27/04/2021

zeitenweise – 06

Objekt Macht Wissen

Unser individueller Zugang zu Wissen und somit unsere ganze Individualität sind der Gefahr des Verschwindens durch digitale Medien und Psychotechnologien, die bereits auf im Entwicklungsprozess befindliche Gehirne abzielen, ausgesetzt.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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27/04/2021

making history

©: Severin Hirsch

„Eine globale Beschreibung faßt alle Phänomene um ein einziges Zentrum zusammen – Prinzip, Bedeutung, Geist, Weltsicht, Gesamtform; eine allgemeine Geschichte würde im Gegenteil den Raum einer Streuung entfalten. […] Diese erkenntnistheoretische Veränderung ist heute noch nicht abgeschlossen. […] Als sei es in dieser Geschichte, die die Menschen von ihren eigenen Ideen und eigenen Kenntnissen zeichnen, besonders schwierig gewesen, eine allgemeine Theorie der Diskontinuität, der Serien, der Grenzen, der Einheiten, der spezifischen Ordnungen, der Autonomien und differenzierten Abhängigkeiten zu formulieren. […] Als hätten wir Angst, das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens zu denken. […] Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen machen und aus dem menschlichen Bewußtsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die beiden Gesichter ein und desselben Denksystems. Die Zeit wird darin in Termini der Totalisierung begriffen, und die Revolutionen sind darin stets nur Bewußtwerdungen.“ (Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1973. S. 20ff.)

Totalisierung der Zeit, Totalisierung des Subjekts, Totalisierung der Geschichte, Totalisierung des Wissens – Totalisierung ist die Aneignungsstrategie des modernen Kapitalismus, der wie eine Hegemonialmacht sich alles einzuverleiben und unter seine Kontrolle zu bringen sucht. Jede terra incognita wird zu einem Belgisch-Kongo, die es bis in die verborgensten Winkel auszuschlachten gilt. Perfider, konsequenter, unauffälliger als die totalitären Regime übt er unsichtbar und dezentral Gewalt auf die Individuen aus, indem er das Subjekt zerteilt, zäsiert, seziert und die Gesellschaft zersetzt.
Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Zerschlagung des wohl grausamsten totalitären Regimes, in dem selbst die Massenvernichtung industrialisiert wurde, machte sich ein weiterer Österreicher auf, die Welt zu erobern. 1947 gründete der österreichische Ökonom, Sozialphilosoph und spätere Nobelpreisträger August Friedrich von Hayek in der Schweiz die Mont Pèlerin Society, einen Zusammenschluss liberaler Denker, der heute noch als Synapse neoliberaler Netzwerke fungiert. Ziel dieser Gesellschaft war es, den Staat als Regulativ aus wirtschaftlichen Belangen auszuschließen und den Markt, der uns alle relevanten Informationen und alles erforderliche Wissen zukommen lässt, rein über die Preissteuerung zu regulieren. Der freie Markt als ehrlicher Informationslieferant und Wissensdistributor bringt verantwortungs-bewusste Konsumentinnen und Konsumenten hervor. Diese Idee begleitet uns in seiner Konkretisierung seit den 1980-ern und sollte unter dem Deckmantel der Globalisierung erst sein wahres Ausmaß preisgeben. Das Objekt (des Begehrens und als Konsument/in) rückt ins Zentrum des Marktes und wir (Industrialisierten) sind im Überfluss übergegangen, übergetreten, über die Ufer gestiegen, haben alles überschwemmt und das Hinterland verheert. In dieser postmodernen Sinnflut hat der Informationsfluss längst unsere Reizschwelle überschritten und unsere Aufnahme- und Aufmerksamkeitsfähigkeit unter seinen Massen erstickt.
Verantwortung zu tragen, erfordert Mündigkeit, Wissen, soziale Intelligenz und Aufmerksamkeit. Doch genau dagegen arbeitet das neoliberale Wirtschaftssystem, die Massenmedien, die Marketingmaschinerie, indem es schon das Triebverhalten der Jüngsten als Zukunft der Konsumtion anvisiert. Ein Kind lernt in der Überwindung des Es und im Übergang zum Ich die Triebe als Begehren, als libidinöse Kraft zu begreifen, und sich ein Objekt, auf das sich dieses Begehren bezieht, selbst zu gestalten. Attraktion und Abstraktion nennt Ernst Cassirer diese Kräfte der symbolischen Aneignung hinsichtlich eines Objekts. In der Gestaltung des Objekts spielt die Vorstellungskraft, die Imagination, die Phantasie eine gewichtige Rolle, sie stellt den Bezug zur Objektwelt und zu sozialen Relationen her. Das Begehren ist sich seines Objekts nicht bewusst, sagt Lacan, es muss es erst gestalten. In diesem empfindlichen Entwicklungsstadium, in dem sich die kognitiven Fähigkeiten und neuronalen Netze und Vernetzungen herausbilden, kommen die modernen Technologien und Massenmedien ins Spiel, da sie die Objekte postulieren, auf die sich das Begehren beziehen soll. Das Ich entwirft sich nicht mehr aufgrund seiner gestalterischen Fähigkeiten in Bezugnahme zur/im Umgang mit der Außenwelt, sondern wird von den unerschöpflichen Objekten der Außenwelt bestimmt. Die Foucault’sche Bio-Macht wird zur Psychomacht, die in die entlegensten Regionen unserer Psyche eindringt und zu kontrollieren versucht. Damit ist auch die Totalisierung des Subjekts gemeint, in dem es von Anfang an schutzlos den Mechanismen des Marktes ausgeliefert ist und von der Objekt- und Wissensaneignung bis hin zur Gestaltung eines Selbstbildes fremdbestimmt ist.
„Intelligenz vermittelt Wissen, und die Schlacht für die Intelligenz wird heute gern als Schlacht der Wissensindustrien und Wissensgesellschaften bezeichnet. Auch eine solche Gesellschaft setzt jedoch soziale Intelligenz voraus, in der man in gutem Einverständnis leben kann. Intelligenz bedeutet Übereinkunft, und im Hinblick darauf stellt sich die politische und ökonomische Frage nach der Aneignung und Kontrolle der Technologien der Intelligenz, wie sie sich zur Zeit präsentieren. In der Weise, wie sie als Herrschaftsmittel zur Kontrolle des kollektiven Verhaltens fungieren, muß man sie letztendlich als Technologien der Dummheit bezeichnen. […] In einer Gesellschaft intelligent zu leben bedeutet, sich um das Soziale in der Weise zu sorgen, daß das Soziale auch einer Sorge um das Individuelle entspricht. “ (Bernard Stiegler, Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt am Main 2008. S. 57ff.)
Für Stiegler ist es dem psychotechnologischen Machtapparat, der uns von Beginn an eine Überfülle an Objekten des Begehrens (und auch Wissen, das Wissen-Wollen, ist davon eine Form) vorsetzt, zuzuschreiben, dass wir nicht imstande sind, Verantwortung für unser (Konsum-)Verhalten, unsere Mitmenschen, unsere Umwelt und (damit einhergehend) nicht einmal unsere Nachfahren übernehmen können. Die Generationenfolgen und die Wissensvermittlung verkehren sich, den Kindern werden Mündigkeit und Verantwortung aufgebürdet, obwohl sie sie noch nicht einmal erlernt und das nötige Alter erreicht haben, während Erwachsene wie Unmündige handeln. So wie uns der Markt und die Psychotechnologien zu neutralen, seelenlosen Objekten macht, die Mittel zur Erhöhung von Profitraten und Wirtschaftswachstum sind, machen wir unsere Umwelt und unsere Mitmenschen zu derselben Art von Objekten, um unser Seelenheil im endlosen Regress der Konsumtion zu finden.
„Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt. […] Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt." (Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt am Main 2005. S. 280.)
„Allein, wenn die Macht so das Leben zum Objekt oder Ziel nimmt, so beruft sich der Widerstand gegen die Macht bereits auf das Leben und kehrt es gegen die Macht. […] [I]m Menschen selbst gilt es das Leben zu befreien, da der Mensch selbst eine Weise darstellt, es einzusperren. Das Leben wird zum Widerstand gegen die Macht, wenn die Macht das Leben zu ihrem Objekt macht.“ (Gilles Deleuze, Foucault. Frankfurt am Main 1993. S. 129.)
   

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