19/12/2023

Überall auf der Welt lodert und brennt es. Dazwischen wollen wir ungestört die Geburt eines Kindes feiern, das die Verantwortung trägt, Heil und Erlösung für die Welt zu bringen. Um dem Kind nicht die ganze Last des Weltschicksals aufzuladen, haben wir uns daher zusätzlich noch Menschen ausgewählt, denen das Wohlergehen der Einzelnen nicht ganz so am Herzen liegt.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

19/12/2023

am ende für uns, 2023

©: Severin Hirsch

Vor Kurzem erwachte ich eines kalten Wintermorgens und erblickte am Horizont in Richtung Süden einen roten Lichtstreifen. Ein Licht am Horizont. Noch schlaftrunken und leicht traumwandlerisch brach ein Satz meiner Großmutter in meine sonst nach dem Erwachen eher brachliegende Gedankenlandschaft ein, den sie mir als Kind um diese Jahreszeit, wenn die untergehende Sonne Wolken und Himmel in rötliches Licht tauchte, gerne sagte: „Die Engel backen Kekse.“

Eine gängige Redeweise, nichts Außergewöhnliches, außer vielleicht der Zeitpunkt, an dem sie mir in den Kopf drang – wobei für Berufstätige in der Backbranche zu dieser Uhrzeit der Großteil ihres Tagwerks wohl vollbracht ist. Die Erinnerung an diesen Satz brachte mich jedenfalls innerlich zum Lachen, hat er damals doch Anstoß für einen Phantasieausbruch über den Fleiß, die Betriebsamkeit und Emsigkeit unter den Himmelswesen in der Vorweihnachtszeit gegeben. Besagte Großmutter ist inzwischen längst verstorben und auch – zwar nicht mit ihr, aber ebenso im Laufe jener Jahre – die kindliche Phantasie, die die Welt aus den Angeln zu hebeln vermag, nicht nur buchstäblich, sondern auch formal. Jene Phantasie, die eine Unterscheidung von Wunsch, Vorstellung und Wirklichkeit oft unmöglich macht und die uns das Bildungs- und Erziehungssystem im Laufe unserer Entwicklung auszutreiben versucht.

Diese Art der Phantasie ist etwas anderes, viel Vielschichtigeres und Umfassenderes, als etwa an den Weihnachtsmann, das Christkind, einen Gott oder die demokratischen Werte zu glauben. Das hat weniger mit Phantasie als vielmehr mit Sozialisierung innerhalb eines kulturellen Umfelds zu tun. In der westlichen Welt lernen wir als Kinder an den Weihnachtsmann, das Christkind, den Osterhasen zu glauben, unsere Phantasie mitsamt allen Geschichten beflügelt uns, diese als real zu erachten, und weil wir daran glauben, werden wir belohnt und beschenkt.

Später lernen wir an unser Bildungssystem zu glauben, den Autoritäten, dem Rechtssystem, dem Staat, dafür werden wir zwar nicht belohnt, aber zumindest nicht bestraft. Geschenkt wird uns – Iwan Petrowitsch Pawlow sei Dank – nichts mehr. Maximal einmal ein Energiekostenzuschuss. Und da soll uns schon das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, ihm geht die Puste aus, alle ringen nach Luft. Die rotbackigen, Kekse backenden Engel verwandeln sich an jenem Morgen schließlich schnell in einen schlechtgelaunten, ungepflegten Gott, der in seiner verwahrlosten Küche an diversen Krisenherden rührend ungerührt übelriechende Gerüchte schmort, deren abgestandene Gerüche er mit seinen Winden über die Erde bläst und mit einem kleinen Funken oder einem achtlos weggeschnippten glimmenden Zigarettenstummel zu einem Weltenbrand entzünden kann.

Ein Bild, das meine Stimmung und die allgemeine Weltsituation schon viel besser trifft als die bausbackigen Barockengel oder der Pfeil des Amors. Ein zweites Mal kommt mir ein inneres Lachen aus. Ein apokalyptisches Lachen. Flächenbrände, Brandrodung, eine Jahrtausende alte Kulturmethode, um Altes zu vernichten und darauf Neues entstehen zu lassen, um Böden wieder urbar und fruchtbar zu machen. Auch das ist der ideelle Sinn von Weihnachten. Auch das ist Ökonomie.

Aber eben ohne Ideologie, ohne kapitalistische Hintergedanken, ohne kapitalistisches Ausschlachten. Adventus, die Ankunft, das Anbrechen einer neuen Herrschaft(sform), einer neuen Zeit, eines neuen Jahres, eines neuen Zyklus.

Das Messianische daran ist nicht der Erlösungsgedanke, sondern die Offenheit für das Unerwartete, Unbekannte, Ungewisse – die Ankunft, das Hereinbrechen einer unbekannten Zukunft im Hier und Jetzt. Dafür sollen wir die Türen, die Herzen, die Arme offenhalten. Die Veränderung wartet an der Schwelle und bittet um Einlass, um Herberge, um Gastfreundschaft. Dafür müssen wir auch zulassen, dass alteingesessene Gewohnheiten unter dem Schnee begraben oder in der Feuersbrunst verbrannt werden, um als etwas völlig Neues, Andersartiges, Unerwartetes, als gemeinsame Saat im Frühling aufzugehen.

Das wäre einmal eine Belohnung, ein Geschenk dafür, dass wir nicht mehr glauben – an das Bekannte, die Gewohnheiten, die Autoritäten, die Regierenden, die Herrschenden, die Meinungsmachenden, die zertretenen, vertretenen, verdrehten Wahrheiten. Schluss, Stopp, Ende, dem wiederkäuenden Populismus, der kuhäugigen Stupidität! Wer kann denn das noch schlucken, was aus Euren Mündern kommt? Wer bitte glaubt denn noch an dieses System oder gar, dass dieses System noch funktioniert? Dann schon lieber an die hausbackenen Keksengel…

Überall lodert es, flammt es auf, brennt es bereits und die autokratischen Regierenden versuchen mit unantastbarer Kälte des Flammenmeeres Herr zu werden.

In Serbien gewinnen Aleksandar Vučić und seine SNS zum vermeintlich letzten Mal auch über 30 Jahre nach dem Balkankriegsbeginn mit Totschlagargumenten und Wahlbetrügereien mit absoluter Parlamentsmehrheit die Wahlen, auch die verbliebenen Nachfolgegenerationen scheinen der Kriegsrhetorik immer noch Gehör und Glauben zu schenken. Der Balkan kommt nicht zur Ruhe, weiterhin werden Territorialansprüche gestellt und Zusammenschlüsse von Minderheitsregionen außerhalb der serbischen Republik gefordert. Kosovo. Bosnien und Herzegowina. Dort haben bei den Wahlen im Oktober zumindest die kroatischen und bosnischen Bevölkerungsgruppen gegen ihre nationalistischen Vertretungen gestimmt. Die Stimmung ist – dank des serbischen Vertreters Milorad Dodik und dessen Traum eines Großserbiens – dennoch geladen.

In Israel spricht sich Benjamin „Bibi“ Netanjahu trotz heftiger Proteste der Zivilbevölkerung für ein Vorgehen mit eiserner Härte gegen den „Terrorismus“ aus. Und von Wladimir Putin wollen wir erst gar nicht sprechen. (Fast) alles gewählte Leute, die – einmal gewählt – gegen die Wünsche der Bevölkerung handeln. Das heißt also Demokratie. Selbsternannte und –bevollmächtigte Autokraten.

Ich möchte gerne einen Diktator am Weihnachtsbaum baumeln sehen. Zumindest als Christbaumschmuck. Man wird sich ja wohl noch was wünschen dürfen und die Stille der Nacht genießen.

Die Stille, die Ruhe des Winters ist uns abhandengekommen, der Rückzug, die Ankunft ins Selbst als Öffnung fürs Kommende, für das vollkommen Unerwartete. Die Einkehr in uns ist kaum mehr möglich, da wir uns den Zutritt zu uns, unseren Wünschen, unseren Vorstellungen, unseren Hoffnungen, unseren – vielleicht auch kindlichen – Phantasien selbst verwehren. Jede/r kann sich selbst ein Messias sein und die Geschichte der Herbergssuche mit sich selbst durchspielen. Wie vielen von uns wohl der Zugang verschlossen bleibt? Die kindliche Phantasie ist der erste Eintritt in die Virtualität.

Von da an entpersonalisieren und abstrahieren sich die Zeichen und Zeichensysteme, werden in Kultur eingebettet, werden Worte, Sprache, Texturen, Architekturen, Wissenschaften, werden Struktur. Die Virtualität, der virtuelle Raum ist alles, was die Phantasie erschafft. Dort befindet sich auch unser Selbst, in dem Raum, in dem wir alles sein und alles werden können. Es ist die Simulation der Welt. Doch Vorsicht! Außerhalb dieser Welt lauert eine andere Welt, ein ebenfalls auf Zeichen aufgebautes Konstrukt, in der Menschen Befehlen gehorchen, in den Krieg ziehen, sich unterordnen, Grenzen schützen, vor Fahnen salutieren, hungern und sterben müssen.

Zwischen diesen Welten jedoch besteht ein Raum, ein Freiraum, die Freiheit des Individuums, den wir nutzen können, um aus uns heraus und selbstbestimmt, mit dem Mut und der Verwegenheit kindlicher Phantasie, die gewaltigen Fassaden dieses auf Machterhaltung und Unterdrückung, Abgrenzung und Ausbeutung aufgebauten Konstruktes zum Einsturz zu bringen.     

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