10/12/2021

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Zum Buch: One Day You Will Miss Me von Julia Gaisbacher, 2021

Die steirische Künstlerin und Fotografin Julia Gaisbacher analysiert in ihrer medienüber-greifenden Werkserie One Day You Will Miss Me die durch das großräumige Immobilienprojekt Belgrade Waterfront ausgelös-ten urbanen Transformations-prozesse in Belgrad.
Der Bild- und Textband, 2021 erschienen in der Edition Camera Austria, ist Dokument einer von 2017 bis 2019 durchgeführten Recherche und Auseinandersetzung, das daraus entwickelte visuelle Archiv Narrativ, Erinnerung und das Produkt ein wichtiges Dokument, das für Bewohner*innen, Wissenschaftler*innen, Stadt- und Architekturhistoriker*innen und Politiker*innen bedeutsam sein kann.
Es ist zu erwarten, dass Gaisbachers Arbeit einen wertvollen Beitrag zum anhaltenden kritischen Diskurs rund um dieses Projekt vor Ort leisten wird – und darüber hinaus.

Rezension von Bettina Landl

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10/12/2021

Cover: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021

©: CAMERA AUSTRIA

Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 6-7

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 8–9

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 42–43

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 22–23

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 30–31

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 56–57

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Doppelseite: Julia Gaisbacher, "One Day You Will Miss Me", 2021, S. 118–119

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2021 erschien mit One Day You Will Miss Me eine Publikation in der Edition Camera Austria, die eine Kombination ist aus Bild- und Textsetzungen, Türme ordnet, Verdichtungen und Verhältnisse, die Erzählung ist, Entwicklung, Dokument einer von 2017 bis 2019 durchgeführten Recherche und künstlerischen Auseinandersetzung. In ihrer gleichnamigen medienübergreifenden Werkserie analysiert Julia Gaisbacher die durch das großräumige Immobilienprojekt Belgrade Waterfront ausgelösten urbanen Transformationsprozesse in Belgrad, indem sie das Thema in einem ersten Schritt für den Ausstellungsraum zu bearbeiten begann, um es in einem zweiten Schritt in Buchform zu übersetzen und die sequenzielle Veränderung von (unscheinbaren) Orten sicht- und greifbar zu machen und mit bewusst gesetzten Bezügen Nähe- und Distanzverhältnisse zu rekonstruieren, der Dynamik und Logik von Bewegung(en) im Raum zu antworten und Raum selbst zu verhandeln.

Zum Zeitpunkt ihres mehrwöchigen Aufenthalts in Belgrad 2017 stand für die Künstlerin und Fotografin noch nicht fest, dass sich aus ihrer Tätigkeit vor Ort ein Langzeitprojekt mit sozialpolitischer Tragweite entwickeln sollte. Gaisbacher hätte aus ihrem Interesse am Öffentlichen wie auch Privaten und an Stadtentwicklungsverfahren heraus einfach angefangen zu fotografieren: Gelände, Stadt, zeitliche und räumliche Dimensionen, Grenzen, Baustellen, den stillgelegten Hauptbahnhof, Baubestand, Kalemegdan, Neubelgrad, die Mündung von Save und Donau, Ränder, sandigen Grund, textile Öffnungen, Koexistenzen. Erst nach und nach, Gaisbacher besuchte Belgrad in der Folge immer wieder, wurde deutlich, in welcher Geschwindigkeit sich die gebaute Umwelt umgestaltet (hat). Dies verlieh ihren Ansichten eine neue Bedeutungsebene und machte sie gleichzeitig zu einem kritischen Kommentar. Mit dem (nötigen) Abstand hätte sich daraus eine Serie gebildet, vor allem hätte sie nie gedacht, dass die Fotografie einer Kreuzung vor dem Hauptbahnhof zu einem wichtigen Dokument werden würde. Denn: So vieles wurde abgerissen, um dem neuen Luxusstadtteil Belgrade Waterfront Platz zu machen, einem der größten Bauvorhaben in Europa – ermöglicht durch die serbische Regierung und finanziert von der privaten arabischen Immobilienfirma Eagle Hills, Abu Dhabi. Indem Gaisbacher ihre Arbeit um dieses Projekt herum anordnet, stellt sie die Frage, wer das Recht und damit die Macht hat, über (diesen) Raum zu entscheiden und lässt dadurch auch soziale Ungerechtigkeiten erkennen. Ideen, dieses Gebiet städtebaulich zu nutzen, bestehen bereits seit den 1980er-Jahren, doch stellt sich auch hier wieder einmal die Frage, für wen nun tatsächlich gebaut wird, wenn dadurch die Quadratmeterpreise von 2000-3000 Euro auf 8000-9000 Euro steigen, bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen in Serbien von umgerechnet 795 Euro (Stand: August 2021).

In einer ersten Projektphase fertigte Gaisbacher in Form von Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein „Porträt“ der Stadt an, hielt den Abriss von Gebäuden fest, positionierte sich auf dem Kalemegdan, einer Parkanlage auf dem ehemaligen Glacis der Festung von Belgrad, um Tourist*innen gleich den Blick auf den Fluss zu richten, Protestierende, die aufgrund illegalen Abrisses auf die Straße gehen: „Ne Da(vi)mo Beograd!“ (Lass Belgrad nicht untergehen!). Darüber hinaus war das Jahr 2017 geprägt von einer Flüchtlingsbewegung, die sich aufgrund der Schließung der Balkanroute auch auf Belgrad auswirkte. Knapp 1500 Menschen lebten zuerst auf der Großbaustelle, bis sie gewaltsam umgesiedelt wurden. The problem is borders, und so wurde der ehemalige Hauptbahnhof zu einem zentralen Motiv in dieser Zeit.

Die zweite Projektphase war getragen von Gaisbachers Interesse, dass mit Belgrade Waterfront und dem städtischen Umbau letztlich auch ein Lebensstil verkauft wird, ein „Sehnsuchtsort“. Eine Aufsicht bietet das Vor- und Nachsatzbild, das eine Satellitenaufnahme zeigt, eine Obenansicht der gesamten Stadt, um sich orientieren zu können, um ein Gefühl für Größenverhältnisse zu bekommen. Gaisbacher zoomt im Laufe ihres Projekts immer weiter heran, und die in das Buch aufgenommene Texte von Elke Krasny, Barbi Marković, Dubravka Sekulić, Jovana Timotijević, Iva Čukić und Reinhard Braun tun ihr Übriges, um besser zu verstehen, das Verschwinden zu fassen, das Fremdwerden von Vertrautem, der (eigenen) Stadt.

Näher treten! Was kann man sehen? One Day You Will Miss Me gewährt Einblick(e), wenn die Fotografin ihren Fokus für die Durchblicke schärft, Vinyl-Planen als Trägermaterial nutzt und Bauzäune als Display. Was passiert in/mit der Stadt, in bestimmten Stadtteilen? Welche Häuser werden abgerissen, welche bleiben und in welcher Form? Um diesen Fragen nachzugehen, wurden die Abbildungen im Buch dynamisch und nicht chronologisch gereiht. Durchbrüche zwischen Baracken bieten Einsichten und verschiedene Zugänge zum Thema. Es sind Momente, in dem die Stadt als Kulisse innerhalb einer Szenografie teilweise die Sicht zu verstellen scheint. Gaisbachers künstlerische Praxis ist eine soziologische, eine Feldforschungsstrategie. Ihr daraus entwickeltes visuelles Archiv ist Narrativ, Erinnerung und das Produkt ein wichtiges Dokument, das für Bewohner*innen, Wissenschaftler*innen, Stadt- und Architekturhistoriker*innen und Politiker*innen bedeutsam sein kann. Es ist zu erwarten, dass die Publikation einen wertvollen Beitrag zum anhaltenden kritischen Diskurs rund um dieses Projekt vor Ort leisten wird – eine Übersetzung ins Serbische vorausgesetzt. On the other side of the city sind damit auch Künstler*innen, die sich zu diesem Gegenstand/Umstand äußern, Resonanz provozieren, einen demokratischen Dialog.

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