23/01/2024

Versuch eines Obduktionsberichtes

Die Postmoderne war nach zwei Weltkriegen und unsäglich grausamen Totalitärregimen eine kurze Periode menschlicher Hoffnung, die Strukturen metaphysischer Denksysteme, das Zentrum theoretischer Konstrukte zu entideologisieren, aufzulösen, zu zerschlagen, um wieder neuen Raum für eine neue Art des Denkens und Wissens, für neue gesellschaftliche Formen zu schaffen. Aber wie an den jüngsten Entwicklungen abzulesen ist, scheint der Keim nicht aufgegangen zu sein.

Zu Themen, die die Gesellschaft bewegen, erscheint die Kolumne jeden 4. Dienstag im Monat.

23/01/2024

magic persists with or without us

©: Severin Hirsch

„Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, daß sie der Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, dass die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion.“ (Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1994. S. 122.)

„Die traditionellen Werte und die traditionelle Art zu denken, sind nicht mehr gültig. Es gibt indessen noch keine neuen Werte und kein anderes Denken. Das Denken befindet sich in einem Zwischenstadium. Es ist nach etwas unterwegs, das es noch nicht kennt.“ (Heinz Kimmerle, Jacques Derrida zur Einführung, Dresden 2000. S. 24.)

In seinem 1979 erschienen Bericht La condition postmoderne (dt. Das postmoderne Wissen) schildert Lyotard das Ende der „großen Erzählungen“ und gibt die bis heute viel zitierte Kurzdefinition der Postmoderne: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ,Postmoderne’ bedeutet, daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ (Ebd. S. 14.) Der Begriff der Meta-Erzählungen bezieht sich auf philosophische Systeme, deren Zentrum ein spezifischer Begriff, eine Entität, eine Idee, ein Ideal darstellt (Gott, Subjekt, Vernunft, System, Struktur, …), und die in weiterer Folge starken Einfluss auf die Entwicklung von soziokulturellen Denkweisen und Wissenssystemen in allen gesellschaftsrelevanten Bereichen ausüben. Letztendlich galt das Entsagen, die Nichtanerkennung eines Zentrums der Öffnung hin zu einem Raum der Pluralitäten, der vielfältigen Ansätze und Ursprünge bei der Genese von (Denk-) Systemen. Doch einem Denksystem das Zentrum zu entziehen, heißt zugleich auch die Struktur zu zerstören, die auf diesem Zentrum aufbaut – nichts und niemand steht mehr alleine als Demiurg im Mittelpunkt. Der Verlust eines Zentrums – eine andere Bezeichnung für Ursprung – bedeutet auch Verlust von Identität, von Bedeutung, von Sinn als etwas Statischem und Bleibendem. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt, wie es ist. Es galt, die Welt nach den verheerenden Ausuferungen und Auswucherungen des Zweiten Weltkrieges, nach der Industrialisierung der Lebensvernichtung von allen ideologischen Denksystemen zu reinigen, zu entideologisieren, nachdem die Moderne in die grausamen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts mündete.

Ideologie wäre demnach jegliches Denken eines Zentrums, eines Ursprungs, einer Identität als Grundlage eines Systems und daher von vornherein verdächtig und abzuweisen. Bei Derrida, dem Vater der Dekonstruktion, dem Denker der différance als nicht-vollem, nicht-einfachem Ursprung der Differenzen (vgl. zeitenweise-14) ist die Urschrift als Umschreibung jeglicher Symbolisierungsfähigkeit und damit jeder Form von Kultur schlechthin Mutter des vielfältigen Ursprungs. „Urschrift wäre ein Name für diese Vielfältigkeit (complicité) der Ursprünge. Und was in ihr verlorengeht, ist der Mythos von der Einfältigkeit (simplicité) des Ursprungs.“ (Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt am Main 1974. S. 167.) Das bedeutet, dass es keinen Primat gibt, der in der Systementwicklung eine Vorrangstellung oder gar die Urheberschaft hat, sondern gleichwertige Vielfältigkeit, die schon am Ursprung wirkt. Die „ursprüngliche“ Differenz, die das Spiel der Differenzen vorantreibt, die différance, ist das Denken selbst, die Symbolisierungsfähigkeit, die die Lebenswelt als unmittelbaren Lebensraum der Welt der symbolischen Form, der Virtualität entreißt.

Nichts, was uns umgibt, ist „natürlich“, alles ist symbolische Form, gedankliches Konstrukt, ist Zeichen für etwas, distanzierte Repräsentation. Das Zeichen ist nicht Repräsentation eines „natürlichen“ Gegenstands, es repräsentiert keine abwesende Präsenz, sondern allenfalls sich selbst. Demzufolge ist jegliche Form von Kultur, von menschlichem Dasein ein Text, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ein Text-Äußeres gibt es nicht. „Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen." Es gibt keine Grenzen der differenziellen Verweisung einer Spur auf die andere. [...] Ich habe geglaubt, dass es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese strategische Verallgemeinerung des Begriffs des Textes durchzuführen, um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben, der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem Sinne. [...] Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differenziellen Verweisung.“ (Derrida zitiert in: Peter Engelmann, Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie. In: Peter Engelmann/Hg., Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1999. S. 5-32. S. 20 f.)

Ideologien (auch als philosophische Systeme, mit einem Zentrum, einem „Ursprung“, als Metaphysik) versuchen, Zeichen als „natürlich“ auszugeben, den Sinn, die Bedeutung in einem Außerhalb zu verorten, um auf diese Weise Hierarchien, Klassifizierungen, Ordnungen und Differenzen als natürlich (und/oder gottgegeben) erscheinen zu lassen.

Dabei lassen sie außer Acht, dass Differenzen als sprachliche Form im Denken und als Denkform in der Sprache, als kulturelles Verweissystem verankert und keineswegs „natürlich“ gegeben sind.

Immerhin hat das postmoderne Denken dazu beigetragen, den postkolonialen und den feministischen Diskurs neu zu eröffnen und zu transformieren und uns neben dem Gendern eine politisch korrekte Ausdrucksweise beigebracht. Soweit zu den „natürlichen“ Differenzen, von denen nicht nur der politische und ökonomische Diskurs lebt und die Machtstrukturen gefestigt werden.

Und was für die Sprache gilt – da sie ja nicht der Primat menschlicher Symbolisierungsformen ist –, kann selbstverständlich über alle kreativen, künstlerischen, wissenschaftlichen Ausdrucksformen gesagt werden und lässt sich auch leicht an der darstellenden und angewandten Kunst, der Literatur, der Architektur, usw. der postmodernen Ära ablesen, die alle nach neuen Wegen, Formen und Verweissystemen suchten und die vorherrschenden Meinungen des Machtdiskurses zu durchbrechen trachteten.

Als in den 60er und 70er Jahren neue theoretische und praktische Wege beschritten wurden, entstand für kurze Zeit ein Freiraum, ein Vakuum, in dem alles passieren konnte und alles denkbar Mögliche werden konnte – die große Freiheit, die Gegenwart und Zukunft mit dem eigenen kreativen Potenzial mitzugestalten und zu konstruieren. Die „natürlichen“ Gewissheiten wurden zerschlagen, dekonstruiert und die einzige Sicherheit war, dass es keine gab, dass die Fahrt ins Ungewisse führt. 

Bedeutung und Sinn entstehen und bestehen nur im Hier und Jetzt, in den gegenwärtigen Signifikantenketten und Verweissystemen. Alles andere ist Illusion, ist Konstruktion, ist Ideologie, die uns die Mächtigen für ihre Machterhaltung als die einzig mögliche Realität und Wahrheit verkaufen wollen. Doch in diesem endlosen, ausweglosen Verweissystem, diesem Text ohne Außen, in dem wir uns permanent erzeugen, hinterfragen und vernichten müssen, bedarf es großer Anstrengungen und Selbstreflexion, um nicht in den unendlichen Weiten der Signifikanten verloren zu gehen. Nur wenige kommen damit zurecht, sich permanent zu produzieren, zu evaluieren, zu reflektieren, zu konstruieren, zu destruieren, die Spur des Sinns, den Spürsinn zu verlieren und wiederzufinden, sich selbst zu verlieren und wiederzufinden und in ewiger Gefangenschaft in einem Leben in symbolischen Formen an die Signifikantenketten gelegt zu sein.

Da wird er auch schon wieder laut, der Ruf nach einem Entkommen, nach Gewissheiten und Sicherheit, nach ein bisschen Ideologie, nach einem starken Mann, der die große Erzählung des Außerhalb weiterführt, der den Worten ihre „natürliche“ Bedeutung einhaucht, der die „natürlichen“ Differenzen wiederauferstehen lässt und der Sinnsuche ein Ende setzt, um uns wieder auf die richtige Spur zu bringen.

In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen. Als Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen schlechthin, als Ursprung aller Wiederholung, als Ursprung der Idealität ist die Spur so wenig ideal wie reell, intelligibel wie sinnlich, und so wenig transparente Bedeutung wie opake Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben.“ (Derrida, Grammatologie. S. 114.)

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