Analogie zum Kommunikationsakt. Dabei will die Gegengabe die Gabe selbstverständlich überbieten, sich als noch großzügiger und verschwenderischer erweisen, was wiederum zu einer Ungleichheit, einem Schuldverhältnis führt. Es ist leicht nachvollziehbar, wie das Paradoxon der Gabe, dieser Austausch von „Höflichkeiten“ letztendlich in die Bredouille führen kann.
Derrida entwickelt aufgrund dieser Beobachtungen sein Konzept der „reinen“ Gabe, als vorzeitiges Durchbrechen dieses Austauschverhältnisses, das – obwohl als Gabe tituliert – ein ökonomischer Tauschhandel mit zeitlichem Aufschub bleibt. Für Derrida kann die Gabe in diesem Sinne nur als etwas verstanden werden, das keine Gegenleistung erfordert, das als Geschenk gegeben wird und in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit bestehen bleiben muss, da es durch Erwiderung als eben jene Geste aufgehoben/zurück- genommen/durchgestrichen wäre. Diese Konzeption der Gabe trägt das messianische Prinzip in sich, sie ist reine Idealität, uneigennützig und immateriell, handelt es sich bei ihr doch um den Akt des Gebens selbst und nicht um den Inhalt, um ein Etwas. Die reine Gabe beinhaltet nichts. Ich gebe nichts, deshalb bleibt niemand etwas schuldig. Falschgeld. Die Gabe besteht lediglich in der Öffnung des Raumes hin zum Anderen/zum Fremden/zum Zukünftigen. Zeit geben, Raum geben, Liebe geben, Leben geben – all diese Dimensionen der Gabe vereinen sich im Begriff einer selbstlosen Liebe.
Im antiken Griechenland wurde zwischen drei Arten der Liebe unterschieden. Da war einmal Eros, eine der Urkräfte, Prinzip der Lust und Lebenserhaltung, Leidenschaft und Leiden, Begehren im/und Entbehren. Selbst elternlos, treibt er uns voran, ist Triebkraft, Trieb und Kraft, Passion, stets auf der Suche nach dem unbekannten Objekt, das sein Begehren befriedigt, stets im Entbehren des Objektes seiner Lust, nach Befriedigung seiner Bedürfnisse immer im Unglück, stirbt er tausend kleiner Tode, unstillbar gierend wie ein kleines Kind und unendlich selbstbezogen, aus purem Eigeninteresse handelnd und stets besitzergreifend. Eros ist ein Zustand, selbst im Aufschub (des gegenwärtigen Begehrens) reine Gegenwart. Mit all seiner Macht und Einbildungskraft ist Eros auch das Ziel heutiger Marketingstrategien.
Die zweite Form der Liebe, in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles ausgiebig beschrieben, wurde als Philia bezeichnet. Sie bezeichnet die freundschaftliche Liebe zwischen zwei Menschen, die Liebe, die kommt und bleibt, die sich mit oder ohne Eros über die Jahre hinweg vertieft. „Vielleicht wird eines Tages, hier oder dort, kann man es je wissen, zwischen zweien, die einander lieben, sich etwas ereignen. Zwischen zweien, die einander aus Liebe lieben – und so, daß vielleicht Freundschaft zum rechten Wort für das würde, was sich da ereignet hätte. Zu seinem Eigennamen – und vielleicht nur ein einziges Mal. […] Es wäre dann eine neue Form des Liebens […], des Zur-Freundschaft-werdens der Liebe unter dem selben, aber diesmal dem rechten, dem angemessenen oder eher noch passenden, genau auf es zugeschnittenen Namen dessen, was sich begriffslos, ein einziges unvergleichliches Mal, zu diesem einen Datum, zwischen zweien ereignet.“ (Jacques Derrida, Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main 2000. S. 102f.) Dieses jedes Mal Einzigartige als Anfang der Welt, der Philia zwischen zwei Menschen, das radikal Neue auf eine Zukunft hin, geht über den Tod hinaus und bedeutet eine Asymmetrie in der Freundschaft – zum einen im Wissen, dass eine/r vor dem/der anderen gehen wird, eine/r den/die andere/n überleben wird, den anderen Namen/das Andere/den Tod der/des Anderen aus/in Liebe mit sich tragen wird, um sich zu erinnern, um ihn (den Namen) in Freundschaft zu sich, in sich, ins Gedächtnis zu rufen (vgl. hierzu: Jacques Derrida, Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Wien 2007.). Zum anderen besteht die Asymmetrie darin, dass in der Philia ohne Kalkül gegeben (und genommen) wird, jede/r gibt sich (hin), gibt, was er/sie geben kann, ohne sich eine Gegenleistung zu erwarten. Sie ist in diesem Sinne Handlung. Deshalb kann die Philia auch keiner Ökonomisierung unterworfen werden, da die Liebe das Kapital ist, das von beiden Seiten genährt wird.
Die dritte Form als höchste Stufe der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit ist schließlich die Agape, die göttliche Liebe, die Liebe als/anstelle von Gott (für die Atheisten). Sie ist die fürsorgliche, hingebungsvolle, aufopfernde Liebe der Mutter (auch des Vaters bis sie zur Philia wird) zu ihrem Kind, die uneigennützige Liebe zu den Mitmenschen, die einzigartige und universelle Liebe zum Anderen/Fremden/Unbekannten/Zukünftigen, die Nächstenliebe, die Philanthropie, die caritas, die allumfassende messianische Liebe, die ohne Macht und Gewalt, ohne sich einen persönlichen Vorteil zu schaffen, ausgeübt wird, die sich zurückzieht, um Raum zu geben. Sie ist die Liebe, mit der ein Volk regiert werden sollte. Sie ist höchstes Gesetz, purer Altruismus, hehres Ideal, größtmögliche Gerechtigkeit, die Idee des Guten schlechthin – sie ist reine Gabe.
Wo die Liebe regiert, bedarf es keiner Moral. Die Liebe befiehlt, aber sie lässt sich nicht befehlen und wer aus Liebe handelt, wird immer das Richtige (in Bezug auf ein Allgemeinwohl) tun. Kants kategorischer Imperativ lautet in dem Fall: Handle so, als würdest du lieben! Offen bleibt, inwiefern wir wirklich lieben können, und davon abgeleitet, inwiefern wir imstande sind, moralische Handlungen zu setzen. Die Liebe als universelle Idealität zur Regelung der Gemeinschaft hat ihre Vertretung in „moralischen“ Institutionen wie Kirchen/Klöstern, dem Staat, den Gesetzen, den Bildungseinrichtungen und natürlich dem Elternhaus (die vermutlich letzte verbleibende Vermittlungsinstanz von Liebe und Moral) gefunden. Was aber, wenn diesen Institutionen jeglicher Bezug zu Liebe und Moral verloren geht? Wenn die Liebe zu Geld und Besitz, Macht und Ruhm allem vorangestellt wird? Wenn die Gabe zu reinem ökonomischem Kalkül wird? Was, wenn das alles schon längst passiert ist?
Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen worden. Die Liebe unserer ersten Mutter, Gaia, Mater, Materie, kam – nachdem wir sie lange genug missachteten – bezeichnenderweise als Pandemie, als Krankheit zu uns zurück und hat uns einen Raum geöffnet und Zeit gegeben. Corona war/ist eine Möglichkeit, den Raum und die Zeit für uns zu nutzen, wieder Liebe zu spüren und Liebe zu geben. Wir alle tragen die Liebe einer Mutter in uns, den Eros als Antriebskraft, die Philia als Mindestmaß an Solidarität, einzig die Liebe zu uns selbst müssen wir vielleicht (und vor allem) erst finden. Die Frage zur Liebe, die wir an uns richten sollten, lautet: Lieben wir jemanden oder etwas, die Einzigartigkeit einer Person oder deren Eigenschaften? Die Liebe spaltet unser Herz in ein Wer oder Was? Dieser Spalt ist zugleich die Morgendämmerung der Philosophie, die Frage nach dem Sein selbst: Ist das Sein jemand oder etwas?
Ich liebe, also bin ich.

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