26/09/2023

Mit dem Rückzug des Sommers und dem Rückflug der Zugvögel zieht sich auch das Leben langsam wieder in sich zurück, besinnt sich, verflüchtigt sich zum Denken und wirft dunkle Schatten auf Sonne, die als Reflexion beim Nach-Denken in Selbstversunkenheit leicht in Melancholie umschlagen kann. Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

26/09/2023
©: Severin Hirsch

„Leiden und Schmerz sind in jedem Fall unabdingbar
für ein umfassendes Bewußtsein und ein tiefes Herz.
Wahrhaft große Menschen müssen auf Erden 
unendliche Trauer empfinden […].“
(Fjodor Dostojewskij, Verbrechen und Strafe. 
Frankfurt am Main 2005. S.357)

Langsam fallen die unbeschriebenen Blätter zu Boden, die Schatten holen uns ein, bis sie in der Dunkelheit verschwinden und mit uns zu einer Einheit verschmelzen, und die Zugvögel treten ihre Reise an, um in wärmeren Gefilden zu überwintern und der Kälte und Finsternis zu entrinnen. Die Melancholie öffnet ihre Arme, um uns in alter Freundschaft zu empfangen und die wie blätterlose Äste winterlicher Bäume skelettierten Finger ihrer eisigen Hand auf unsere Schultern zu legen. Zeit für einen Rückzug aus dem Hier und Jetzt, dem Moment der Gegenwart und Gegenwärtigkeit, Zeit die Sinne in innere Welten umzukehren, Zeit die Zeit zu bekehren und ihrer Zielorientiertheit Raum in alle möglichen Richtungen und Sphären zu verschaffen. „Da die Zeit, in der wir leben, die Zeit unserer Rede ist, wird der Melancholiker durch sein fremdes, verlangsamtes oder ausschweifendes Sprechen zwangsläufig in einer dezentrierten Zeitlichkeit leben. Sie fließt nicht dahin, der Vektor vorher/nachher ist für sie nicht maßgebend, führt sie nicht aus einer Vergangenheit hin zu einem Ziel. An die Vergangenheit fixiert, […] stellt der Melancholiker ein sonderbares Gedächtnis dar: Alles ist vergangen, umgewälzt, scheint er zu sagen, aber ich bleibe diesem Vergangenen treu, bin daran festgenagelt […].“ (Julia Kristeva, Schwarze Sonne. Depression und Melancholie. Frankfurt am Main 2007. S.68.)

Die Melancholie, die schwarze (altgriechisch: melas) Galle (cholé), die Schwarzgalligkeit, war ursprünglich ein auf die Viersäftelehre des Hippokrates zurückgehendes Krankheitsbild, mit dem Symptome wie Depressionen, Sprachstörungen, Stimmungsschwankungen und Wahnvorstellungen einhergingen und wurde in der Medizin erst im 20. Jahrhundert durch den Begriff der Depression abgelöst, auch wenn schon weit davor Dichtung, Malerei, Literatur und Philosophie der Melancholie gesellschaftspolitische Aspekte zuwiesen. Resignation und Stillstand, Utopien und Handlungsunfähigkeit in Zeiten politischer Umbrüche und sozialen Wandels waren oftmals Reaktionen auf Machtverlust und Handlungsbeschränkungen innerhalb adeliger Kreise und wurden diesen als melancholische Gemütszustände zugeschrieben. Die Unmöglichkeit, in der Außenwelt noch etwas zu bewegen oder aus ihr vermehrt Profit, Ruhm oder Ansehen herauszuschlagen, trieb sie zunehmend in eine Art Weltflucht, die Flucht nach innen, in die innere Welt. Nicht umsonst wurde die Melancholie (als Krankheitsbild) schon in der Antike mit zu vehementem Vertiefen in die Wissenschaften in Zusammenhang gebracht und seither immer wieder auch als Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn. Es scheint auf den ersten Blick, dass diese leidvolle Abkehr von der Außenwelt, von den sozialen Bindungen, von der Bindung ans Leben vornehmlich den Privilegierten vorbehalten ist – und vermutlich stimmt das auch ein wenig, da der starre Blick auf Vergangenes, in die Vergangenheit oder in fantastische, fanatische, utopische Welten aus einer Tradition heraus nur denjenigen offen steht, die sich nicht mit der permanenten Bewältigung der Existenz in Verantwortung anderen gegenüber abmühen müssen. Das macht heutzutage und hierzulande in gewisser Form die meisten Menschen zu Privilegierten – und dadurch auch für die Melancholie anfällig. „Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert.“ (Siegmund Freud, Trauer und Melancholie. In: Ders., Gesammelte Werke. Zehnter Band. Werke aus den Jahren 1913-17. London 1946. S.428-446. S.429.)

In der Renaissance wurde die Melancholie vor allem durch den italienischen Philosophen und Humanisten Marsilio Ficino mit dem Einfluss von Saturn in Verbindung gebracht. Saturnus, der römische Gott des Ackerbaus und der Aussaat, hat sein Pendant in der griechischen Mythologie in Kronos, der schon früh mit Chronos, dem Gott über den Ablauf der Zeit und der Lebenszeit, verschmolz. Die Melancholie erstreckt ihr Machwerk in der Zeit, nicht im Raum, auch wenn der Verlust örtlicher Verbundenheit in der melancholischen Disposition von Bedeutung sein kann, ist er dennoch ein Vorher, ein Vergangenes – wie der Verlust von geliebten Menschen. In unseren Breitengraden spielt die Zeit eine doppelte Rolle in der Melancholie. In Form der Jahreszeiten lebt sie uns die Zyklen des Lebens stets aufs Neue vor – vom Gedeihen und Wachstum zur Blüte und Reifung, vom Abblühen und Verfall zum Absterben und Tod. Den unbändigen Leidenschaften, dem glühenden Enthusiasmus, der unaufhaltsamen Euphorie, der kommunikationsfreudigen Gesellschaftlichkeit weichen soziale Isolation, häusliche Abgeschiedenheit, kontemplatives Besinnen. Das Leben zieht sich vom öffentlich-sozialen Raum ins Private zurück. Das Denken besinnt sich seiner selbst und wird vom reflexartigen Reagieren auf den Moment, vom sensibel-sinnlichen Genuss der Präsenz zur intelligiblen Reflexion der Zeit, des Erlebten, des Vergangenen. Die Natur zieht sich zurück und wir kehren in uns ein. Manch eine/r in die Melancholie. „Die Melancholikerin ist jene Tote, die immer schon innerhalb ihrer selbst verlassen wurde und die niemals außerhalb ihrer selbst wird töten können. Schamhaft, schweigsam, ohne Bindung durch Wort oder Begehren an die Anderen verzehrt sie sich darin, sich selbst moralische und psychische Schläge zuzufügen, die ihr dennoch keine ausreichende Befriedigung verschaffen.“ (Julia Kristeva, Schwarze Sonne. S.38.)

Mit dem Herbst kehren nicht nur die Bilder des Sommers ins Bewusstsein zurück, um verarbeitet zu werden, sondern auch die Galgenvögel des europäischen Humanismus. Kurz-Filme, die keiner sehen wollte, die viel zu lange dauern und ewig auf sich warten lassen könnten, stolze Innenminister, die sich trotz der verheerenden Naturkatastrophen im und ums Mittelmeer mit Asylantragszahlen schmücken und Asylbremsen beschließen, obwohl sie die Staatskarossen schon längst gegen die Wand fahren ließen und eine Ex-Ministerin, für die das Leben selbst in schwindelerregenden Höhen im Beisein von russischem Militär noch ein Ponyhof ist. Schwarzer Humor, schwarze Gedanken, schwarze Seelen, komm, großer, schwarzer Vogel, komm jetzt!

Schwarzer Schatten.

Das Zeichen trägt schon seit jeher die Spuren des Todes in sich. Wir tragen die Zeichen in uns. Wir tragen den Tod in uns. Wir tragen die Spur in uns. Wir säen Zeichen. Wir säen Tod. In uns. Die Melancholie befremdet uns, macht uns selbst zu Fremden, untergräbt unsere selbst gebaute Identität, lässt eine große Lücke klaffen zwischen dem, was wir vorgeben, zu sein und dem, was uns an uns selbst fremd, unbekannt, unheimlich ist. Heimlich, im Geheimen.    

„Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen. Wenn wir ihn in uns erkennen, verhindern wir, daß wir ihn selbst verabscheuen. Als Symptom, das gerade das ,wir’ problematisch, vielleicht sogar unmöglich macht, entsteht der Fremde, wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht, und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen, widerspenstig gegen Bindungen und Gemeinschaften.“ (Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 1990. S.11.)  

 

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