23/02/2021

zeitenweise – 04

Bis an die Grenzen Europas

Angesichts der (humanitären) Katastrophen, die die Welt aus der gewohnten Umlaufbahn werfen, müssen wir uns der Frage stellen, was für die Zukunft als Vermächtnis Europas bleiben soll und ob es noch möglich sein wird, von einer (gemeinsamen) europäischen Identität zu sprechen.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

23/02/2021
©: Severin Hirsch

Bis an die Grenzen Europas

„Unsere Begegnung wird nur dann eine gewisse Aussicht haben, der Wiederholung zu entgehen, wenn etwas Herannahendes oder Bevorstehendes, gleichermaßen Chance wie Gefahr, uns seinen Druck spüren läßt.“ (Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt am Main 1992. S. 9.)

Begegnen wir uns. Begegnen wir Europa oder der Idee dessen, worin so etwas wie eine europäische Identität besteht, ohne festgehalten zu werden oder festgeschrieben zu sein. Welches Erbe soll uns als Fundament dienen, auf dem wir eine Zukunft aufbauen wollen? Auf welches Kapital können wir zurückgreifen, um unseren geistigen Horizont erreichen und möglicherweise sogar ausweiten zu können?
Legen wir Kurs an in Richtung östliches Mittelmeer, wo vor gut 2500 Jahren eine Spitze entstand, die den (Denk-)Raum durchbohrte und nachhaltig ein Bild der Welt, ein eidos, eine Idee erschuf, deren Europa sich heute noch rühmt. Neben der Errungenschaft der Demokratie, dem Streben nach Glück, der Frage nach einem funktionierenden Staats- und Gemeinwesen, nach dem Ursprung, der Herkunft von Leben, Vernunft, Erkenntnis, neben allen technischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Errungenschaften hinterließ uns diese Welt vor allem eines: das Verständnis, dass alles in einer kosmischen Verbindung zueinandersteht und durch unsere Teilhabe an der (göttlichen) Vernunft für uns erkennbar ist. Diese Vorstellung prägte später unter dem Begriff des Monotheismus in Form des Christentums ein Europa, das von der Peripherie ins Zentrum rückte, um von dort aus für die frohe Botschaft der Nächstenliebe mehr als nur eine Lanze brechen und in gottverlassene Peripherien vorzurücken, die bis dahin vom Horizont geborgen waren. Das andere Kap oder das Kap der Anderen war die Geburtsstunde der modernen Welt, die Wiederauferstehung der Antike, machte Europa über die Zeit hinaus zur geistigen Kapitale und brachte gleichsam Kapital. Kolonialisierung, Christianisierung, Eurozentrismus sind nur andere Bezeichnungen für diese blutrünstigen Feldzüge der Ausbeutung im Namen des Herren. Gleichzeitig erlebt auch der Humanismus seine Blüte, das Subjekt wird geboren, sät die Samen der Aufklärung, das Volk gewinnt an Macht, Gott stirbt, wird wiedergeboren, kommt vielleicht in anderem Gewand zurück, die Menschenrechtscharta wird niedergeschrieben, die Ausbeutung der Peripherie bleibt. All das ist Europa, das historische Vermächtnis, das in die Welt getragen wurde, die Welt (großteils) europäisiert hat und in seiner radikalsten Formulierung (als Vereinigte Staaten von Amerika) nach Europa und den Rest der Welt zurückkehrt – moderne Kreuzzüge im Namen der Demokratisierung, der Terrorismusbekämpfung mit dem Ziel ökonomischer Ausbeutung, Kontrolle und Überwachung. Woran können wir uns festhalten, wenn wir an ein Europa glauben wollen, wenn es so etwas wie eine europäische Identität – und Identität bedeutet gleichsam eine gemeinsame (geistige) Herkunft wie auch eine Abgrenzung nach außen – geben soll? Welches Kap wollen wir ansteuern?
Wir sind nur Menschen, weil es andere Menschen gibt. Sich selbst im Anderen zu erkennen, bedeutet in der Dialektik Hegels, dass mein Bewusstsein erst durch ein anderes Bewusstsein zum Selbstbewusstsein wird, mein Ich ein Nicht-Ich zur Unterscheidung braucht. In diesem Sinne ist das Ich zugleich ein Wir, wie auch das Individuum nur gemeinsam mit einem Kollektiv gedacht werden kann. Das bedeutet zugleich, dass der individuelle Freiheitsbegriff mit all seinen Implikationen nur in Zusammenhang mit/in Abgrenzung zu einem universellen Freiheitsbegriff Geltung haben kann (und ja, der Freiheitsbegriff – freier Wille, freie Handlungsmöglichkeit, freie Wahl – ist etwas, das ich als europäisches Vermächtnis, als Teil meiner europäischen Identität mit in die Zukunft nehmen will). Bei Sartre wird der Bezug zum Anderen durch den Blick hergestellt, im Erblickt-Werden konstituiert sich die jemeinige Präsenz durch andere und wird zugleich verobjektiviert, einem Urteil zugänglich, das Selbstsein entfaltet erst durch das Anderssein seine Bedeutung. Sich selbst im Leid des Anderen zu erkennen, ist bei Camus’ Der Mensch in der Revolte der Ausgangspunkt für die Identifikation und die Solidarität mit anderen und jede gelungene Revolution bedarf der Solidarität. Es scheint, dass wir als Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu wenig Leid erfahren haben, um solidarisch zu sein. Es mangelt uns an Identifikation mit den Leidenden, lieber verweisen wir auf die Unterschiede, die verschiedenen Identitäten, die uns Distanz verschaffen, um uns dem Blick, dem Urteil des Anderen zu entziehen. Die Leidenden bleiben unerkannte Objekte, dabei sitzen wir alle im selben Boot mit Kurs auf ein unbekanntes Kap.
Wir könnten die Zeit nutzen. Wir brauchen (noch) nicht in Panik zu verfallen. Die Stoiker, bekannt für ihre Ruhe und Besonnenheit, benutzten den Ausdruck der epoché für die Zurückhaltung eines Urteils. Die Isolation, das Aussetzen sozialer Kontakte, zumindest der Überfülle an Interaktionen, kann uns einen Ausweg, zumindest eine Pause von Routinen verschaffen. Wir haben die Möglichkeit, uns dessen zu besinnen, was wir wirklich für ein würdiges (Zusammen-)Leben benötigen und Wertigkeiten neu zu definieren, das europäische Vermächtnis als nicht festgeschriebene Identität in all seiner Differenziertheit auf den Kartentisch zu legen, zu sortieren und einen neuen Kurs anzulegen, der nicht auf Exklusion und Ausbeutung beruht, sondern der ein geistiges Erbe – als Antwort, als Verantwortung – weiterführt und weiterentwickelt. Wir können uns auch in einer Weiterführung der Foulcault’schen Disziplinierungsmaßnahmen in Selbstdisziplin üben, weiterhin am ausgesetzten Wettbewerb des Kapitalmarktes teilnehmen, uns selbst ausbeuten und hoffen, dass bald alles wieder in die Normalität zurückfinden wird. Zwei Utopien, die sich gegenseitig ausspielen, zwei Kaps, die einander gegenüber liegen.
Ich kann mich glücklich schätzen, in einem Land wie Österreich geboren und in relativem Wohlstand und Frieden aufgewachsen zu sein. Ich bin kein stolzer Österreicher, ich trage die Verantwortung der Ideale Europas, die Theorie der Aufklärung und der Kulturrevolution mit mir. Ich bin, obwohl lebendig, ein Relikt, das leidet, dessen Kap im Nebel verschwindet und versuche dennoch, Kurs zu halten. In diesem Leid solidarisiere ich mich mit anderen Leidenden, selbst wenn mein Leid im Vergleich zu anderen banal erscheint. In der Demokratischen Republik Kongo, wo ein Großteil des Coltans für unsere Mobiltelefone gefördert wird, tobt ein Konflikt, der Millionen von Menschen zu Flüchtlingen macht. Da, wo vor 2500 Jahren die europäische Geschichte begann, an der Peripherie Europas, sitzen abertausende von Flüchtlingen in Massenisolation fest und warten unter katastrophalen Lebensbedingungen auf die Weiterreise. Das sind die wahren Katastrophen, die nicht ohne das europäische Vermächtnis denkbar wären und stattfänden. Das ist das andere Kap, das Andere desselben Kaps. Das Kap hat sich geöffnet.

„Aus solcher Sicht ist es die Pflicht, dem Ruf, dem Appell des europäischen Gedächtnisses zu antworten, zu folgen, und jenes in Erinnerung zu bringen, erneut zu identifizieren, was sich unter dem Namen Europa als Versprechen ankündigte […]. Diese Pflicht hält uns auch dazu an, Europa von dem Kap aus, dessen Ufer sich teilt, auf jenes hin zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein wird. Dieselbe Pflicht zwingt uns des weiteren nicht nur, den Fremden aufzunehmen, um ihn einzugliedern, sondern auch, ihn aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen […].“ (ebda. S. 56.)

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