30/03/2017

Von Männern, die ihren Weg gehen

Essay von Emil Gruber anlässlich der zwölften Ausgabe von TRIESTER – Foto-Essay-Bände zur Triestersiedlung in Graz.

Die Künstler Martin Behr und Martin Osterider fotografieren immer wieder die Wohnsiedlung in Graz-Gries, in der sie aufgewachsen sind.
Seit 2013 erscheint TRIESTER als Publikationsreihe in der Edition Camera Austria
als Work-in-progress.

30/03/2017

Foto der Grazer 'Triestersiedlung' von Martin Behr und Martin Osterider in TRIESTER, Band 9

©: CAMERA AUSTRIA

TRIESTER, Band 12, aktuell erschienen

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TRIESTER, Band 12, Doppelseite

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Seiten aus TRIESTER, Band 1

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Seiten aus TRIESTER, Band 3

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Seiten aus TRIESTER, Band 4

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Seiten aus TRIESTER, Band 6

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TRIESTER, Band 1 – 10 im Schuber

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Emil Gruber anlässlich der zwölften Ausgabe von TRIESTER
Foto-Essay-Bände zur Triestersiedlung in Graz

Für einen Stopp, ein Flanieren, ein Verweilen bietet diese Umgebung bei erster Betrachtung wenig. Obwohl man zu Fuß in einer knappen halben Stunde wieder in bester Lage von Graz sein kann, wirkt der Ort, für die, die hier nicht wohnen, fremd. Es ist ein Stadtteil der Durchfahrt, einer flüchtigen Wahrnehmung, wenn man in Richtung eines nordischen Möbelhauses, zu einem Ort des Abschieds oder einer anderen Einrichtung von der – noch lebend – Richtung Himmel gestartet werden kann, unterwegs ist.
Die Gegend um die Triestersiedlung ist eine der Rückseiten der sonst adrett schillernd präsentierten Ansichtskarten von Graz. Dieser Außenposten des Bezirks Gries erfüllt seit langem die Aufgabe, alles das, was das Bürgertum nicht so sehr in seiner unmittelbaren Nähe haben wollte, zu sammeln.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden noch Abfälle und Fäkalien von einer Sturzbrücke in die Mur gekippt. Heute stehen hier Müllverbrennungsanlagen und Schrottplätze. Es gab Tierfutterfabriken und es gibt noch immer Schlachthöfe. Das Militär exerzierte auf den einstens großen Brachen und seit Ende des 18. Jahrhunderts funktioniert ein ehemaliges Jagdschloss von Erzherzog Karl II. als Gefängnisanstalt.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurden Freiflächen und landwirtschaftlich genutzte Gründe neben der Karlau zu einem Kerngebiet des sozialen Wohnbaus in Graz. Vinzenz Muchitsch, sozialdemokratischer Bürgermeister von 1919 bis 1934, legte den Beginn zur Triestersiedlung.
Selbst in der NS-Zeit kamen viele weitere Objekte hinzu. Auch ein ursprünglich für Kriegsgefangene errichtetes, heute nicht mehr existentes, angrenzendes Barackenviertel, das nach dem Krieg noch lange als Wohnraum für Menschen am Existenzminimum diente.
Seit der Grundsteinlegung zum ersten Wohnblock sind fast hundert Jahre vergangen. Wie jeder Stadtteil erfuhr auch die Triestersiedlung viele Metamorphosen in ihrer Infrastruktur, in ihrem Aussehen und natürlich in ihrer Zusammensetzung an Bewohnern und Bewohnerinnen. Längst schon durchmessen unterschiedliche Bürgerinitiativen das Gebiet. Kunstvereinigungen sind in ehemalige Gewerberäume in unmittelbarer Nähe der Wohnanlagen eingezogen.

Ein sonniger Tag. Ein Baum, der noch keine Blätter trägt. Vier Personen (vielleicht fünf, ein Mensch ist verdeckt nur zu erahnen), alle tragen Körbe. Eine Familie vielleicht, am Karsamstag, auf dem Weg von oder zur Fleischweihe. Übersieht der Betrachter des Bildes das geparkte Auto oder die Mülltonne, könnte die Aufnahme auch aus den 1960ern oder 1970ern stammen.
In dieser Zeit bedeutete der Spaziergang einen nie in Frage zu stellenden Sicherheitsgurt für ein intaktes Familienleben. Der gemeinsame Weg ins Freie konnte intern schwelende Konflikte diskussionsfrei beenden, den immer hellhörigen Nachbarn wurde durch Begegnung eine Entgegnung auf Vermutungen präsentiert, für den Nachwuchs war Chance auf eine Belohnung in zuckerhältiger Konsistenz gegeben und wenn nicht, war Bewegung zumindest gesund. Das zusammen Gehen aller Familienmitglieder war Ritus, Protokoll und Kontrolle zugleich, ein regelmäßiger, friedlicher Klassenkampf auf vorgegebenen Parcours draußen vor der Tür.
Martin Behr und Martin Osterider, beide 1964 geboren, wuchsen in der Triestersiedlung auf. Seit eineinhalb Jahrzehnten flanieren sie nun wieder auf ihren Damals-Wegen, sammeln auf den exakt selben Runden wie in ihrer Kindheit Bilder ihres ursprünglichen Reviers ein. Beide Künstler promenieren getrennt in ihrem von Erinnerung und Raum beschränkten Habitat. Ihre Fotografien sind formal Straßenfotografie. Alle Aufnahmen entstehen im öffentlichen Raum. Die Motive sind frei von Inszenierung: Hauszeilen, Wiesen, Hinterhöfe, Plakatwände, Graffiti, Verkehr, Fabriken, Lokale, immer wieder Menschen bei Tag, Nacht und in allen Jahreszeiten.
Es gibt kein Diktat der Technik, weder für Kamera, noch Fotoentwicklung noch Druck. Die in schmalen, notizheftähnlichen Broschüren veröffentlichten Fotografien werden keinem der beiden Künstler persönlich zugewiesen. 2013 wurde ein erstes Konvolut von der Camera Austria veröffentlicht, seither gibt es jährlich einen neuen Triester, mit dem eben erschienenen ist das erste Dutzend nun voll.
Selten ist für Künstler die Vorgabe so profan, so eindeutig: Der Weg ist das Ziel, ohne irgendeine andere Alternative am Anfang und am Ende. Eine Suche nach Orientierung ist nicht notwendig, weil alle wieder definitiv heimkommen. Das Murmeltier grüßt zwar nicht täglich, aber es freut sich, wenn es Osterider und Behr sieht. Dann winkt es und allen geht es gut.
Triester ist ein Catalogue raisonné voll mit Suchbildern von damals und gefundenen Aufnahmen aus dem Jetzt, der Jahr für Jahr den doch manchmal erhofften Komplettanspruch mit viel Lust einem vermasselt. Er bleibt hoffentlich noch lange ein freudvolles Kompendium der Unvollständigkeit, ein vom Klein- zum Großod gewachsener Liebesroman fürs Alltägliche in Fortsetzungen. Triester ist ein Fremdenführer ins tief Vertraute, ein Handbuch für das Wesentliche im Beiläufigen. Ein Werk, das zeigt, wie viel Mittelpunkte am Rande zu entdecken sind.
Triester ist ein doppelter Boden, auf dem zwei für sich gehen und der am Ende doch wieder in eine gemeinsame Bühne für beide, für das eine, für das andere, für das alles mündet: Zeigen, was ist.
Für die Erwachsenen jetzt ein Bier im Aquarium. Und "Erdbeeren für Alle".  

2017 erschienen

  • Martin Behr, Martin Osterider
    TRIESTER 12
    32 Seiten, 14 x 21 cm, 16 Farbabbildungen
    Klammerheftung
, Umschlag: Siebdruck und Prägung
    Grafische Gestaltung: Satz & Sätze
    Herausgeber: Reinhard Braun
    Edition Camera Austria 2017, EUR 7,90
  • TRIESTER 1-10 im Schuber
    Serie von 10 Künstlerbüchern im Schuber.
    Jeder Band 32 Seiten, 14 x 21 cm, ca. 25 – 40 Abbildungen. 
Klammerheftung, Umschlag: Siebdruck und Prägung
.
    Band 10 mit Textbeiträgen von Kadisha Belfiore, Katrin Fritsch, Christoph Herbert, Sandra Hubinger, Andrea Iten, Lea Leuenberger, Helene von Schwichow, Frank Ruf,  Alexander Stolle (ger).
    Grafische Gestaltung: Satz & Sätze, Graz,
    Herausgeber: Reinhard Braun.
    Edition Camera Austria 2013–2015
, EUR 48,00

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