22/10/2021

Auf dem Vordach der straßenseitigen Garage

Bettina Landl zu Abriss – einem Ausstellungsprojekt von Alfredo Barsuglia in Graz-Geidorf mit einer Auswahl der Kunstsammlung der Stadt Graz.
Die Kunstwerke wurden vom 27.8. bis 26.9.2021 in adaptierten privaten Räumen (Garage, Pavillon, Swimming-pool) in Kooperation mit dem Kulturressort der Stadt präsentiert.
Abriss zeigt Bewegungen, Standpunkte, Schauplätze, insbesondere Dialoge und neue Beziehungen zwischen den Orten und der Kunst, den Kunstwerken untereinander und schließlich zwischen der Kunst, der Stadt und deren Bewohner*innen.

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22/10/2021

Standort „BLASENKOPF“, Johann-Fux-Gasse: „HIER" auf dem Vordach der straßenseitigen Garage markiert Alfredo Barsuglia einen Nebenschauplatz.

©: Alfredo Barsuglia

Standort „HIER“, Liebiggasse: Ein Pavillon im Garten als offenes Studio zeigt einen Querschnitt skulpturaler und plastischer Arbeiten aus der Sammlung in neuen Konstellationen. 

©: Alfredo Barsuglia

Standort „BLASENKOPF“, Johann-Fux-Gasse.

©: Alfredo Barsuglia

Standort „BLASENKOPF“, Johann-Fux-Gasse: Martin Schnur, Afrikaner, 2003; Daniel Pauluzzi, Bauernbub mit Hahn, undatiert; Muntean/Rosenblum, untitled, 2002; Alfredo Barsuglia, Memories of Iridescent Bubbles, 2014.

©: Alfredo Barsuglia

Standort „TEXiT“, Auersperggasse: Constantin Luser, 08, 2017; Markus Wilfling, ohne Titel, 2003; Clara Oppel, BE ONE, 2013; Franz Pichler, alles in Ordnung, nothing, undatiert.

©: Alfredo Barsuglia

Standort „L“, Jakob-Dirnböck-Gasse: Nana Mandls Bildtapete, die aus einer feministischen Perspektive mit Auswirkungen digitaler Medien konfrontiert, präsentiert mit einer Stein­skulptur von Christian Frank (ohne Titel, undatiert).

©: Alfredo Barsuglia

Standort „ZAUN“, Schanzelgasse: Neue Öffnungen, neue Blickwinkel, neue Räume, neue Möglichkeiten.

©: Alfredo Barsuglia

Standort „ZAUN“, Schanzelgasse: Fotografien als Spiegelbilder des Gesellschaftlichen. „It is the future that is at issue here, (…)“ (Jacques Derrida).

©: Alfredo Barsuglia

"Abrissplan" – die Standorte im Überblick

©: Alfredo Barsuglia

Von Ende August bis Ende September 2021 fand in Graz ein „Abriss“ statt. Dabei wurde aber wider Erwarten nichts zerstört, sondern es kam überraschenderweise etwas hinzu. Neben Ab- und Niederreißen, der Beschreibung einer Zeichnung eines Umrisses und der kurzen Zusammenfassung einer Geschichte zum Beispiel, bezeichnet Abriss seit kurzem auch ein Projekt von Alfredo Barsuglia. Unter dem Schlagwort realisierte der Grazer Künstler von 27.8. bis 26.9.2021 in Kooperation mit dem Kulturressort der Stadt Graz eine Kunstintervention im Bezirk Geidorf. Den Anstoß dazu gab Birgit Kulterer, im Kulturamt mit den Agenden rund um die Kunstsammlung der Stadt Graz beauftragt, und im Falle der Initiative gemeinsam mit Markus Waitschacher (Forum Stadtpark, Sparte Bildende Kunst) kuratorisch tätig. Das Projekt war primär dem Bestreben geschuldet, die städtische Kunstsammlung zugänglich zu machen, zeigt diese doch einen Abriss lokalen zeitgenössischen Kunstschaffens über die Zeit, und damit nicht nur Kunstgeschichte, sondern auch ein Bild (ein-)heimischer kultureller Identität, einschließlich aller damit verbundenen Inkohärenzen. „Die Kunstsammlung der Stadt Graz besteht aus Werken von Künstler*innen, die in besonderer Weise mit Graz verbunden waren oder sind“, heißt es seitens des Kulturamts. Ein Abriss ist nicht nur die vor mehr als 70 Jahren begründete Sammlung, die sich aus den Ankäufen durch die Stadt Graz formt, auch die Arbeit Barsuglias an und mit derselben ist ein solcher. Vor allem ist er aber der Beginn eines längerfristigen Vorhabens, „das die Sammlung einer breiteren Öffentlichkeit näher bringen soll“.
Heute liegt der Sammlungsschwerpunkt ausdrücklich auf dem Ankauf zeitgenössischer Kunst mit professionellem Anspruch, einem „Sammeln, Dokumentieren und Fördern in der Zeit“. Jährlich werden im Durchschnitt ca. 30 Ankäufe getätigt. „Jede Sammlung hat eine Logik. Sie ist lesbar als ein Zeichensystem, das auch Auskunft gibt über die Sammelnden, ihre Intentionen und die Rahmenbedingungen ihres Tuns. Anders gesagt, jede Sammlung bildet ab: die Kunst in Bezug zu ihrer Zeit und zu ihrer Rolle in der Gesellschaft. Die aktuell ca. 3.300 Werke umfassende Sammlung der Stadt Graz/Kulturamt ist in diesem Zusammenhang keine Ausnahme.“ Die Frage, ob eine künstlerische Arbeit in die Sammlung aufgenommen wird, hängt seit ihrem Bestehen nicht ausschließlich von der künstlerischen Qualität der Arbeiten und ihrer Relevanz für das gegenwärtige Kunstgeschehen ab. Der Anspruch, Künstler*innen durch einen Ankauf zu unterstützen, ist einer der hier zum Tragen kommenden Faktoren.

Um einen Einblick in dieses „wilde“ Archiv zu geben, wurden mit Abriss erstmalig auserlesene Werke an fünf ebenso auserlesenen Standorten im 3. Bezirk Graz-Geidorf, in dem der Künstler aufgewachsen und noch heute zeitweise wohnhaft ist, installiert. Dank den Familien Astner, Barsuglia, Lahousen-Luxenberger, Roth und Strobl-Presinger konnten die Arbeiten in privaten, für die Ausstellung jedoch halböffentlichen Räumen auf Zeit präsentiert werden. Die Sammlung hat (noch) keine ihr zugewiesene Galerie, lediglich ein Depot dient ihr als Heimstätte. Das macht ein Experimentieren mit verschiedenen Formaten und variablen Ausstellungskontexten möglich und bietet Freiraum für ungewöhnliche kuratorische Positionen und das Erproben neuer Vermittlungskonzepte. Abriss nutzte gänzlich unterschiedliche Orte wie beispielsweise für diesen Zweck adaptierte Garagen, einen Gartenpavillon und einen Swimmingpool sowie eine dafür angefertigte Holzbox in der Größe einer Telefonzelle, die als Display neben einem der Wohnhäuser installiert wurde.

Ausgestattet mit einer Karte, in der die einzelnen Standorte der Ausstellung markiert sind – BLASENKOPF (Johann-Fux-Gasse), HIER (Liebiggasse), TEXiT (Auersperggasse), L (Jakob-Dirnböck-Gasse), ZAUN (Schanzelgasse) – nahm ein interessiertes Publikum teil an dieser „Entdeckungsreise“ und erkundete gleichzeitig auch Graz entlang der präsentierten zwei- und dreidimensionalen Objekte. Die Besucher*innen wurden mit einer „Goldenen Kunstnadel“, einer von Barsuglia handgefertigten Anstecknadel, belohnt, sofern sie alle fünf Stationen selbstständig ausfindig machen konnten. Von Barsuglias Memories of Iridescent Bubbles (2014), das die Mutter des Künstlers zeigt und mit einem Zitat aus dem Text Walden or Life in the Woods (1854) von Henry David Thoreau versehen ist, über Petra Maitz’ Staatsqualle (2009), Nana Mandls wallpaper (2017) und 08 (2013) von Constantin Luser bis zu alles in Ordnung, nothing (undatiert) von Franz Pichler reicht die Palette der gezeigten Werke. Dabei war Abriss (nur) eine von vielen möglichen Erzählungen (aus) der Sammlung, bei der es auch und vor allem um Raum geht, inhaltlich und formal. Bewegungen, Standpunkte, (Neben-)Schauplätze und die Idee eines offenen Studios wirken hier maßgeblich. Insbesondere Dialoge und neue Beziehungen zwischen den Orten und der Kunst, den Kunstwerken untereinander und schließlich zwischen der Kunst, der Stadt und deren Bewohner*innen waren von Interesse, sowie (noch) heute relevante Themenstellungen einzelner künstlerischer Positionen, Mehrsprachigkeit und Interpretationsspielräume.

Neben den samstäglichen Führungen mit den Projektverantwortlichen waren auch zwei Sonderführungen Teil des Programms: Am 4. September verortete Helwig Brunner (ÖKOTEAM Graz) das Projekt in den (Vor-)Gärten, während Karin Derler (Bundesdenkmalamt Graz) das Vermittlungsangebot am 25. September um die Bauten und die Geschichte des Viertels sowie um Fragen des Denkmalschutzes erweiterte und den Veranstaltungskalender damit vervollständigte.

Eine Kunstsammlung macht noch kein Museum im engeren Sinne, aber sehr wohl eines im weiteren. So agierte Abriss gemäß geltender Museumsaufgaben, wozu neben dem Sammeln, Bewahren und Forschen, die öffentliche Wahrnehmung der Sammlung zählt. Objekte werden in (immer wieder) neuen thematischen Zusammenhängen präsentiert, Bildung und Vermittlung als elementare Bestandteile der Arbeit im Museum ausgewiesen. Der fehlende der Kunstsammlung der Stadt Graz explizit zugewiesene Galerieraum stellt gleichzeitig die Frage, ob es weiterhin Orte des Sammelns und Ausstellens geben soll oder Allianzen mit der weiteren Gesellschaft nicht zielführender wären? Weil es gewiss darum geht, mehr zu sein als die Summe von Ausstellungen und zugleich Sammlungen eine nachhaltige Zukunft zu sichern, ist es erforderlich, neue öffentliche Formate einzuführen, wie es den Projektverantwortlichen mit Abriss bereits gelungen ist. Dabei wesentlich war/ist/bleibt, die Kunstsammlung mit der sie umgebenden kulturellen Landschaft in Dialog zu bringen, für das Archiv zu sensibilisieren, an der Wahrnehmung und Etablierung der Stadt (Graz) als Kunstraum respektive Museum mitzuwirken und diesen aus (immer wieder) anderen Perspektiven ins Blickfeld zu rücken. Unabhängig von einer institutionellen Programmierung und ohne den Einschränkungen, die mit einer konkreten musealen Verortung (zeitlicher und räumlicher Gebundenheit) einhergehen, kann sich die Sammlung öffnen, offen zeigen, kommunizieren, sich organisch und dynamisch bewegen, hybride Formen annehmen, diverse Blickwinkel und eine Vielzahl kuratorischer, künstlerischer, interaktiver und partizipativer Methoden zur Anwendung bringen – und damit gleichzeitig an vorhandene Traditionen anknüpfen, um die Sammlung von innen nach außen zu stülpen (real und virtuell) und verdeutlichen, dass die Rolle einer öffentlichen Sammlung sich nicht auf die architektonischen Grenzen eines Gebäudes bzw. Depots beschränken muss, sondern auf dieselbe Weise wahrgenommen werden kann wie der öffentliche Raum erfahren oder wie einer Gemeinschaft über die kollektive visuelle Erinnerung Form gegeben wird. (1)

Für Abriss schnitt Alfredo Barsuglia eine neue Tür in einen Zaun und schuf damit einen ungewöhnlichen Zugang zu den im ausgelassenen Swimmingpool dahinter „schwebenden“ Kunstwerken (siehe Schanzelgasse). Drei Grafiken und zwei Fotografien wurden für diesen Ort ausgesucht, trotz ihrer Unterschiedlichkeit einheitlich gerahmt und ohne Zwischenraum aneinandergefügt. Die Motive der Werkauswahl scheinen auf die Sphäre des Privaten zwischen familiärer Nähe und Geborgenheit, Abgrenzung und Gefangensein (in sozialen Ordnungen) Bezug zu nehmen. „Die Gartentür in der Thujenhecke, die das gesichtslose Einfamilienhaus von der Umwelt abschottet, ist kaum mehr zu sehen und könnte genauso auf ihre Befreiung warten, wie das kleine Beiboot auf neue Segelabenteuer“, erklären die Kurator*innen. Gegenstand des Interesses (Ingeborg Strobl, 1984) sind Objekte, Installationen, Collagen, Malereien und Fotografien, deren Motive als Spiegelbilder des Gesellschaftlichen eine zentrale Position einnehmen. Hier zeigt sich auch eine Vorliebe für das Randständige, Verborgene, das allzu leicht Übersehene oder Verdrängte.

Indem sich Abriss um die Zukunft der Kunstsammlung sorgt, sorgt sich das Vorhaben auch um deren Vergangenheit, denn wie Jacques Derrida schreibt, „it is the future that is at issue here, and the archive as an irreducible experience of the future". (2) Mit der Idee eines Museums als solches verbunden, verschließt sich die Kunstsammlung keinem Medium, keiner Kunstform, keiner Gattung, keinem Stil – betreibt/ist ein Archiv und damit Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft. „Für das Labyrinth der Vergangenheit legt es einen Ariadnefaden aus, für die Unübersichtlichkeit der Gegenwart flaggt es Positionsbestimmungen. Es legt einen Kurs fest, es zeigt Entwicklungen, Diachronien, Genealogien und Chronologien.“ (3) Indem es einen Kurs festlegt, bereitet die Kunstsammlung der Stadt Graz einen Diskurs auf, öffnet Grenzen und Horizonte. Durch das Archiv, durch die Arbeit am kulturellen Gedächtnis, leistet sie Übersetzungen von Generationen zu Generationen, von Kulturen zu Kulturen.

Einen Denkanstoß könnten auch folgende noch unbeantwortete Fragestellungen leisten, die im Rahmen eines Symposiums in der Kunsthalle Mannheim 2018 zur Diskussion gestellt wurden (4): Welchen Ort braucht ein (Kunst-)Museum in der Zukunft? Wie kann die Praxis des Sammelns und Ausstellens zwischen globalem Horizont und Ortsspezifik entwickelt werden? Für wen stellen wir aus und wie nutzen wir digitale Strategien für das Museum der Zukunft inhaltlich? Wie könnte, wie sollte ein „Museum der Zukunft“ aussehen? Weiter gedacht: Wo liegen die vorhandenen Potenziale der Kunstsammlung der Stadt Graz? Welche Bedeutungen sind ihr eingeschrieben? Welche Rolle(n) könnte, welche Rolle(n) sollte die Kunstsammlung der Stadt Graz noch in der Kulturlandschaft spielen? Welche Formen könnte, welche Formate und Formulierungen sollten dafür entwickelt werden? Und schließlich: Welche Fragen lassen sich noch davon ableiten, welche noch darauf anwenden?

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(1) Peter Weibel, Das Museum im Zeitalter von Web 2.0, Essay 2007
(2) Jacques Derrida, Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics 25, Nr. 2, 1995
(3) Weibel 2007
(4) Das Museum der Zukunft. Bauen. Kuratieren. Teilen, Symposium, 21.–22.6.2018, Kunsthalle Mannheim

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