27/06/2023

Wagners Ring

Der Einmarsch der paramilitärischen Söldnertruppe Wagner in Russland, einer Privatarmee, die für den Ukrainekrieg angeheuert wurde, versetzte nicht nur Wladimir Putin in einen Schockzustand. Worauf steuert die Welt zu, wenn Privatunternehmen – und das gilt auch für die Wirtschaft – das Zepter zur Führung und Regulierung aller Lebensbereiche selbst in die Hand nehmen? 

27/06/2023

trade constellations, 2023

©: Severin Hirsch

Wagners Ring

Die Erde in einer nahen Zukunft: Die staatlichen Streitkräfte eines Großteils der weltweiten Nationen haben sich unter der Vorherrschaft der U.S.A. vereint, um den Angriffen von Privatarmeen, Söldnertruppen und Rebelleneinheiten Einhalt zu gebieten. Diese Angriffe gelten zumeist strategischen Zielen wie Häfen und anderen Wirtschaftsknotenpunkten oder politische Machtzentren und werden von kriminellen – aber welche sind das schon nicht? – Wirtschaftskartellen, global agierenden Großkonzernen oder unersättlichen, einflussreichen, machtgierigen Einzelpersonen beauftragt. Ziel ist letztendlich, Monopole zu errichten, die Konkurrenz auszuschalten und zu vernichten und sich der immer bescheidener werdenden staatlich-rechtlichen Einflusssphäre vollends zu entziehen, während die transnationale Armee aufgrund der weit verstreuten und immer zahlreicheren Kriegs- und Krisenherde schwer überfordert ist, der globalen Situation Herr zu werden. Die unbewaffnete Zivilbevölkerung, die das ganze Treiben zu lange rat- und tatenlos über sich ergehen ließ, ist indes per gesetzlichen Erlass angehalten, ihren Wohnort – bis auf eine Stunde zur Verrichtung lebenswichtiger Einkäufe und notwendiger Bewegung – aufgrund der permanenten Bedrohung von Angriffen nicht zu verlassen. Was nach einem Szenario für einen Dark-Science-Fiction-Film klingt, könnte bald zu unserer düsteren Realität werden.

1876, hundert Jahre vor dem Beginn der Dreharbeiten zu Francis Ford Coppolas Apocalypse Now, wurde nicht nur Richard Wagners Der Ring des Nibelungen als Einweihung der Bayreuther Festspiele, die von selbem im selben Jahr ins Leben gerufen wurden, uraufgeführt, sondern überdies kam es zum Zerwürfnis zwischen Wagner und Friedrich Nietzsche, die zuvor eine jahrelange Freundschaft auf Basis gegenseitiger Bewunderung und gemeinsamer Vorstellungen zur zukünftigen geistigen Beschaffenheit der Menschheit verband. Beide teilten die Vorliebe für Schopenhauer und die Ideale der griechischen Antike sowie die Ansichten über die Verwahrlosung, Verarmung und Schwächlichkeit des gegenwärtigen deutschen Geistes. Die Hoffnung auf Überwindung dieses Zustandes lag in Bayreuth und in der Verbreitung der bombastisch-orgiastischen Musik Wagners als schöpferischer Hauch dionysischen Rausches, der über Deutschland rauschen würde und dem „Übermenschen“ zur Geburt verhelfen sollte. Nietzsches Denkvorstellungen waren geprägt von der Dialektik zwischen Dionysischem und Apollinischem, zwischen dem Exzess durch den formsprengenden Schöpfungsdrang, dem chaosumnebelten Rauschzustand und dem formgebenden Ordnungszwang, der zügelnden Züchtigkeit. Seine Hoffnung auf eine hellenistische Renaissance durch die geistige Vereinigung von Dionysischem mit Apollinischem, von Nietzscheanischem mit Wagnerianischem wurde jedoch durch die Liebäugelei Wagners mit dem Nationalismus, dem Antisemitismus wie auch der inhaltlichen Zuwendung zur christlichen Erlösungstheologie schnell getrübt. Zudem betrachtete er Wagner zunehmend mehr als Menschen der „Décadence“ denn als Feingeist, dem pompöser Luxus und Opportunismus näher lagen als die geistige Erneuerung Deutschlands. Nietzsche hatte in seiner Philosophie, die als eine des Werdens und Vergehens, als eine des steten Wandels durch den Kampf der Gegensätze bezeichnet werden kann, die „Umwertung aller Werte“ vor seinem geistigen Auge und stand dadurch in einem Gegensatz zu Wagners stärker werdende Bezugnahme auf die nordisch-germanische Sagenwelt und die christliche Theologie. Nietzsche widmete dem Bruch mit Wagner, den er selbst nie so recht verkraftete, in seinem Spätwerk mit Nietzsche contra Wagner und Der Fall Wagner explizit zwei Werke, um (sich selbst) darzustellen, wie aus zwei gegenseitigen Fürsprechern im Laufe der Zeit Gegenspieler werden konnten.

Als dieses Wochenende die Söldnertruppe Wagner unter der Führung von Jewgeni Prigoschin völlig überraschend in Russland einmarschierte, stockte nicht nur Wladimir Putin der Atem. Prigoschin, zwar mit dem russischen Verteidigungsminister Schoigu und dem Generalstabschef Gerassimow verfeindet, galt stets als enger Vertrauter Putins, auch wenn er schon im Mai dieses Jahres ankündigte, seine Privatarmee aus der Ukraine zurückzuziehen. Es ist unklar, welche Zugeständnisse und Forderungen zwischen diesen beiden Machthabern unter der Hand besprochen und gemacht werden, aber es ist offensichtlich, dass die fast 40000 Mann starke Privatarmee Prigoschins keinen unwesentlichen Machtfaktor in einem krisengeschüttelten Russland darstellt. Die Erprobung eines Aufstandes oder Putsches allein schon hat bewiesen, wie leicht verwundbar Russland in der momentanen Situation ist, in der jede/r Soldat/in im Kampf um die Ostukraine benötigt wird. Fast ebenso überraschend, dass Selenskyj seine Forderung aus dem Oktober des Vorjahres nach einem NATO-Präventivschlag nicht noch einmal wiederholte, dem schwer strauchelnden russischen Bären eine weitere Kugel zu verpassen. Für Sarkasmus ist hier kein Platz, wir (vor allem in Tirol) wissen, wie unberechenbar sich verletzte, gehetzte und in die Enge getriebene Bären verhalten können und als einzigen Ausweg nur mehr rotsehen. Nur mehr den roten Knopf sehen. Es wird der erste und letzte Befehlshaber gewesen sein, der den ultimativen Vernichtungsschlag anordnete. Die endgültige Auslöschung der Dekadenz. Aber wollen wir vorerst einmal nicht schwarzsehen oder schwarzmalen. 

Die Einsatzgebiete der Söldnertruppe Wagner befinden sich nicht nur in der Ukraine und in Russland, sondern sind über den gesamten Globus und besonders über den afrikanischen Kontinent verteilt, um russische, staatliche und private Interessen zu schützen oder gar erst zu proklamieren. Auch am Krieg in Syrien haben sie sich beteiligt. Der vermeintliche Bruch zwischen Prigoschin und Putin und der Probelauf für den Aufstand haben etwas Besorgniserregendes und Bedrohliches an sich: Söldner:innen unterstehen wie die Soldat:innen von Staatsarmeen einer Befehlskette – mit dem großen Unterschied, dass diejenigen, die sie bezahlen, auch die Befehlsgewalt über sie haben. Sofern der Auftrag angenommen wird. Kriege finden unter Namen statt: für die Bekehrung von Heiden, im Namen Gottes (welcher auch immer), für die Demokratie, für Gerechtigkeit, für die Freiheit (dieser oder jener unterdrückten Gruppe/Ethnie/Bevölkerung), für die Etablierung neuer Werte, gegen Juden, gegen Schurken und Diktatoren, gegen die (westliche) Dekadenz. Söldnertruppen oder Paramilitärs hingegen kämpfen lediglich unter einem – dem ehrlichsten für alle Kriege – Namen in verschiedenen Sprachen und Währungen: für Geld. Gerade das macht sie so gefährlich und unberechenbar. Weltweit existieren derzeit über 20 offizielle paramilitärische Söldnertruppen, ganz abgesehen von Guerillakämpfer:innen, diversen Mafias und Drogenkartellen, wobei derzeit die Spezialleinheit Achmat, Teil der tschetschenischen Privatarmee Kadyrowzy unter der Führung des Präsidenten Ramsan Kadyrow, der Gruppe Wagner wohl bald – ebenfalls durch die Teilnahme am Ukrainekrieg – an Bekanntheit in nichts nachstehen wird. Traurige Berühmtheiten.    

Was zählt, ist die Geschwindigkeit. Ein Wettlauf mit der Zeit. Ein Rüstungswettlauf. Virilios Fluchtgeschwindigkeit. Die Fluchtgeschwindigkeit der Zivilbevölkerung. Die Geschwindigkeit der Marschflugkörper. Die Geschwindigkeit der Ortung. Die Geschwindigkeit der Befehle zum Angriff, zum Rückzug, zur Auslöschung, zur (totalen) Vernichtung. Was Nietzsche an Wagner bewunderte, war die Geschwindigkeit, in der er es vollbrachte, Neues zu erschaffen und die anderen damit zu überfordern. Auch ein Zeichen unserer Zeit im technologischen Rüstungswettlauf. Was an der heutigen Zeit mit der heutigen Technologie beängstigend ist, ist die Geschwindigkeit, in der es möglich ist, Altes zu zerstören, alles zu vernichten. Wir dürfen nicht aufgeben, dürfen uns nicht aufgeben, uns nicht verlieren, nicht verloren gehen in den Überbordungen und Überforderungen. Entschleunigung als Antwort auf die Orientierungslosigkeit. Ein Wettlauf ohne erkennbares Ziel führt nur in Sackgassen, zu nichts, ins Nichts. Wir dürfen den Superreichen, ganz gleich ob Reich oder reich, nicht alles in die Hände legen, nicht die Hände reichen, damit sie unser Leben in ihre Hände nehmen. Ihnen wird es nie reichen. Sie werden sich weiter bereichern, weiter aufrüsten, weiter wettlaufen, um keine Zeit zu verlieren. Lassen wir sie gegen die Wand fahren. Sie werden ihre Armeen vergrößern, Truppen anheuern, um ihre Besitztümer zu schützen, zu vermehren und ihre Konkurrenz zu eliminieren. Aber die Zeit ist auf unserer Seite, wenn wir sie für uns spielen lassen und unsere individuellen Geschwindigkeiten finden. Nicht um zu flüchten, sondern um uns zu schützen.

  

             

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