19/04/2024

Es ist April 2024 und das Thermometer ist in den vergangenen zwei Tagen von 29°C auf 9°C abgefallen. Die Schneefallgrenze sank ruckartig auf unter 1000m und führte zu starken Schneefällen binnen weniger Stunden bis in die Alpenausläufer Österreichs. 

Sanela Pansinger stellt sich der Frage nach den Auswirkungen des Klimawandels aus einem gestalterischen und kulturellen Blickwinkel heraus. "Neben den bildhaften Vorstellungen einer idyllischen Winterlandschaft", schreibt sie, "die heute in vielen Regionen nur durch Kunstschnee möglich ist – so, wie es unsere auf Farben und Jahreszeiten ausgerichteten Blicke gewöhnt sind – stellt sich die Frage der Auswirkung der Lesbarkeit dieser Landschaft nicht nur wie gewöhnlich in Bezug auf Tourismus, Arbeitsplätze und Infrastruktur, sondern auch, wenn es um Identität, Resilienz der räumlichen Organisation und die damit verbundene gestalterische Nachhaltigkeit (1) geht."

19/04/2024

Die Lesbarkeit der Landschaft: Wenn der Schnee von gestern zum Schnee von morgen wird. Schönberg-Lachtal, Ende Oktober 2019.

©: Petra Kickenweitz

Landschaften sind wie Bücher. Sie erzählen uns ihre Geschichte. Sie zu lesen erfordert mehr als nur bloßes Betrachten von Temperaturmessungen und Schneemenge zu bestimmten Jahreszeiten. Landschaften sind komplexe Phänomene. Sie entstehen durch einen langsamen kulturellen Prozess und enthalten vielseitige Spuren menschlicher Eingriffe sowie der Auswirkungen des Klimas. Diese Dinge sind in der bebauten Umwelt, der Religion, im Essen, in der Sprache und generell im Raum als Formen sichtbar und erfahrbar. Landschaft ist eine kulturelle Leistung. So finden wir in Landschaften nicht nur die Spuren der Vergangenheit, sondern auch Hinweise auf unsere eigene Existenz. 
Indem wir Landschaften sorgfältig lesen, öffnen wir uns für eine tiefere Erkenntnis: Landschaft wird oft zu einer Leinwand, auf der die Menschen ihre eigenen Vorstellungen, in diesem Fall zum Beispiel von Winteridylle, projizieren, um meist wirtschaftlichen Mehrwert zu generieren. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung. Diese Verschiebung auch der Realität des Klimawandels führt nicht unbedingt zu alternativen Lösungen, sondern versucht alte Verhaltensmuster zu erhalten.

Und nun kommt der Kunstschnee, die wundersame Welt der Schneekanonen, ins Spiel. Wer hätte gedacht, dass wir jemals an den Punkt gelangen würden, an dem wir die Natur überlisten und unsere eigene schneeweiße Landschaft erschaffen. Mit fortschrittlicher Technologie und kreativem Denken können wir „Schnee aus der Dose“ zaubern. Dies ist eine tatsächliche Herausforderung für die Baukultur, wenn man bedenkt, wie sehr sich die „wahre“ Landschaft verändert hat. Wir tun so, als ob die künstliche Schneelandschaft genauso authentisch ist wie die echte Natur – wir lesen sie gerne so.

Die künstliche Schneedecke ermöglicht es Skigebieten und anderen touristischen Attraktionen, ihre Aktivitäten auch bei unzureichendem natürlichem Schneefall fortzusetzen. Es ist eine moderne, bildhafte und „witzige“ Lösung, die die Schönheit der Landschaft so bewahrt, wie wir sie gewohnt sind. So gesehen sind die Auswirkungen auf den Tourismus und teilweise auch auf das Klima zweifellos positiv. Skigebiete können ihre Saisonzeiten durch eine konstante Schneedecke gewährleisten, was wiederum mehr Besucher anzieht. Dies führt zu einer Steigerung der Einnahmen und einer Stärkung der lokalen Wirtschaft. Darüber hinaus ermöglicht Kunstschnee auch die Schaffung neuer touristischer Attraktionen, wie zum Beispiel Schneeparks, die das Angebot erweitern und die Besucherbindung stärken. Klimatisch gesehen erzeugt die weiße Schneedecke einen Albedoeffekt gegen Erwärmung des Bodens und schützt ihn vor Austrocknung.

Mit Kunstschnee wird zunehmend versucht, die zentralen Eigenschaften einer Landschaft zu erhalten: Komplexität, Kohärenz, Mysteriosität und Lesbarkeit. (2) Die Landschaft und daraus resultierende räumliche Organisation wird dadurch zum „Service“. So weit die Vorstellung. Die Realität sieht anders aus – es grünt im Winter.

Die bauliche Substanz ist träge und kann in ihrer Gestalt nicht schnell genug an die Auswirkungen des Klimawandels adaptiert werden. Zudem ist der Kontext, aus dem sie entstanden ist, oft nicht mehr derselbe und gehört nicht mehr als solcher zum Strukturbestandteil der Gegenwart. Das bedeutet, es handelt sich letztlich um idealisierte Modelllandschaften. Die bereits vorhandene räumliche Organisation ist nicht mehr in Balance mit veränderter Landschaft bzw. sie ist vom wahren Kontext abgekoppelt, der einer der primären Bedingungen ist, um gestalterisch nachhaltig zu sein. Der Betrachter ist herausgefordert, über die Beziehung zwischen Architektur und Umgebung nachzudenken.

Gerade an diesem Punkt ist die Relevanz der gestalterischen Nachhaltigkeit nachvollziehbar. Die Gestaltung kann die gesellschaftlichen Erwartungen einer bestimmten Periode nachhaltig aufnehmen, steuern und weiter existieren lassen. Durch sie sind wir in der Lage, Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen. Dabei geht es nicht um bewertende klassisch-ästhetische Ideale wie Proportion, Kontraste oder Komposition, sondern um die Präsenz der Gestaltung, welche trotz der Veränderung der Bedingungen in der Lage ist, ihr Wesen bzw. ihre Identität konstant zu zeigen und beizubehalten und damit die Qualität der räumlichen Struktur zu sichern. Gestalterisch nachhaltige Werte zielen so auf Dauerhaftigkeit durch Transformation, ohne endgültige Zustände zu definieren. Die Entwicklung von zukunftsfähigen Lösungen kann daher nicht einer einzigen Disziplin oder Technologie überlassen werden. Es verlangt vielmehr, mit architektonisch-städtebaulichen Mitteln wie Ausgleichsfeldern bzw. -bereichen dafür zu sorgen, dass die räumliche Organisation an veränderte Bedingungen angepasst werden kann. (3)

Jedoch wird die gegenwärtige räumliche Organisation in künstlich weißen Winterlandschaften zu einem Bestand ohne wahren Kontextbezug. Eine nachhaltige Umbaukultur (der Einsatz erneuerbarer Energien und umweltfreundlicher Baumaterialien etc.) ist erforderlich, um die bereits verbauten Ressourcen und sozialen Strukturen zu erhalten und wieder in Bezug zum neuen Kontext zu stellen. Damit verbundene Konflikte kann eine transparente und partizipative Planung minimieren und breite Akzeptanz für UmBauprojekte schaffen. Eine umfassende Analyse der Auswirkungen ist also unerlässlich, um eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Es wäre unverantwortlich, diese Potenziale nicht auszuschöpfen.

Dieses Fehlen von Schnee hat letztlich verschiedene Auswirkungen auf die bauliche Struktur und den Kontext. Hier sind einige potenzielle Aspekte:

  • Klimaanpassung: höhere Temperaturen oder stärkere Niederschläge. Dies erfordert u. a. eine Anpassung der Gebäudehülle, um eine effiziente Wärmedämmung und Belüftung zu ermöglichen.
  • Energieeffizienz: Die Bedeutung der Heizsysteme wird reduziert, während gleichzeitig die Kühlung wichtiger wird. Die Verwendung von passiven Kühltechniken wie natürlicher Belüftung oder Sonnenschutz wird zum Vorteil.
  • Wassermanagement: In schneefreien Landschaften kann die Verfügbarkeit von Wasser eine Herausforderung darstellen. Gebäude müssen möglicherweise auf effiziente Wassernutzungssysteme setzen, wie zum Beispiel Regenwassersammlung oder Grauwasseraufbereitung, um den Wasserverbrauch zu minimieren und die Abhängigkeit von externen Wasserquellen zu verringern, oder ganz im Gegenteil: Mit starken Niederschlägen ist zu rechnen.
  • Infrastruktur: In schneefreien Landschaften kann die Notwendigkeit von Schneeräumung und -beseitigung entfallen. Dies kann Auswirkungen auf die Planung und den Bau von Straßen, Gehwegen und anderen Infrastrukturelementen haben – so wie auf weitere Zersiedelungen.
  • Biodiversität – Flora und Fauna ändern sich. Pflanzenauswahl und -pflege müssen an die neuen klimatischen Bedingungen angepasst werden.
  • Lesbarkeit der Landschaft: da unser Verhalten u.a. immer eine Reflexion des Charakters des Ortes bzw. des Raumes ist, entstehen durch die Verwendung von Schneekanonen neue räumlichen Biotope. Hier wird die Wichtigkeit der gestalterischen Nachhaltigkeit sichtbar, weil sie über die Handlungen, die uns durch räumlichen Möglichkeiten gegeben sind, auf sehr konkrete Art und Weise unsere Existenz beeinflusst. (4)

Die zukünftigen Generationen werden Landschaft wahrscheinlich anders nutzen bzw. „lesen“ wollen und müssen als wir. Schneekanonen, Bewässerungsanlagen, Windräder, PV-Anlagen etc. werden, wenn auch temporär, zum fixen Bestandteil der „neuen“ Landschaft. Die auf „weiße Landschaften“ orientierte Baukultur dient dann als kollektives Gedächtnis und Ressource, die man in die Zukunft mitnehmen muss. Nur mithilfe von Entwurf bzw. des Entwerfens können alle diese Elemente (Formen) und Relationen (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Planungsinstrumentarien etc.) im Raum eingebettet werden, um eine qualitätsvolle Kulturlandschaft entstehen zu lassen. Durch das Entwerfen als Prozess zwischen all dem, was vorher war, und dem, was kommen wird bzw. durch die Strukturierung des Raumes, wird eine räumliche Organisation gestaltet, welche spezifische bauliche Gruppierungen ordnen und miteinander verbinden (Arbeit, Freizeit etc.) kann.

Bei den Entscheidungen und Diskussionen über die Entstehung und Positionierung der weißen Landschaften sollten Architektur, Stadt, Raum- und Landschaftsplanung einbezogen sein. Es liegt an uns, klar zu zeigen, dass sie einen quantifizierbaren Mehrwert für die Gesellschaft und Umwelt erzeugen können. Es geht um die Interaktion von Form und unserem derzeitigen Lebensstil (Skifahren, Schneeschuhtouren, Langlaufen etc.), also um die Dinge, die sich im Dazwischen abspielen. Denn, sowohl der Schnee von gestern als auch Schnee von morgen materialisieren sich im Raum. Es stellt sich nur die Frage, wie sie das konkret tun?

______ Quellen

(1) Gestalterische Nachhaltigkeit, S.Pansinger, F.Prettenthaler, 2023, in www.tandfonline.com 
(2)  Der Einfluss des Landschaftswandels auf den Tourismus und die Erholung, 2016 in www.umweltbeobachtung.eu/conference/presentation
(3) Ebda.
(4) Ebda.

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