09/06/2021

... und nach Corona? (2)

Covid 19 hat für viele manches, für einige gar nichts oder alles verändert. Welche pandemie-bedingten Entwicklungen zeichnen sich in Architektur und Städtebau ab? Dazu führte Sigrid Verhovsek Gespräche mit unterschiedlichen Personen.

Gespräch 2 mit
Peter Reitmayr
Architekt:

"... In den Lockdowns wurde uns bewusst, dass der private Bereich den öffentlichen nicht ersetzen kann.
Da wird in der Einschränkung offenbar, was man vorher als selbstverständlich hingenom-men hat. So charmant der eigene Balkon zuhause auch sein mag: Erstens verfügen viele gar nicht über so einen Freiraum, einen Garten und eine Riesenterrasse, und zweitens sind wir Herdentiere.
"

.

 

09/06/2021
©: Sanela Pansinger

Gespräch mit Peter Reitmayr

Wie ist es Dir in der Corona-Zeit ergangen?
Im Grunde kann man so etwas sicher erst im Nachhinein beurteilen: Wenn man mittendrinnen ist, ist es schwierig, eine Diagnose abzugeben. Es wird mir vermutlich als Zeit des überbordenden Arbeitens in Erinnerung bleiben, und diesen Freiheitsverlust, den alle so beklagen, werde ich so nicht in Erinnerung haben, weil im Büro zu sitzen unter keinen Umständen viel Freiheit abbildet.

Angeblich empfinden Menschen, die sich schon vor der Pandemie stark eingeschränkt oder eingezwängt gefühlt haben, diesen pandemiebedingten sogenannten „Freiheitsentzug“ viel einschneidender als andere?
Naja, es gibt so etwas wie Grenzen der äußeren Freiheit, dort, wo man in einem restriktiven System ist, wo man vieles nicht darf, und wo man Angst haben muss davor, vom System im Lebensvollzug deutlich eingeschränkt zu werden. Wir waren z.B. in Ostberlin und haben am Alexanderplatz Frisbee gespielt. Für uns eine banale Übertretung einer Verordnung, eine kleine Freiheit, die man sich nimmt und für die man nicht gleich bestraft wird. Für die Ostberliner Behörden, mit denen wir dann zu tun hatten, war das eine Systemkritik – etwas, was nicht geduldet werden kann.
In vielen Staaten darf man nicht die Schule besuchen, die man will, den Beruf ergreifen, den man will, die Frau heiraten, die man will, – das sind äußere Freiheiten, die das Leben stark einschränken, wenn man sie nicht hat. Freiheit ist aber in erster Linie eine Idee, die nicht gleich durch ein paar Verordnungen einer liberalen Demokratie erlischt. Eine Maske aufzusetzen ist eine eher geringe Form des Freiheitsentzugs, deshalb wird man ja nicht wirklich unfrei. Das zeigt, dass wir so viele Freiheitsmöglichkeiten haben, dass wir uns selbst von Kleinigkeiten schon bedroht fühlen. Wenn man nachsieht, wie viele liberale Demokratien es wirklich gibt auf der Welt – das sind wenige, die kann man vielleicht an zwei Händen abzählen. In Anbetracht der Situation, dass in anderen Ländern Flugzeuge vom Himmel geholt werden können, um Oppositionelle zu verhaften und zu foltern, ist der Zwang, eine Maske aufzusetzen oder ein paar Wochen kein Gasthaus zu besuchen, eher unbedeutend.

Wird sich die derzeitige Krise auf Architektur und Städtebau auswirken?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich da eine Prognose abgeben kann. Architekten können überhaupt nichts prognostizieren, die meisten Architekten haben es am liebsten, wenn sie einer feste Vorstellung folgen können – wenn der Auftraggeber ihnen sagt, welche Art von Gebäude sie entwickeln sollen. Architektur ist keine Zunft, in der man weit über die Zukunft voraus denkt, was sehr schade ist: Im Grunde sollte es die Aufgabe sein, eine Vision zu entwickeln, wie wir denn zusammenleben wollen. Architekten beantworten, wenn überhaupt, eher nur WIE-Fragen, aber keine WARUM-Fragen. Sie sind in dieser ständigen Zeitnot, wo es nur mehr darum geht, schneller ans Ziel zu kommen. Die Frage nach der Qualität des Ziels rückt dann natürlich aus dem Blickfeld. Ich glaube, das ist vielleicht ein Bildungsdefizit. Auch Hochschule oder Universität vollziehen nur mehr das Machbare, lehren nur mehr das Handwerk, machen Berufsausbildung.
Aber zu Corona: Ich weiß gar nicht, ob das jetzt überhaupt so ein Einschnitt ist – ich kann mich an viele Krisen zurückerinnern. Die erste war dieser Öl-Schock in den 1970er Jahren, den ich als Schüler miterlebt hatte. Seither gab es eine ganze Reihe an so genannten Katastrophen – politische, ökonomische oder die Gesundheit betreffende, und wenn man sich überlegt, was von all diesen in der Thematik unterschiedlichen Krisen zurückbleibt...?
Viele können sich auch an die erste HIV-Zeit zurückerinnern, die durchaus bedrohlich war, weil diese Infektion war auch etwas Nicht-Sichtbares. Ich denke, dass die aktuelle Pandemie letztlich ein ganz kurzes Phänomen sein könnte, das gleich wieder vergessen oder abgelöst wird, durch die nächste Umweltkatastrophe oder durch die nächste ökonomische Katastrophe. Ich denke nicht, dass diese Krise eine längerfristige Wirkung auf uns haben wird. Was mir schon auffällt, ist, es wird alles immer schneller getaktet: Die Krise gehört mittlerweile im Grunde zum Alltag der globalisierten Welt. Sie ist Teil unseres Weltbildes geworden. Es gibt ein enges Aufeinanderfolgen von Katastrophe und Erholung, oder von Vernichtung und Wiederaufbau...
Man kann erwarten, dass uns schon in absehbarer Zeit die nächste Krise trifft.

Bitte nicht?!
Das ist ja nicht so etwas wie Schicksal, das individuell zuschlägt, sondern ich glaube, das ist eine Systemerscheinung unseres engen Zusammenlebens auf diesem globalisierten Planeten. Das, was die Chaostheorie vor 30, 40 Jahren gesagt hat, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings sich am anderen Ende der Welt auswirkt, ist doch mehr als wahr geworden.
Damals hatte man mit dem gar nicht viel anfangen können, aber mittlerweile gehört es zum Alltag. Wenn irgendwo im Suezkanal ein Schiff steckenbleibt, gerät die Taktung der Ökonomie aus dem Ruder.

Wie ein Dominosystem?
Ja, wie ein sehr ausgereiztes, räumliches Domino, und jeder umfallende Stein bringt das Gesamtsystem zumindest vordergründig in Schwierigkeiten – ob es wirklich in Schwierigkeiten ist, da bin ich mir nicht ganz so sicher, weil das System vielleicht sogar darauf beruht, dass es diese Krisen gibt.

Du meinst, das System stützt sich auf diese Unsicherheit?
Entweder werden Krisen einfach in Kauf genommen, und es wird wieder investiert, um das kapitalistische System fortzuführen und aufrechtzuerhalten, oder das System beruht darauf, dass es sowieso den Einbruch geben muss, das kann ich nicht beurteilen. Krisen scheinen mir jedoch zum Alltag zu gehören. Darauf sollten wir uns einrichten.

Und auch, dass sie immer schneller aufeinander folgen werden?
Wir wissen nicht, ob diese Beschleunigung wirklich stattfindet, aber wenn man das mit anderen Diskursen vergleicht, zum Beispiel mit der Umverteilung des Vermögens oder der Demokratisierung der Welt: Die laufen jetzt sehr langsam, viel langsamer, als sie schon gelaufen sind, oder sind einfach stecken-geblieben, während andere – vor allem ökonomische Prozesse – jetzt wesentlich schneller abzulaufen scheinen.
Wir werden ja auch ganz unrund, wenn etwas nicht sofort passiert: Wenn irgendwo etwas ausgeht im Supermarkt, ist das schon eine Katastrophe. Oder eine Verzögerung im Baugeschehen aufgrund fehlender Materialressourcen, das bringt uns gleich aus der Ruhe und aus dem Takt. Man kann nicht innehalten und einfach warten, einen Monat oder zwei, dann würde sich so eine Mangelsituation ja von selbst wieder regeln. Das war – bilde ich mir ein – am Anfang meiner Architektenlaufbahn kein so großes Problem. Man hat dann einfach abgewartet. Heute scheint die Welt unterzugehen, wenn man wartet.

Hattest Du in letzter Zeit Situationen, die zum Warten genötigt haben?
Laufend, auch das gehört zum Alltag des Architekten, dass z.B. eine Platte nicht verfügbar ist: Vieles, was wir früher in Brettsperrholz gebaut haben, bauen wir jetzt wieder in beplankten Riegelwänden, weil es Brettsperrholz im Moment einfach kaum gibt, weil man es nicht kaufen kann. Es ist einfach ausgegangen. Auf jeden Fall zwingt es uns zu skurrilen Konstruktionen. Jetzt basteln wir wieder!  Es ist kurzfristig fast eine Umkehrung, weil das Material hatte extrem an Wert verloren im industriellen Prozess, während die Arbeitskraft sehr teuer geworden war. Wenn aber das Material aus ist, dann dreht sich der Prozess plötzlich um, und man muss wieder die Zeit finden, Sachen zusammenzu-schrauben. Der Arbeit kommt damit auch wieder mehr Bedeutung zu, wenn es ein fertiges industrielles Produkt nicht mehr zu kaufen gibt. Diese gegenläufigen Prozesse finde ich eigentlich ganz spannend. Das sind wir ja nicht mehr gewöhnt – wir haben volle Kataloge, da wählen wir aus und alles ist verfügbar, jederzeit. Und das bringt uns momentan schon ein wenig aus der Contenance.

Um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, muss man nun also wieder flexibler oder kreativer sein?
Ja, das sind Fragen, die wir aus unserem Teil der Welt kaum mehr kennen, da sind alle Fertigprodukte just in time verfügbar, während man woanders halt irgendein Material nehmen muss, das dort zur Verfügung steht. Da kann ich nicht einfach aus allen Materialien auswählen, sondern ich muss nehmen, was da ist, und aus der Verfügbarkeit heraus handeln.

Glaubst Du, dass das nach dieser Krise wieder schnell vergessen sein wird? Oder besteht dieses Problem der Baustoff- oder Ressourcenknappheit an sich schon länger, und ist jetzt nur offensichtlich geworden?
Ich glaube, dass das auf uns nur einen kurzzeitigen Effekt haben wird, und dass wir sofort wieder in gewohnte Muster zurückfallen werden. Beim Material verhalten wir uns wie beim Gebrauch von Strom, der aus der Steckdose kommt: Wir haben den Bezug zur Herstellung, zu den Ressourcen längst verloren. Wir reden zwar alle von Nachhaltigkeit, aber wir verhalten uns überhaupt nicht danach. Nachhaltigkeit müsste nicht nur bei der Anwendung hinterfragt werden, sondern vor allem in der Produktherstellung. Da machen wir uns zu wenige Gedanken. Ob der Zement aus China kommt, ist am Bau vollkommen egal. Wir brauchen ihn nur möglichst schnell, damit wir dieses Instant-Produkt gleich herstellen können. Also, da ist die Architekturproduktion mindestens auf einem Auge blind!
Und wir kommen mit dem Planen und Bauen ja eh schon nicht nach. Über alle diese Fragen müsste man grundlegend nachdenken und sie nicht nur auf einen Primärenergie-Reduktions-Diskurs verkürzen. Meistens geht es nur darum, dass Heiz- oder Kühlenergie eingespart wird, und nicht, dass es irgendwelche Kreislaufprozesse gibt. Das ist bis jetzt nur ein Rand-Thema, obwohl ja auch die Entsorgung immer teurer wird. Aber Leuchten, die noch funktionieren, können meistens nicht weiterverwendet werden, weil das Putzen der Leuchte mehr kostet als das Kaufen und Aufhängen einer neuen. Es ist praktisch unmöglich, eine funktionierende Leuchte wiederzuverwenden, oder besser gesagt, es ist unwirtschaftlich. Eine neue Leuchte kommt billiger. Da von Nachhaltigkeit zu sprechen, ist doch absurd!

Das ist dasselbe, wie der Umstand, dass der neue Drucker mit Patronen gleich viel kostet wie die Patronen einzeln?
Ja, das ist ein perfektes Beispiel: Mein Steuerberater glaubte neulich, ich hätte einen neuen Drucker gekauft und nicht nur Toner für den Drucker! Die Kosten der Summe der Teile eines Produkts stehen in einem Missverhältnis zu den Anschaffungskosten. Das befeuert die Neuanschaffung. Auch einen Heizkörper abzumontieren, zu reinigen und neu zu lackieren, kostet mehr, als einen neuen aufzuhängen! Viele Dinge, die noch durchaus brauchbar wären, müssen aus ökonomischen Gründen einfach entsorgt werden, obwohl sie gar nicht repariert, sondern nur gereinigt werden müssten. Das Problem zieht sich materiell quer durch jeden Umbau. Es gibt ein krasses Missverhältnis zwischen Arbeits- und Materialkosten. Die handwerkliche Arbeit ist immer schwerer in den Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess zu integrieren.

Aber bei neuen Produkten wird versprochen, dass sie viel leistungsfähiger und energiesparender sind?
Ja, und dass sie sehr lange halten: So wie die LED-Leuchte, die theoretisch 50 Jahre gebrauchsfähig ist, aber zuhause habe ich schon eine ganze Menge davon getauscht. Die haben manchmal weniger lange gehalten wie eine normale Glühbirne, kosten aber ein Vielfaches! Diese Behauptung der Langlebigkeit scheint teilweise absurd. Es ist eine Art Umkehrung der Ideologie der Industrieproduktion und folgt scheinbar einer anderen Logik als die Wegwerfgesellschaft, die ja vom möglichst schnellen Wechsel der Produkte lebt!

Hast Du das Gefühl gehabt, dass die Menschen die öffentlichen Räume der Stadt in den Lockdowns anders wahrgenommen haben?
Warum sollte man etwas anders wahrnehmen? Man bemerkt vielleicht andere Phänomene: Die leere Autobahn oder die entleerte Stadt im ersten Lockdown waren für viele sicher ein interessantes Phänomen! Und: Es wurde uns bewusst, dass der private Bereich den öffentlichen nicht ersetzen kann. Da wird in der Einschränkung offenbar, was man vorher als selbstverständlich hingenommen hat. So charmant der eigene Balkon zuhause auch sein mag: Erstens verfügen viele gar nicht über so einen Freiraum, einen Garten und eine Riesenterrasse, und zweitens sind wir Herdentiere. Wir brauchen uns körperlich, die Anwesenheit des Körpers, die Physis, nicht nur Images, das ist vielen wieder klargeworden. Aber Architektur und Städtebau sind sehr träge. Sie können durch so kurzzeitige Phänomene schwer beeinflusst werden. Es gibt schon diese schnelleren Entwicklungen, wo man das Gefühl hat, die Geschichte springt, aber wenn man zurücksieht, sind das auch meistens Dekaden gewesen – ein Jahr verändert da nicht viel.

So wie der Trend zum Homeoffice schon vorher da war, aber erst die Lockdowns haben dann gezeigt, dass es real durchführbar ist....
Das ist eigentlich ein Phänomen, von dem wir gehofft hatten, es überwunden zu haben. Vor allem für Frauen war es ja eine lange Entwicklung, von der Arbeit zuhause wegzukommen. Aber auch für die Bauern, die keine geregelte Arbeitszeit und damit auch keine Freizeit hatten. In der Moderne gilt, man ist dann modern, wenn man berufstätig ist, und die Freiheit hat, das Haus – als Sinnbild und Ort des Patriarchats und der eingeschränkten Freiheit – verlassen zu können! Hausarbeit ist ja ab einem gewissen Zeitpunkt des Diskurses als unbezahlte Zwangsarbeit und Fesselung an einen Ort empfunden wurden. Die Modernität besteht darin, einen Beruf zu haben, der nicht mehr in der Abhängigkeit des Wohnorts liegt! So gesehen bedeutet das Homeoffice auch eine eigenartige Rückentwicklung.

Ratgeber raten ja dazu, vor dem Homeoffice einen 15min Spaziergang zu machen, um einen Ortswechsel zu simulieren?
Ja, man kann sich gerne selbst täuschen, wenn man möchte, aber man kehrt trotzdem nach dem Spazierengehen nachhause zurück. Andererseits ist es vielleicht ein logischer Schritt, weil ja auch die Büros immer mehr zu Pseudo-Wohnungen werden.

Mit Lounge und Tischtennistisch?
Eine Idee der Moderne war, aus der Wohnung, die vor allem für Frauen ja kein gutes Arbeitsumfeld war, aus dem Hausarbeits-, dem Kinder- und dem Altenversorgungsbetreib rauszukommen. Jetzt geht es aber wieder in die andere Richtung, und auch die Arbeit kehrt zurück: Kindererziehung, Haushalt, aber Beruf halt noch dazu! Tatsächlich war die Arbeit zu Hause wahrscheinlich nie weg, aber die Moderne hat es uns ideologisch vorgegaukelt: die Alten ins Altersheim, die Kinder in Kinderbetreuung und Schule, und die Hausarbeit an die Geräte delegieren. Dann wäre die Welt doch in Ordnung. Aber wie gesagt, das ist ein aufklärerischer Idealismus. Was nicht mehr möglich ist, und was wir anscheinend auch nicht mehr wollen, ist dieses Phantasma der Moderne: die analytische Trennung der Prozesse. Also muss das Wohnzimmer auch Büro sein können, und das Büro Wohnzimmer. Aber wenn das zurückkommt, kommen auch die Schwierigkeiten, kommt die Komplexität zurück, die für manche eine große psychische Belastung ist.

Verlagert sich dann alternativ die Politik ins homeoffice?
Die klassische Politik nicht, aber eine neue Art von Politik wahrscheinlich schon. Diese ganzen Influencer-Geschichten, diese Beeinflussungsmedien haben ja schon einen großen Effekt auf unsere Meinungen. Aber wir sind körperhafte Wesen, und da gibt es eine Grenze: Wenn es eine Rebellion oder eine Revolution geben sollte, startet sie vielleicht im Netz, aber dann geht sie auf die Straße, wird körperlich. Die digitalen Möglichkeiten haben Grenzen. Und im Endeffekt wollen wir ja auch einen realen Bundeskanzler, und nicht eine Siri haben, die den Staat verwaltet. Wir haben ein Vertrauensproblem gegen nicht Körperhaftes, gegen Maschinen oder Systeme, denen wir kein Bewusstsein zuschreiben. Vielleicht gibt es dann doch eine Rückbesinnung auf den öffentlichen Raum, das, was die Architekten sich immer so wünschen. Mir ist nicht ganz klar, aus welchen Gründen sie sich das wünschen. Ob es wirklich dieses politische Element ist, das die Philosophen betonen, dass die Politik im Grunde auf der Agora gemacht wird, oder ob es einfach diese Abscheu vor dem bürgerlichen Heim ist, dem man entflieht, wenn man rausgeht...

Im ersten Lockdown waren die Straßen leer, es war leise, es hat anders gerochen: eigentlich angenehm. Man würde denken, da müsste doch eigentlich etwas bleiben? Aber in den letzten Lockdowns war alles wieder relativ normal, also haben wir nichts daraus gelernt.
Ich kann mich an ähnliche Phänomene erinnern, beim Jugoslawienkrieg gab es eine Zeitlang keine Schifffahrt. Der Fischbestand hat sich total erholt und es war überall leer, der Horizont war frei von Schiffen. Das haben viele als befreiend wahrgenommen. Aber zwei Jahre nach Kriegsende war der Effekt wieder weg, so als ob er nicht existiert hätte. Ich kann mich wie gesagt an viele Krisen erinnern, aber nicht in einer Nachhaltigkeit der Wirkung....
Aber das Innehalten ermöglicht zumindest einen neuen Ansatz. Generell sind wir ja sehr daran gewöhnt, uns ständig abzulenken. Die Workaholics, so wie ich, machen das im Beruf. Viele machen es in der Freizeitindustrie, im Sport, oder bei anderen Dingen. Die Ablenkung ist so präsent geworden, und wenn sie in irgendeiner Weise ausfällt, tritt etwas Anderes ein: Plötzlich ist Zeit, um innezuhalten und nachzudenken. Dann treten existenzielle Phänomene auf, und auch plötzliche Angstzustände, die sonst überlagert sind mit Geschäftigkeit.

Woher kommt diese Angst vor dem Nachdenken?
Ich denke von einer Seins-Wahrnehmung – am Ende des Gesprächs noch auf Heidegger zu kommen, ist vermutlich verheerend (lacht) – aber plötzlich kann man nicht mehr so sein, wie man so ist, denken, wie man so denkt, sich verhalten, wie man sich so verhält: Auf einmal ist so eine Art existenzieller Sand im Getriebe, der eine gewisse Nachdenklichkeit erzeugt. Plötzlich ist Pause, und die Ablenkungen fallen weg. So wird man richtig darauf gestoßen, darüber nachzudenken, was man denn so tut, die ganze Zeit. Da kann schon Angst aufkommen.

Danke für Deine Zeit, und für das Gespräch!

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+