30/11/2023

Notizen zur kritischen Architektur, Architekturkritik und kritischen Theorie der Architektur

30/11/2023

Skizze zu Recherchen der britischen Architektin und Pulitzer-Preisträgerin Alison Killing zu dem ausgedehnten Komplex an Straflagern für islamische Uiguren in der Provinz Xinjiang der Volksrepublik China, Biennal Venedig 2023

©: Martin Grabner

Die kritische Auseinandersetzung mit der Architektur steckt in einer Krise. Zumindest wenn man den gegenwärtigen Status von Architekturpublikationen mit den 1970er und 80er Jahren vergleicht, als in Plattformen wie Oppositions oder Daidalos leidenschaftlich über Architektur gestritten wurde, als es hauptamtliche Architekturredakteur*innen in großen Tageszeitungen gab, und als ständig neue „Zines“[1] von Architekt*innen, Hochschulen oder anderen Akteur*innen gedruckt und verbreitet wurden. Das hat viel mit dem Medienwandel zu tun, ebenso mit dem Zusammenlegen oder Verschwinden von Architekturverlagen, sicher auch mit einer Verschiebung von Zentren und Öffentlichkeiten (London, New York oder West-Berlin für die Postmoderne), aber auch mit einem grundlegend gewandelten Diskurs innerhalb der Disziplin selbst. Doch statt auf eine vermeintlich stärker theoretisch-kritisch interessierte Teilöffentlichkeit zu schielen und auch für die Architektur den „langen Sommer der Theorie“ (Philipp Felsch) rückblickend zu konstatieren, stellt sich dieser Text eine andere Frage: was versteht man eigentlich unter einer kritischen Auseinandersetzung mit Architektur?[2]

Dabei, so die Hypothese, werden oftmals verschiedene Ebenen miteinander verwechselt, was zu Missverständnissen und Frustrationen führen kann. Als zeitgenössisches Beispiel drängt sich die diesjährige Biennale di Venezia auf. Lesley Lokko, die ghanaisch-schottische Kuratorin der Hauptausstellung, hat Afrika als „Laboratory of the Future“ ausgerufen und versucht, zahlreiche Positionen aus dem bisher in Europa unterrepräsentieren Kontinent sowie der internationalen afrikanisch-stämmigen Diaspora zu versammeln. Dabei wechseln dokumentarische Formate mit kleinen realisierten architektonischen Interventionen ab, Anklage gegen (post)koloniale Ungerechtigkeit mit großen Zukunftsvisionen. Doch das Presseecho fiel sehr gemischt aus: Kopfschütteln ob der Videos und Objekte, die oftmals mehr zur Kunstbiennale zu gehören schienen und Unverständnis gegenüber der komplexen Thematik. Oftmals wurde ein „Mangel an Architektur“ diagnostiziert,[3] womit eine Auswahl ästhetischer Positionen bekannter Autorenarchitekt*innen gemeint war, oder eine Leistungsschau großer und teurer Neubauentwürfe. Aber das war ausdrücklich nicht das Ziel dieser Biennale. Sondern eine explizite Kritik an diesen Mechanismen. Kritik, deren verschiedene Formate sich auf der Biennale wiederfinden.

1. Kritische Praxis

Hier stellt das architektonische Werk selbst eine kritische Bezugnahme auf die Architektur dar, das heißt auf andere Entwürfe, Bauten, Positionen oder Stile bzw. auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Themen. Diese Form der Auseinandersetzung versucht im Medium der Architektur, also mit Zeichnungen, Plänen, räumlichen Darstellungen wie Renderings, Filmen oder Modellen bis hin zu Installationen und Bauten direkt kritisch auf andere Entwürfe Bezug zu nehmen. Das ist an sich nicht neu, sondern lässt sich gedanklich mindestens bis in die frühe Romantik zurückverfolgen, welche die Forderung aufgestellt hat, dass eine Kritik selbst ein Werk der Kunst sein müsse. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Vertreter*innen innerarchitektonischer Referenzen, sei es in Form bunter Collagen von Haus-Rucker-Co oder syntaktischer Operationen der Neorationalisten. Ein Unterschied mag darin liegen, dass bei der diesjährigen Biennale durch die künstlerisch-architektonische Bezugnahme Fragen des Kolonialismus, Feminismus, Extraktivismus oder ob westliche Werte als universelle Werte zu gelten haben – auch in Architektur und Stadt – angestellt wurden.

2. Architekturkritik

Ein ganz anderer kritischer Ansatz ist das Schreiben über Architektur. Das Paradeformat ist natürlich die klassische Architekturkritik, also eine stellvertretende Beschäftigung mit einer mit Architektur befassten Person vor Ort, eine detaillierte Beschreibung, eventuell unterfüttert durch ein Interview mit den Autor*innen und/oder Nutzer*innen, oftmals begleitet von Abbildungen, Plänen, Details und anderen Hilfsmitteln (zumindest bei Fachmedien). Diese Kritik mündet schließlich in einer Beurteilung, so dass sich die Lesenden eine möglichst genaue Vorstellung von dem selbst nicht besuchten Gebäude, Entwurf, Ausstellung etc. machen können. Hier ist die oben erwähnte Veränderung der Medienlandschaft besonders deutlich zu spüren. In Zeiten von Social Media und multiplen Newsletter-Formaten herrscht gleichzeitig ein Überangebot an Informationen und ein relativer Mangel an Einordnung und kritischer Auseinandersetzung. Viele Büros bedienen diese Formate mit Bildern und Textversatzstücken („description provided by the architects“) und haben selbst bei Architekturausstellungen und Katalogen den Wert als PR entdeckt. Beispielhaft dafür ließe sich der Umbau-Pavillon von Gerkan Mark und Partner (GMP) auf der Biennale di Venezia 2023 ebenso nennen, wie noch augenfälliger die Selbstinszenierung „Zero Gravity Urbanism“ des Saudi-Arabischen Prestigeprojektes NEOM.

Aber auch hier gibt es zahlreiche Sonderformate, wie beispielsweise die schriftstellerische Tätigkeit von Lesley Lokko, die neben ihrer Arbeit als Hochschullehrerin und Architektin auch Romane verfasst. Kreatives Schreiben als eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit Architektur (und Gesellschaft) hat in den letzten Jahren wieder an Zulauf gewonnen, und so ist es kein Wunder, dass auch auf der Biennale mehrere Positionen von Architekt*innen-Schriftsteller*innen zu finden sind. So gibt es auch viele Überschreitungen in andere Genres, wie zur Bildhauerei und den freien Künsten, zur Installations-, Video- und Performancekunst, zu Theater und Film, aber auch zu Soziologie, Anthropologie und Biologie. Ein besonders drastisches Beispiel kritischer architekturjournalistischer Tätigkeit war die Recherche der britischen Architektin und Pulitzer-Preisträgerin Alison Killing zu dem ausgedehnten Komplex an Straflagern für islamische Uiguren in der Provinz Xinjiang der Volksrepublik China.

3. Kritische Theorie der Architektur

Um das Eingangszitat von Marx zu paraphrasieren, kommt es nicht darauf an, die Welt unterschiedlich zu beschreiben, sondern sie zu verändern. Diesen revolutionären Impetus haben Marx‘ Nachfahren der Frankfurter Schule in der Zwischen- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Die Vertreter*innen forderten von ihren als „kritische Theorie“ titulierten Analysen der Unterdrückungsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, emanzipatorisch auf Individuum und Gesellschaft zu wirken. Man könnte auch Autor*innen anderer philosophischer Denktraditionen anführen, um zu zeigen, dass die Aufgabe kritischer Tätigkeit über eine analytische Beschreibung der Gesellschaft hinausgehen muss, wie beispielsweise Michel Foucault, der in Was ist Kritik? fordert, das „Regiertwerden“ durch die Struktur aus Macht-Wissen-Subjekt zu erkennen, um sich zu „Entunterwerfen“.[4] Übertragen auf die Architektur bedeutet das, ein Werk oder eine Position nicht nur historisch in die Entwicklung der Disziplin und in den innerarchitektonischen Werten und Diskursen zu verorten, sondern auch in den gesellschaftlichen. Notwendig dafür wäre erstens eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, um nicht nur einen Gradmesser dafür zu entwickeln, wie bedeutend und aktuell ein architektonisches Werk ist, sondern auch, wie das Werk sich gegenüber einer wünschenswerten Entwicklung der Gesellschaft verhält. Mit Blick auf die diesjährige Biennale findet man gesellschaftlich emanzipatorische Themen wie Dekolonialisierung, die Kritik am extraktiven Kapitalismus, Geschlechtergerechtigkeit oder Cohabitation, Teilhabe und partizipative Prozesse sowie alternative Formen des Wissens, Wirtschaftens und der Politik. Es sind auch Unterstützer*innen des BDS Movements (Boycott, Divestment, Sanctions against Israel) vertreten, wie schon bei der Documenta 15 im Vorjahr 2022, die an der Grenze zum offenen Antisemitismus operieren.

Dabei ist es wichtig, nicht nur bei der ästhetischen Bedeutung (was das Werk aussagt, wie es sich in Bezug auf diese oder jene gesellschaftliche Frage verhält) zu verweilen, sondern offenzulegen, was es tut, also wem es gehört, wem es nützt, wen es ausschließt, welche Mittel an Arbeit, Energie, Ressourcen es benötigt, und wie es Nutzer*innen dient oder diese regiert. Gerade die gebaute Umwelt als einer der arbeits-, kapital- und ressourcenintensivsten Bereiche der Gesellschaft kann und darf sich dieser kritischen Betrachtung nicht entziehen, sondern muss zwischen Entwurf (Projektion) und Kritik (Reflexion) wechseln. Architekt*innen müssen sich ihrer gesamtgesellschaftlichen – um nicht zu sagen planetarischen – Verantwortung bewusstwerden und entsprechend handeln. Dazu gehört auch, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Architekturkritik selbst mitzudenken, also die ökonomischen Bedingungen vom Schreiben über und Vermitteln von Architektur.

 


[1] Vgl. Beatriz Colomina, Craig Buckley (Hrsg.), Clip, Stamp, Fold. The Radical Architecture of Little Magazines 196X to 197X, Barcelona: Actar, 2010.

[2] Ausführlicher in: Ole W. Fischer, „Kritik der Architekturkritik - Architektur zwischen Gesellschaft und Form“, in: ARCH+ 200 Kritik (Oktober 2010), S. 120–125.

[3] So zum Beispiel Stephan Becker, „Im Sprachlabor. Zur Hauptausstellung der Architekturbiennale 2023 in Venedig“, in: Baunetz, 23.05.23, url: https://www.baunetz.de/biennale/2023/Meldungen-Zur_Hauptausstellung_der_Architekturbiennale_2023_in_Venedig_8244647.html (zuletzt besucht am 10.11.23), Vgl. auch: Rowan Moore, „Venice Biennale 2023 review – an important challenge to western architectural tradition“, in: The Observer, 21.05.23, url: https://www.theguardian.com/artanddesign/2023/may/21/venice-architecture-biennale-2023-review-18th-lesley-lokko-laboratory-of-the-future-an-important-challenge-to-western-architectural-tradition-david-adjaye (zuletzt besucht am 10.11.23), vgl. auch: Tom Ravenscroft, „Venice Architecture Biennale »does not show any architecture« says Patrik Schumacher“, in: dezeen, 23.05.23 url: https://www.dezeen.com/2023/05/23/patrik-schumacher-venice-architecture-biennale-no-architecture/ (zuletzt besucht am 9.11.23).

[4] Siehe Kolumne von Wolfgang Oeggl, „Von allen kritischen Geistern verlassen“ in: GAT vom 24.10.2023, url: https://gat.news/nachrichten/zeitenweise-35 (zuletzt besucht am 10.11.23)

wolfgang feyferlik

dem letzten absatz ist nichts hinzufügen, ausser die aufforderung es endlich wieder wahrzunehmen und nicht schweigen bzw. dankbar die almosen die gestreut werden anzunehmen ohne die notwendigen fragen zu stellen.

Fr. 01/12/2023 9:14 Permalink
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