21/03/2024

Mit dem Themenschwerpunkt Agenda Raum Schweiz 2040 – führte die Schweizer Architekturzeitschrift Hochparterre 2021 den Diskurs für ein neues Raumkonzept Schweiz. Der Architekt und Hochschullehrer Stefan Kurath beschreibt in seinem damals erschienenen Artikel das Potenzial am Rand: von Riom, Fürstenau, Filisur, Valendas und Lausannes – und richtet seinen Blick damit auf die Peripherien des Landes.

Kurath stellt an Orten, die bis vor wenigen Jahren noch von Abwanderung bedroht waren, verschiedene, erfolgreiche Lösungen für raumplanerische Probleme dar. Dazu gehören Arten-, kulturelle Vielfalt und Initiativen, die durch neue Ideen Altbewährtes wieder beleben. Das Welttheater des Giovanni Netzer in Riom setzt in diesem Sinne genauso wichtige Impulse für die lokale Baukultur, wie der Wiederanbau alter Kartoffelsorten nicht nur für die Kulinarik interessant ist. Mit einer nachhaltigen Dorfentwicklung durch den Verein Valendas Impuls, erlebt der Graubündner Ort eine kulturelle Renaissance. Exemplarisch dafür steht "Kultur am Brunnen".

Stefan Kurath nennt Aspekte gesamtheitlicher und gemeinschaftlicher Raumplanung, welche aktuell sind und die auch für Österreichs rurale Entwicklung vorbildlich sein könnten. GAT bedankt sich, den Artikel wiederveröffentlichen zu können. 

21/03/2024

"Kultur am Brunnen", ©Verein Valendas Impuls

Es mangelt nicht an Vorstellungen, wie sich die Schweiz räumlich entwickeln soll. Das zeigt die Geschichte der Schweizer Raumplanung. Der Alltag zeigt aber, dass in der Umsetzung die Planung den Dynamiken gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse hinterher hinkt. Im Alltag werden planerische Rahmenbedingungen umgangen. Tausendundeine Möglichkeit, Myriaden an Einzelinitiativen führen zu einem kaum zu koordinierenden auf sich selber bezogenen Einerlei. Die fünf Ziele des bestehenden Raumkonzeptes: 

1. Siedlungsqualität und regionale Vielfalt fördern; 2. Natürliche Ressourcen sichern; 3. Mobilität steuern; 4. Wettbewerbsfähigkeit stärken; 5. Solidarität leben, finden hierbei kaum Beachtung. Die Vernunft der Experten und Expertinnen reibt sich im Alltag an der Vernunft des Kollektivs auf.

Es ist an der Zeit die Planung und ihre Abhängigkeiten aber auch die grundsätzlich produktiven Beziehungen zwischen Gesellschaft und Planung verstehen zu lernen. Hierfür ist ein Blick in die Randregionen der Schweiz gewinnbringend. 

Aus konkreten Problemstellungen wie Überalterung, Abwanderung, Strukturbereinigungen, Leerstand sind Ideen entstanden, die ausgehend von wenigen vorhandenen Möglichkeiten, die gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen insbesondere auch baukulturellen Entwicklungen am Rande nachhaltig geprägt haben und weiter prägen.

Kartoffeln in Fürstenau 
Dem Koch Andreas Caminada ist es im Schloss Schauenstein im bündnerischen Fürstenau gelungen, eine weltweit beachtete Gastronomie mit drei Michelin Sternen und 19 Gault-Millau-Punkten zu etablieren. Gleichzeitig hat er den Vriner Architekten Gion A. Caminada beauftragt, direkt neben dem Schloss einen alten Stall zur Casa Caminada mit Hotelzimmern und Restaurant für kulinarische Traditionen umzubauen. Hinzu kommt ein Archiv für lokale Genussprodukte, die auch in Caminadas Küche Anwendung finden. Hier verlängert sich die Gastronomie in die Landwirtschaft. So kultiviert der Biohof Las Sorts in Filisur im Albulatal wieder alten Kartoffelsorten, die Caminada als Abnehmer gewinnen konnten. Dies hat für die Raumentwicklung einen zentralen Nebeneffekt. Über die Küche von Caminada und die Verwendung lokaler Lebensmittel wie beispielsweise die Filisurer Kartoffeln, werden über die Stärkung der Landwirtschaft die Kulturlandschaften der Berglandschaften attraktiv gehalten. Nicht zuletzt haben die Aktivitäten von Andreas Caminada auch dazu geführt, dass  Hausbesitzer wieder in die teilweise bereits gefährdete historische Substanz investiert haben. Dadurch bleibt das historische Kulturerbe der «kleinsten Stadt der Welt» langfristig erhalten. Die Initiative des Kochs Caminada wirkt sich gleichzeitig auch auf die umgebenden Kulturlandschaften aus.

Theater im Oberhalbstein
In Riom im bündnerischen Oberhalbstein hat der Theologe und Theaterwissenschaftler Giovanni Netzer mit dem unter anderem durch ihn initiierten Kulturprojekt Origen die Region, die Landschaft und die lokale Baukultur in Form eines Welttheaters bewusst in Szene gesetzt. Dadurch hat er neue Entwicklungsimpulse und Wertschöpfungsketten in Form von Arbeitsplätzen und Hotelübernachtungen in die abgelegene Talschaft gebracht. Auch in diesem Beispiel wirkt sich dies auf die Kulturlandschaft aus. In den Dörfern Riom und Mulegns sowie temporär auf dem Julierpass bilden architektonische Eingriffe, Aufwertungsmassnahmen und Gebäudeumnutzungen unter anderem durch den Ingenieuren Walter Bieler oder des Innenarchitekturbüros Gasser, Derungs die Aufbruchstimmung ab. Die Massnahmen sind Ausdruck einer gelungenen, bewusst gelebten gesellschaftlich breit getragenen Raumkultur, wie sie der ländliche Raum hervorzubringen vermag – wenn man nicht nur einseitig die wirtschaftlichen sondern zusätzlich gemeinschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle Dimensionen miteinbezieht.

Baudenkmal in Valendas
Valendas war lange Zeit eine bescheidene Existenz im Schatten von Flims und Laax vergönnt. 2001 verfasste der Lehrer und Grafiker Donat Caduff eine Arbeit über das Ortsbild und machte auf dessen Potential aufmerksam. Der 2004 durch Bewohnerinnen und Einwohner gegründete Verein Valendas Impuls hat zusammen mit der Unterstützung des Bündner Heimatschutzes, Stiftung Ferien im Baudenkmal, sowie weiteren Gönnern und Geldgebern die Dorfentwicklung in die Hand genommen. Mit dem Umbau und der Restaurierung des Baudenkmals Türalihuus durch die Ilanzer Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul und dem Konzept „Ferien im Baudenkmal“ der gleichnamigen Stiftung wurde 2014 ein erster Meilenstein gesetzt. Gion A. Caminada hat gleichzeitig das Engihuus in ein Kleinhotel mit Restaurant umgebaut, das ebenfalls 2014 eröffnet worden ist. Das heutige „Gasthaus am Brunnen“ ist heute für seine gute Küche überregional bekannt. Als weiterer Meilenstein folgte 2016 mit der Sanierung des alten Schulhauses durch die Architektin Selina Walder und den Architekten Georg Nickisch. Das alte Schulhaus beherbergt im Erdgeschoss neu einen öffentlichen Ausstellungsraum und in den Obergeschossen einen Jugendraum und eine Wohnung. Valendas gilt heute als Vorzeigeprojekt für eine nachhaltige Dorfentwicklung, die durch Inwertsetzung des Bestandes initiiert und daraus hervorgehenden Verlängerungen von Wertschöpfungsketten in Gastronomie und Hotellerie abgesichert worden ist.

Innenentwicklung in Ouest lausannois
Hinweise, wie sich diese Vorgehensweisen auf die Innenentwicklung heutiger Stadtlandschaften übersetzen lassen, ergeben sich aus dem Beispiel Ouest Lausannois. Hier hat im Jahr 2000 ein Planungsstopp dazu geführt, dass grenzüberschreitende und koordinierende Planungen über das Gebiet von acht Gemeinden in Angriff genommen werden mussten. Das Architektur- und Städtebaubüro Feddersen & Klostermann hat bestehende, grenzüberschreitende Raumstrukturen als Grundgerüst genutzt einerseits ein Raumkonzept über neun Gemeinden zu erstellen, gleichzeitig auch räumliche Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufzeigen, um die verantwortlichen Politiker überhaupt erst an den Planungstisch zu bekommen. Aus diesen Allianzbildungen ist eine konkrete Entwicklungsvorstellung (SDOL) für die Stadtregion Ouest lausannois entstanden. Damit das SDOL auch Wirkung entfaltet hat sich Ariane Widmer von 2003 bis 2019 und Bénoit Biéler seit 2019 vor Ort darum gekümmert, dass die Stadtvorstellung in Verbindung mit alltäglichen Aushandlungsprozessen gerät und diese mit zu beeinflussen vermag. Runde Tische, Testplanungen, Mitwirkungen, Aneignungsprozesse, Einzelgespräche waren die Mittel dazu. Erste Vorschusslorbeeren für diese Vorgehensweise hat die Region Ouest lausannois 2011 mit dem Wakkerpreis erhalten. Die 2018 verliehenen Preise für ausgezeichnete öffentliche Plätze, Anlagen, Infrastrukturen aber auch private Initiativen zeigen, wie erste konkrete bauliche Umsetzungen in Abstimmung mit dem SDOL der Stadtregion langsam aber sicher neue Konturen verleihen.

Kollektives Experiment im gesellschaftlichen Labor
Die Verbindungen zwischen Dingen, Menschen und Raum, Geschichte und Kultur sind eindrückliche Geschichten des ländlichen Raums und der Peripherie wie in Ouest lausannois. Es sind kollektive Experimente im gesellschaftlichen Labor, in denen in der lokal-spezifischen Zusammenarbeit und Versammlung unterschiedlicher Kompetenzen vor Ort an einer gemeinsamen Welt gearbeitet wird – und weniger wie bisher in der Planung üblich um Alternativen gekämpft wird.

Ein zukunftsfähiges Raumkonzept für die Schweiz muss sich demnach mit den lokal-spezifischen gesellschaftlichen wie räumlichen Eigenarten in Verbindung zu setzen wissen. Um im Alltag Wirkung zu entfalten muss ein Raumkonzept auf allen Ebenen anschlussfähig für Initiativen Ereignisse sein, die gesellschaftlich breit verankert sind und getragen werden. So entfalten sich Raumkulturen, wie die vier genannten Beispiele eindrücklich aufzeigen.

Folgende Erkenntnisse aus dieser Auseinandersetzung sollen sich im Bewusstsein der Raumentwicklerinnen und Raumplaner verankern:

a. Planerinnen, Architekten, Landschaftsarchitektinnen muss es in kollektiven Experimenten gelingen, durch Überzeugungsarbeit und Eigeninitiative Allianzen für ihre Inhalte zu gewinnen. Es gilt dazu räumliche Strukturen zu entwerfen und zu festigen und damit Freiräume zu schaffen, die Ereignisse fördern von denen man nicht weiss, wann, wo, wie und ob überhaupt sie eintreffen werden. Die Zeit der universalen im Giesskannenprinzip über alle Gemeinden gestülpten Planwerke – an die sich niemand hält – ist vorbei. Es gilt stattdessen raumprägende und verbindende räumliche Elemente und Strukturen in den Mittelpunkt der planerischen Praxis zu stellen.

b. Planer, Architektinnen, Landschaftsarchitekten müssen sich im Alltag innerhalb der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses vor Ort darum bemühen, dass die Ereignisse von denen man nicht weiss, wann, wie, ob überhaupt sie je kommen mit dem Raumkonzept verbunden bleiben. Das heisst es gilt ihre Kompetenzen in der Arbeit an der gemeinsamen Welt jederzeit vor Ort diplomatisch einzubringen.

c. Ein zukunftsfähiges Raumkonzept ist mit Strategien und Werkzeugen anzureichern, das Ereignisse befördert, die eine möglichst breit verankerte Wertschöpfung nach sich ziehen und sich nicht einzig am maximalen Gewinn oder an Grossvieheinheiten orientiert.

d. Randregionen sind alles andere als potentialarme Räumen. Sie sind Ort des Experiments, der Versuche, der Innovation. So muss denn beispielsweise auch das Bauen im und mit Bestand, Wiederverwendung von Bauteilen, schonender Umgang mit Ressourcen, Verwendung lokaler Baumaterialien, Kreislaufwirtschaft, Mitwirkung und kollektive Prozesse, etc. hier nicht zuerst neu erfunden werden.

* Stefan Kurath ist Architekt und Urbanist mit seinem Büro Urbanplus in Zürich und Thusis im Kanton Graubünden. Er leitet zusammen mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Winterthur, wo er auch Professor am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen ist. Ausserdem ist er ein engagierter Kommentator von Architektur in Zeitschriften und social media. Sein neustes Buch „Jetzt: die Architektur! Über Gegenwart und Zukunft architektonischer Praxis" ist 2022 bei Park Books erschienen. 

Dieser Text entspricht dem am 08.07.2021 auf www.hochparterre.ch veröffentlichten Originaltext

 

Weiterführende Informationen: Mit Agenda Raum Schweiz 2040 stiftete Hochparterre im Jahr 2021 die Erneuerung des «Raumkonzept Schweiz» an. Die Redaktion lag bei Hans-Georg Bächtold und Köbi Gantenbein. 2022 erschien ein Buch zum Thema ‹Agenda Raum Schweiz›

Köbi Gantenbein dazu im Hochparterre: Zeit für ein neues Raumkonzept

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