22/08/2023

Die Kunst der Stunde

Der Augenblick, ein ausdehnungsloser und bodenloser Punkt zwischen Vergangenem und Kommendem, ist eine Utopie, eine Welt jenseits unseres Bewusstseins, in der die reine Sinnlichkeit waltet und Reflexionen und Vernunft keinen Raum lässt. Eine sinnentleerte Welt, so vollkommen in ihrer Schönheit und so reichhaltig an Sinneseindrücken, bleibt dem Denken, dem Verstand verschlossen. Die Liebe, der Tod und die Kunst haben die Kraft, die Welt des Rationalen aus den Angeln zu hebeln und ihren Finger in die Wunde der Menschheit, den Verlust des Paradieses, zu legen, um uns ein Gefühl für die Unendlichkeit zu vermitteln. 

22/08/2023

man braucht nur eine insel

©: Severin Hirsch

„Ich bin all diese Menschen gewesen. Ich bin derjenige, der sich in den Spiegeln entdeckt hat; ich bin […] der Zauberer gewesen; ich bin der Verrückte gewesen […]; ich bin der andere Liebhaber […] gewesen; und ich war auch der betrogene Liebhaber. Ich weiß nicht, was diejenigen wollten, die ich war; ich weiß nicht, welche anderen Menschen mich erwarten; ich weiß nicht, ob ich selbst, hier und jetzt […], nicht auch ein anderer bin.“ (Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Hugo Santiago, Die Anderen. Berlin 1987. S. 96f.)

„Aber vielleicht wäre es noch besser, wenn man, statt die vielen verschiedenen Bilder eines Menschen zu betrachten, mit ihm den Weg hinabstiege, der zur Liebe und zum Tod führt, zur Entdeckung und zum Verlust seiner selbst, zum Leben und zum Schweigen.“ (Alain Touraine, Die Anderen. In: Ebda. S. 123-126. S. 125.)

Ich mag es ja auch persönlich. Heute erlebe ich konstante Erfahrungen. Ich meine nicht: heutzutage. Eher heute, dieser Tage. Ich sitze, beschattet von Olivenbäumen, begleitet von der Monotonie, den Loops des Grillenzirpens, eingebettet in Sonnenblumenfelder, umgeben von Liebe, der liebenden, geliebten Frau, auf einer Veranda in der Toskana, der Duft des Meeres, unweit vor mir, weht als sanfte Sommerbrise vorüber, setzt sich feinkristallin in der Nase fest, lässt mich atmen, aufatmen, die strahlende Sonne brennt sich in ihrer ganzen Intensität wie durch ein Lupenglas gleich einem unaufhaltsamen, unaufhörlichen Gedanken in den trockenen Boden ein. Pure strahlende Schönheit, die sich auch mit geschlossenen Augen als konstante sinnliche Erfahrung sehen, hören, spüren, riechen, schmecken, erfahren, erträumen, erahnen lässt. Ein Griff nach den Sternen, das Verschmelzen von Traum und Wirklichkeit, die ungestörte, ungeteilte, meditative Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für den Moment. Reflexionen der lichtvollsten Sphären, die sich mir als Spiegelungen an der Wasseroberfläche und in den Augen des Gegenübers funkelnd und glitzernd wie ein Lichtermeer offenbaren und nicht als Aufarbeitung, als Bewältigung vergangener Reize und Informationen. Keine Reizüberflutungen, keine Informationswellen. Dieser üppige Moment des Hier und Jetzt lässt mich ein wenig den buddhistischen, philosophischen, paradiesischen Traum leben, in dem kein Moment dem nächsten gleicht oder sich vom nächsten trennt. Ich fühle mich befreit von der Welt und zugleich bereit für sie. Der Vernunftstimme fehlen die Worte, sie ist sprachlos, verstummt. Pure Vernunft darf niemals siegen. Auch als Kalkül, als Ökonomie des Geistes braucht sie Leidenschaften und muss dem Unkontrollierbaren, dem Irrationalen, dem Unerwarteten, dem natürlichen Chaos einen Raum geben, sich zu entfalten, um einer Zukunft abseits von Prognosen einen fruchtbaren Nährboden zu bieten. Wäre ich die Liebe, die Liebe wäre Kunst.
Gedanken ziehen wie Landschaften auf der Reise oder die Wolken über mir vorüber, verändern ihre Gestalt, verändern, verlieren ihren Sinn, werden unfassbar, ungreifbar wie Worte, die ich ergreifen will und die letztendlich mich ergreifen. Ich bin ergriffen von einem Meer aus Begriffen, aus Sprache, aus Gedanken, aus Gefühlen, aus Erinnerungen, aus Eindrücken, die sich allesamt nicht von einander ablösen lassen, die eine untrennbare Einheit bilden, die mich erzeugen, mich verändern, sich verändern, jeden Moment aufs Neue, die Zeugnis ablegen, für das, was und wer ich bin: Ich. Jeden Moment aufs Neue. Eine sich permanent verflüchtigende und zusammensetzende Identität, fließend übergehend wie die Kreisläufe des Wassers, eine flüchtige Verbindung aus Wünschen, Erwartungen, Träumen, Hoffnungen, Erinnerungen, Idealen, realen Gegebenheiten, Sozialisierungen, familiären Prägungen und Überzeugungen. Ich kann nicht sagen, wo im Inneren meines Körpers, meines Denkens mein Ich beginnt und wo im Außen es endet. Oder umgekehrt. Wäre Kunst die Liebe, wäre die Liebe ich.
Mir kommt die Italienische Reise Goethes in den Sinn, auch Dichtung und Wahrheit, Alfred Kubins Die andere Seite. Lektüren für physisches und psychisches Reisen. Verschmelzungen und Überlagerungen von Vergangenem und Gegenwärtigem, von Erdichtetem und Verdichtetem, von Traum und Wirklichkeit. Geschichte(n) als Schichtungen und Schichten, Veränderungen als plattentektonische Verschiebungen. Wie weit entfernt erscheinen in dieser Flüchtigkeit auf einmal die Realitäten der Alltagsbewältigung, die tägliche Informationsflut, das Zusammen-Halten-Müssen, nicht mit anderen, sondern in erster Linie sich selbst, sich selbst von (s)einer abgegrenzten, stabilen Identität überzeugen zu müssen, all die Unsicherheiten dieses (zer)bröckelnden Welt- und Selbstgebildes unter der Oberfäche zu halten, um sich als Akt der reinen Selbstrepräsentanz als funktionierendes, integriertes, gesellschaftsfähiges Individuum zu präsentieren. Das Reisen ist in diesem Sinne auch eine Art Flucht vor der selbst konstruierten Identität, Urlaub von dem entworfenen Selbstbildnis. Absurderweise haben die wahrhaft Flüchtigen ihre Identitäten zumeist – beabsichtigt und unbeabsichtigt, bewusst oder unbewusst – hinter sich gelassen, um in eine ungewisse Zukunft zu gehen. Alleine deshalb müssen wir sie als das Andere, als das Fremde (in uns) lieben, weil sie all das, was wir hinter unserer zwanghaften Konstruktion von Identität verbergen und unterdrückt halten, repräsentieren: die Flüchtigkeit des Augenblicks, die Ungewissheit des Kommenden, die permanente und die schlagartige Veränderung, das Wissen um die Möglichkeit eines jähen Endes aller für uns selbstverständlichen Sicherheiten – sowohl gesetzlicher als auch geistiger, materieller, gesellschaftlicher oder körperlicher Natur. Wäre die Liebe die Liebe, wäre ich Kunst.

Die Kunst, die Liebe und der Tod sind eine Geste des Menschlichen und untrennbar miteinander verbunden. Ohne die Liebe zum Anderen hätte der Tod keine Bedeutung. Erst die schmerzhafte Erfahrung, das Bewusstwerden des endgültigen und unumkehrbaren Verlustes eines geliebten Menschen macht den Tod zum Zeichen, zum Symbol der Vergänglichkeit des Lebens, der Flüchtigkeit des Augenblicks schlechthin. Was bleibt, ist die Liebe. Was bleibt, ist das Wissen, dass diese Liebe niemals wieder angenommen und erwidert werden kann. Die Kunst ist die Gabe, die Gabe der Liebe in anderer Form weitergeben zu können. Eine Öffnung des Raumes, eine Erweiterung der Wirklichkeit. Über den Tod hinaus. Ohne die Liebe, die persönliche Bezugnahme zum Anderen, zum Fremden, zum Kommenden, zum Unbewussten, zum Irrationalen bleibt die Kunst ein Akt der Repräsentation und Selbstrepräsentanz, ein Selbstzweck, ein Kalkül basierend auf Techniken und kollektiven wie individuellen Vorstellungen, die Erfüllung von Erwartungshaltungen. Ohne die Liebe zum Anderen ist die Kunst bedeutungslos. Sinnentleert. Auch das vereint sie mit dem Tod. Die Kunst der Liebe und die Liebe (in) der Kunst sind Zauberei, Magie, Neugier, Berührung, Verführung, ein Betrug am Konstrukt der Wirklichkeit, eine Einladung zur Verschmelzung, zur Kooperation, zur Kollaboration, zur Kopulation, zur Inkorporation. Der Wunsch nach einer Einheit, einer Vereinigung von Traum und Wirklichkeit, von der Vergänglichkeit des Moments mit der Ewigkeit, vom Dir mit mir, vom Innen mit dem Außen, vom Unbekannten mit dem Vertrauten, vom Gegebenen mit dem Begehrenswerten. Die Welt als Realität ist eine techno-logische Fiktion, ein soziales Konstrukt, das auf Abgrenzung, Einteilung und Zuordnung beruht. Die Liebe, der Tod und die Kunst kennen diese Grenzen nicht. Sie öffnen den Raum und die Zeit hin zum Augenblick und schaffen Lücken in der Raum-Zeit-Struktur, um uns neue Wege in eine nicht festgelegte, unbekannte, unbestimmte Zukunft zu eröffnen. Wer die Liebe spürt und zulässt, braucht die Endlichkeit nicht zu fürchten.

Vergessen wir nicht aufs Leben
es wird uns nicht vergeben
vergeben wir es nicht
Vergessen wird Vvergeben
es wird uns nicht vergehen
vergehen wir uns nicht
Vergessen wird Vvergehen
es wird das Nichts Vvergehen
vergeben wir uns nicht
Vergessen wird Üüberleben
das Leben Üübergehen
Eerleben wir(d) das Licht   

    

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