03/05/2024

Am Samstag, dem 20. April wurde die diesjährige und damit 60. Kunstbiennale in Venedig eröffnet. Gezeigt werden in der Hauptausstellung unter dem Titel „Foreigners everywhere“ vor allem Kulturtransfers zwischen Nord und Süd, die aufgrund räumlicher Trennung der Menschen voneinander die verschiedenen Völker, Ethnizitäten und Nationen bedingen. Kuratiert von Adriano Pedrosa, Leiter des Museu de Arte São Paulo, finden sich Werke 331 Kunstschaffender aus 80 Ländern an „einem“ Ort versammelt – dem Zentralpavillon in den Giardini und den Hallen des Arsenale. Den Beginn macht jeweils ein Werk, das als Metapher für Reise und Migration steht.

03/05/2024

Cinthia Marcelle und Tiago Mata Machado, Acumulação Primitiva (2024) in der Ausstellung "Nebula", Fondazione In Between Art Film, Venedig. ©Lorenzo Palmieri

Nil Yalter Topak Ev, 1973, Metallstruktur, Filz, "Exile is a hard job", 1983-2024, courtesy La Biennale di Venezia

Installation view of Ao Finito (‘To Infinity’, 1994/2004) by Anna Maria Maiolino at the 2024 Venice Biennale. Photo: Marco Zorzanello; courtesy La Biennale di Venezia

Nil Yalter (geb. 1938 Kairo, Ägypten, lebt in Paris, Frankreich), Topak Ev, 1973, Metallstruktur, Filz, Schafsfell, Texte und Mischtechnik (250 × 300 cm); Exile is a hard job, 1983-2024, Videoinstallation (Maße variabel) – eine von zwei gezeigten künstlerischen Positionen, die mit dem Goldenen Löwe für das Lebenswerk in diesem Jahr ausgezeichnet wurde und das Thema Heimat verhandelt. 

Wir erinnern uns: Mitte der 1990er-Jahre ist ein Buch erschienen, das „Region. Heimaten der individualisierten Gesellschaft“ heißt. In diesem Buch gibt es eine immer noch sehr brauchbare, wenn auch etwas abstrakte Charakteristik dessen, was eine gebietsbezogene kollektive Identität ausmacht. Susanne Hauser bezieht sich dabei vor allem auf den Aufsatz von Reimer Brinkmann und Frank Seibel: Wer oder was macht Region? Überlegungen zur Möglichkeit regionaler Identität. (Herausgeber Heinz Schilling, Beatrice Bloch, Region: Heimaten der individualisierten Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, Bd. 50, S. 21-38.) 

Sie wird von beiden Autor*innen verstanden als Kommunikations- und Wahrnehmungsfeld, als Zusammenhang geteilter Gespräche und Praktiken. Eine lokal bezogene kollektive Identität ist eine „Diskursformation“, in der der Zusammenhang der einzelnen Bürgerinnen und Bürger immer wieder neu qua kollektivem Gespräch und in lokal üblichen und dort allgemein verbreiteten Praktiken hergestellt wird.

Bei der Begründung und dem Erhalt einer kollektiven Identität geht es nicht unbedingt und nicht primär um Wissen, das in rationaler Form oder in reflektierter Weise über einen Zusammenhang oder ein Ereignis vermittelt wird. Alexander Mitscherlich hat schon in den 1960er-Jahren darauf hingewiesen, dass die als nachdrücklich wichtig empfundenen Ereignisse und Erfahrungen, die einen Menschen, aber auch größere Gruppen identifizieren, diejenigen sind, denen ein großer emotionaler Wert beigemessen wird.(1) Bedingung der Existenz eines Zusammenhangs, den man als lokale Identität begreifen kann, sind also geteilte Gegebenheiten des Alltags, geteilte selbstverständliche Praktiken und emotionale Erfahrungen in einem als Bezugsrahmen dieser Erfahrungen erlebten Raum. Auch wenn sich lokale Identität erneuert und auch, wenn sie sich nur an wenigen Eigenschaften und kulturellen Mustern ausrichtet, bleibt sie ein Einschließungsmechanismus wie auch ein Ausschließungsmechanismus.

Hannah Arendt hat einmal argumentiert, dass die „Handgreiflichkeit des Dinghaften“, das Vorhandensein materieller Anhaltspunkte, eine notwendige Voraussetzung des Erinnerns sei.(2) Materielle Zerstörung von Dingen und Bauten ist dementsprechend Zerstörung von etwas, was das Gedächtnis und das Archiv ist und das Erinnern überhaupt erst ermöglicht. Begreift man Identität als Prozess, ist es möglich, sich selbst und die eigene Arbeit am gesellschaftlichen Gedächtnis und Erinnern auch unter den Bedingungen verlorener Bezüge zu relativieren und in einem historischen Horizont zu sehen, in dem auch die nächsten Generationen ihre, und zwar andere, mit anderen Gegenständen verbundene Identität ausbilden werden. Neue Zeichen besitzen allerdings oft keine traditionelle Bedeutung und sind gestalterische Referenzpunkte an Orten, die es mit Bedeutung neu zu besetzen gilt, materielle Angebote zum Erzählen neuer Geschichten, Anlässe zur Anknüpfung an eine offene Situation, Netze, in denen sich bestehende lokale Diskursformationen möglicherweise verfangen oder auch ändern können. Insofern sind diese Strukturen äußerst liberale Angebote zum Begreifen eines ohnehin neu gewordenen Raumes.(3)

Exkurs: hen kai pan, gr. ›eins und alles‹ (richtiger: hen to pan ›eins ist alles‹), antike Formel zur Bezeichnung des Weltalls, das sich aus Einem zu allem entfaltet und in das Eine wieder auflöst, zuerst bei Heraklit (Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker I, 22, B 10, 12 B, 10: ek pantôn hen kai ex henos panta ›Aus allem eins und Eins aus allem‹). Seit G.E. Lessing wird das h.k.p. gebraucht zur Bezeichnung des sogenannten Pantheismus.(4)

Es gibt also Länder ohne Ort und Geschichten ohne Chronologie, wie es Michel Foucault beschreibt. Es gibt Städte, Planeten, Kontinente, Universen, die man auf keiner Karte und auch nirgendwo am Himmel finden könnte, und zwar einfach deshalb, weil sie keinem Raum angehören. Diese Städte, Kontinente und Planeten sind natürlich, wie man so sagt, im Kopf des Menschen entstanden oder eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten, in den Tiefenschichten ihrer Erzählungen oder auch am ortlosen Ort ihrer Träume, in der Leere ihrer Herzen, kurz gesagt, in der Utopie. Wahrscheinlich schneidet jede menschliche Gruppe aus dem Raum, den sie besetzt hält, in dem sie wirklich lebt und arbeitet, utopische Orte aus und aus der Zeit, in der sie ihre Aktivitäten entwickelt, uchronische Augenblicke. Aber Foucault endet nicht bei den Utopien, also Dingen, die tatsächlich keinen Ort besitzen, sondern geht weiter zu den Heterotopien, die vollkommen anderen Räume. Er meint, die Gesellschaften nach jenen einteilen zu können, die sie bevorzugen und hervorbringen. Dabei könne jede Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte bereits geschaffene Heterotopien wieder auflösen und zum Verschwinden bringen oder neue schaffen. Und in aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind. Es gibt auch solche, die offen zu sein scheinen, aber zu denen nur bereits Eingeweihte Zutritt haben. Man glaubt Zugang zum Einfachsten und Offensten zu finden, doch in Wirklichkeit ist man mitten im Geheimnis.(5)

(Außer)visuell scheint das auch die Arbeit Acumulação Primitiva (2024) von Cinthia Marcelle und Tiago Mata Machado in „Nebula" (Fondazione In Between Art Film, Complesso dell'Ospedaletto, Venedig) darzustellen, wenn Raum zu sensorischer Architektur wird und – in einer von zahlreichen die Biennale begleitenden Ausstellungen – den narrativen Gehalt von Umgebung und (un)mögliche Wege der Navigation erforscht.

So wie die Adjektive „natürlich“ und „sozial“ Repräsentationen des Kollektivs bezeichnen, das nichts Natürliches oder Soziales an sich hat, liefern die Worte „lokal“ und „global“ Gesichtspunkte von Netzen, die von Natur aus weder lokal noch global sind; sie reichen bloß mehr oder weniger weit und sind mehr oder weniger verflochten. Der moderne Exotismus(6) besteht darin, diese beiden Gegensatzpaare für etwas zu halten, was unsere Welt definiert und uns von allen anderen absondert. So werden vier verschiedene Regionen geschaffen: Das Natürliche und das Soziale, das Lokale und das Globale. „Nun wissen wir aber nichts vom Sozialen, was nicht durch unser Wissen vom Natürlichen definiert wäre, und umgekehrt“, heißt es in Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt am Main 2008. „Ebenso definieren wir das Lokale nur durch Merkmale, die für uns mit dem Globalen vereinbar sind, und umgekehrt.“ Latour bezeichnet damit den Irrtum der modernen Welt, der in der Mitte nichts denkbar macht, weder Kollektiv noch Netz noch Vermittlung, wobei sich letzteres mittlerweile scheinbar aufzuweichen beginnt. Dennoch: „Alle begrifflichen Ressourcen häufen sich an den vier Extremen. Wir, die armen Subjekt-Objekte, die armseligen Gesellschaften-Naturen, die kleinen Lokalen-Globalen, sind im wahrsten Sinne des Wortes gevierteilt: aufgeteilt zwischen ontologischen Regionen, die sich wechselseitig definieren, aber nichts mehr mit unseren Praktiken zu tun haben.“ 

Mit dieser Vierteilung ließe sich die Tragödie des modernen Menschen entfalten, der sich für absolut und unwiderruflich verschieden von allen anderen Menschheiten und allen anderen Naturformen hält. „Diese Tragödie hat jedoch nichts Unvermeidliches. Man braucht nur daran zu denken, dass die vier Glieder Repräsentationen ohne direkte Beziehung zu den Kollektiven und Netzen sind, die dieser Vierteilung Sinn verleihen. Und an den äußersten Enden, wo für die Modernen der Ursprung aller Kräfte liegt – Natur und Gesellschaft, Universalität und Lokalität –, gibt es nichts, es sei denn die geläuterten Instanzen, die als konstitutionelle Garantien für das Ganze dienen.“(7)

Ao finito, 1994/2024, (Zum Unendlichen), aus der Serie Terra Modelada von Anna Maria Maiolino (geb. 1942 Scalea, Italien. Lebt in São Paulo, Brasilien), Installation mit 10 Tonnen geformtem Ton und Vegetation, und die zweite Position, die heuer mit dem Goldenen Löwen für das Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

 

  1. vgl. Hannah Arendt, Vita Aktiva oder vom tätigen Leben, München 1981, S. 87f. nach: „Susanne Hauser, Lokale Identitäten in der Region der Zukunft“, in: Raumwahrnehmung Reader, TU Graz, Institut für Raumgestaltung, 2006/07
  2. vgl. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frabkfurt am Main 1965, S. 129, nach: „Susanne Hauser, Lokale Identitäten in der Region der Zukunft“, in: Raumwahrnehmung Reader, TU Graz, Institut für Raumgestaltung, 2006/07
  3. vgl. Susanne Hausers Beitrag zum „Stadt 2030 – Zukunftsforum“ (2003) in Mühlheim an der Ruhr
  4. „hen kai pan“, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013, S. 286.
  5. Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2005, S. 9ff.
  6. u.a. eine bestimmte Form des eurozentristischen Blicks auf Fremde, die alleine deren „exotische“ und damit fremdartige Aspekte betrachtet (im 18. Jhdt. von lat. exōticus entlehnt, das auf gr. ἐξωτικός (exōtikos) „ausländisch, fremd“ zurückgeht, das wiederum von Griechisch ἔξω (exō) „außen“ abgeleitet ist)
  7. vgl. Bruno Latour, „Die Lust an der Marginalität“, in: Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt am Main 2008, S. 162f.
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