28/09/2021

zeitenweise – 11

Ein Schub im Politischen

Wolfgang Oeggl zur Graz-Wahl am 26. September 2021

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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28/09/2021
©: Severin Hirsch

Es geschehen doch noch Wunder in dieser Stadt. Und wenn es sich dabei ausnahmsweise um kein blaues handelt, können wir davon ausgehen, dass möglicherweise gerade so etwas wie ein Umdenken, eine Bewusstseinsveränderung stattfindet. Nach 18 Jahren unumstrittener und uneingeschränkter Hegemonialherrschaft löst sich die Grazer Wählerschaft wie aus heiterem Himmel von ihrem Bürgermeister und setzt damit ein klares Zeichen für einen Geisteswandel. Etwas Unglaubliches ist geschehen, an jeder Ecke wird getuschelt und ich kann mir nur schwer ein Lächeln verkneifen. Das Ergebnis der Gemeinderatswahl ist nicht nur ein Zugeständnis an eine linke(re) Politik mit menschlichem Antlitz und menschlicher Anteilnahme, es ist vor allem die Abwahl einer Form von Politik, die global immer autoritärere Züge annimmt und sich keineswegs um die individuellen Bedürfnisse und existentiellen Ängste der unteren Schichten sorgt, maximal formal, wenn es um ihre Stimmen geht. Irgendwann rächt sich die Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit, irgendwann wird es augenscheinlich, wenn nur in die eigenen Taschen gewirtschaftet wird und dazwischen megalomanische (Bau-)Projekte angepriesen werden, die einzig und allein den Zweck der Selbstbeweihräucherung erfüllen. Dieser unaufhörliche Wunsch, sich selbst ein Denkmal zu setzen, hat letztendlich dazu geführt, dass sich das lebendige Denkmal Nagl selbst demontiert und zu Fall gebracht hat wie es nach der Wende mit all den Lenin- und Stalinstatuen der Fall war – ein denkwürdiger, aber kein würdiger Abtritt, ein harter Fall auf den Boden einer Realität, die erst im Werden begriffen ist.
Etwas hat sich verändert, nicht schlagartig, nicht über Nacht, sondern ist schleichend und unbemerkt in das Bewusstsein der Menschen gelangt. Keine polternde Revolution, keine politischen Fehltritte haben den Umschwung gebracht, sondern ein Keim im Gedankengut hat zu treiben begonnen und die ersten Auswüchse nehmen langsam Gestalt an. Vielleicht hat die schon lange anhaltende Coronakrise durchaus auch gute Seiten, die guten Seiten im Menschen hervorgekehrt, aber nicht mit der Geschwindigkeit und Vehemenz wie vielerorts erhofft, sondern leise und unaufgeregt ihre Triebe entwickelt. Ich spreche hier nicht von der Entwicklung linken Gedankenguts innerhalb der Menschen, sondern viel Grundlegenderem wie Empathie, Solidarität und Rücksichtsnahme.
Die Einsicht, dass das Leben an einem seidenen Faden hängt, zerbrechlich und unsicher ist, die Selbstverständlichkeiten und Routinen des Alltags jederzeit dem Verschwinden anheimfallen können, wenn wir nichts für unsere Freiheit tun, rückt den/die Andere/n als Andersheit, als das Fremde, Unbekannte schlechthin, ins Zentrum der Handlung. Und jede Handlung als Veräußerung, als Äußerung zum Anderen hin ist zugleich eine politische Geste. Diese Zunahme an Sensibilität gegenüber anderen, die durch die Krise für verantwortungsvolle Menschen zu einem Handlungsleitsatz geworden ist, wird durch canophile und misanthrope Wahlplakate schwer unter Beschuss genommen.
In einer Zeit, in der die Aufgabe der Politik sein sollte, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, um diese Krise zu überwinden, auf Ausgrenzung und Diskriminierung zu setzen, ist ein Affront jenen gegenüber, die eine gesellschaftsverantwortliche Lektion gelernt haben. Die zu befürchtende gesellschaftliche Spaltung durch die Coronakrise ist demnach keine politische, sondern offenbart sich im individuellen Handlungsvorgehen – bezieht die Handlung den Anderen mit ein oder ist sie ausschließlich selbstbezogen und fußt auf Eigeninteressen und der Bewahrung irgendeiner eigens definierten Tradition und der Vermehrung von Besitz.
Die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in Graz zeigt jedenfalls, dass sich die Tendenz in Richtung einer menschennahen, solidarischen, umweltbewussten und zukunftsorientierten Politik verstärkt. Die Sorge um die Zukunft als Zukunft eines gemeinsamen, lebenswerten Planeten ist in Zeiten von Corona gewachsen und der Lobbyismus und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft, das Handeln aus Eigeninteressen und die Bereicherung von Eliten sind nicht unbemerkt geblieben. Die schönen Worte waren nur leere Hülsen, auf die keine Taten folgten.
Die Wahl hat offensichtlich gemacht, dass die Bevölkerung eine politische Veränderung will oder ohnehin schon zu frustriert und politikverdrossen ist, überhaupt erst den Weg zur Wahlurne anzutreten. Jetzt gilt es auch für die Parteien, den Menschen diesen Wunsch zu erfüllen und das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Die Wahlgewinner und –gewinnerinnen werden unter Beweis stellen müssen, dass der Veränderungswille auch ihrer ist, dass sie imstande sind, Handlungen für die Menschen zu setzen, die nicht nur ihre eigenen Interessen vertreten, sondern die ihrer Wählerschaft und vor allem die der und ihrer Nichtwählerschaft. Dabei wird es vor allem wichtig, die (vor allem in linken Kreisen altbekannten) eigenen intellektuellen und ideologischen Eitelkeiten aus dem Weg zu räumen, eine gemeinsame Sprache zu finden, sich in gemeinsamen Zielen zu vereinen und sich nicht aufgrund verschiedener Interessen aufzuspalten. Nach 18 Jahren öffnet sich in Graz ein Fenster, das neue Perspektiven schaffen könnte, die Möglichkeit einer Veränderung, eine Öffnung der Gesellschaft, ein Wandel im Geist, der sich den gesellschaftlichen und ökologisch-ökonomischen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpasst, der uns die Sorge um eine gemeinsame Zukunft nimmt, sich in Offenheit gegenüber Andersdenkenden und Außenstehenden übt und diese in das Denken miteinbezieht. Die Handlung ist als Eröffnung des Raumes, als Geste der Veräußerung immer politisch. Jede Handlung greift in ein Außen ein. Jeder Mensch ist politisch. Wir haben eine Chance auf einen Neuanfang, ohne dabei auf unsere Geschichte(n) zu vergessen. Es geht nicht um Ideologien, es geht um eine gemeinsame, langsame, unaufgeregte Umstrukturierung ohne ideologische Zuschreibungen. Es geht um die Dekonstruktion einer Stadtpolitik.

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