05/05/2021

Der Bierstein und die Vergangenheit der Zukunft

Zur Ausstellung
Europa: Antike Zukunft

Halle für Kunst Steiermark
bis 15. August 2021
Di – So: 11:00 – 18:00 Uhr

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Rezension von Wenzel Mraček

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05/05/2021

Halle für Kunst Steiermark – Tempelfassade vor dem Haupteingang anlässlich der aktuellen Ausstellung "Europa: Antike Zukunft"

©: Wenzel Mraček

Franco Vaccari, „Oumuamua“, 2020 (Videostill)

©: Wenzel Mraček

Oliver Laric, „Sleeping Boy“, 2021-04-30

©: Wenzel Mraček

Hauptraum: Ausstellungsansicht

©: Wenzel Mraček

Jimmie Durham, „Three Stones“, 1966

©: Wenzel Mraček

Im Jahr 2017 bemerkten Astronomen eines hawaiianischen Observatoriums ein Objekt, das sich in einer Entfernung von 24 Mio. Kilometern offenbar interstellar bewegte, das heißt, nicht abhängig von der Gravitation umgebender Sterne. Die erste Vermutung war, es handelte sich um ein künstliches Objekt im All und man nannte es Oumuamua. Im Hawaiischen ist damit ein Anführer oder Späher bezeichnet, womit auch eine Assoziation zu einem „Boten aus einer fernen Vergangenheit“ gegeben war. Weshalb sich das Objekt bewegt ist zwar immer noch strittig, aber inzwischen ist man sich einig, es handelt sich um einen Kometen.
Auf diesem Kuriosum basiert eine Videoarbeit des 85jährigen italienischen Künstlers Franco Vaccari, betitelt mit Oumuamua (2020), in der das Objekt ganz langsam auf den Betrachter zuzukommen scheint, während es sich „in Wirklichkeit“ mit einer Höchstgeschwindigkeit von 87,3 Kilometern pro Sekunde bewegt. Angebracht wäre freilich auch der Gedanke an Stanley Kubriks Knochen aus der Odyssee 2001, der via Evolution zum Raumschiff mutiert, und so wurde angesichts Oumuamua die Fiktion aus dem Jahr 1968 denn doch nicht zur Wirklichkeit des Jahres 2017. Spannend allemal, was solche Videosimulation in der rezenten Ausstellung Europa: Antike Zukunft zu denken gibt.

Mit seiner Vorrede im Beiheft zur thematisch orientierten Präsentation führt Kurator Sandro Droschl allerdings in Überlegungen, die – und nicht hier – durchaus in breiterem Rahmen diskutiert werden sollten: Ein gemeinsames Europa komme nur langsam in Gang, zu tief säßen die partikulären Interessen von Nationalstaaten, Wirtschaft und Bürokratie. Das „umfangreiche Projekt“, führt Droschl aus, „formuliert aktuelle Beiträge“ zu oben genannter Diskussion, „um aus einer in die Zukunft projizierten Geschichte ein kulturell und politisch gedachtes Europa im Sinne einer Gleichheit in Differenz voranzubringen“. Diesen Gedanken ist jetzt wohl eher schwer zu folgen, wollte man, kurz, aus der (Utopie, Prognose, Annahme) einer Zukunft die Gegenwart historisieren. Droschl verweist auf den englischen Kunsthistoriker T. J. Clark, der 1999 propagierte, die Moderne sei unsere Antike und hält dagegen, dass ja schon die klassische Antike „viele utopische Überlegungen bereithält und einiges dazu beitragen könnte, ein zukünftiges Europa zu gestalten“. Weil nämlich, so Droschl, die „Suche nach einer kritischen Balance zwischen Individuum und Gruppe […] bereits die griechische Antike aus[zeichnete], um auf Basis individueller wie allgemeiner Freiheiten und Verantwortungen die Demokratie zu stärken“. Bedenkt man dagegen das Athen eines Perikles, das meines Erachtens weniger ein demokratisches Prinzip, vielmehr Oligarchien ins Spiel brachte, der Status des Bürgers ein deutlich beschränkter war, so entsteht auch angesichts der in der Schau versammelten Kunstwerke vielmehr der Eindruck, dass großes Wollen dem Sein voranging. Aber sei’s drum. Ob Kunst wirklich in der Lage ist, Diskussionen um ein künftiges gemeinsames Europa anzustoßen, bleibt wohl dem Urteil von Besucherinnen und Besuchern überlassen, zumal sich wieder einmal die Krux von Themenausstellungen zeigt, in der Kunstwerken neuer Kontext zugeordnet wird.

Tatsächlich fällt es mir schwer, dem kuratorischen Ansinnen zu folgen. Dem Thema/Titel entsprechend lese ich Antike Zukunft als Formulierung nach dem Futur II, aus einer noch ferneren Zukunft eine nähere antik zu nennen. ??? Dem hält meines Erachtens bestenfalls eine pataphysische Interpretation des erwähnten Videos von Franco Vaccari stand.

Am Haupteingang ist der (neuen) Halle für Kunst Steiermark eine antikisierende Tempelfassade aus Kunst-Stoff vorgeblendet, woraus sich mit der eigentlichen Fassade des Bauwerks eine Art Portikus ergibt. Im Tympanon der Kulisse wird gerade die phönizische Prinzessin vom Stier Zeus entführt. Nach ihr soll der Kontinent benannt sein. Der Österreicher Oliver Laric vermisst antike Skulpturen respektive römische Kopien. Durch Fotografien und 3D-Scans erfasst er Daten, aus denen die Form der eigenen Skulptur im anderen Material wird. James Welling verwendet verschiedene fotografische Techniken nach denen Aufnahmen der Athener Akropolis wie collagiert oder farblich adaptiert erscheinen. In einer Installation von Franz West, Epiphanie an Stühlen (2011), „sehen“ sich zwei Sessel einer Erscheinung ausgesetzt.
Im Souterrain Franz Kapfers 2019 bis 2021 entwickelte Installation Im Rücken die Ruinen von Europa. An Ketten von der Decke gehängte, dunkle Holzschilde tragen die Zeichen rechtsextremistischer Bewegungen. Angst und bang hängen hier konzentriert im Raum, der glücklicherweise nicht ganz Europa ist. Eine in gewisser Weise ironische Verknüpfung findet sich auf einem alten Holztisch. Jimmie Durham zeigt hier schlicht Three Stones (1996), nämlich zwei Bohrkerne mit Material des Petersdoms und des Europaparlaments gegenüber einem dritten. Der ist ein Bierkrug aus Steingut, bezeichnet mit Bierstein. Bierstein ist eine kalkhaltige Ablagerung die sich während des Brauvorgangs entwickelt und ist von Braumeistern gefürchtet.

Laukhardt

Diese Rezension macht wirklich Lust auf einen Besuch des neubenannten Hauses und auf Studium der beabsichtigten Wirkung.

Di. 11/05/2021 12:21 Permalink
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