23/12/2012

Gernot Lauffer wurde 1942 in Kitzbühel veröffentlicht, besuchte öffentliche Bildungseinrichtungen in Zell am See, Graz, Huben in Osttirol und Innsbruck sowie die öffentlichen Vorlesungen der TH Graz, machte mit Klaus Kada Archtitekturentwürfe auch durch Verwirklichung öffentlich und veröffentlicht nun schon seit Jahrzehnten die Zeitschrift STERZ, um abdruckbare Kreativeinfälle zu einem Thema öffentlich zu machen
Kontakt: zeitschrift@sterz.mur.at

23/12/2012

Adventdorf am Eisernen Tor in Graz

©: Gernot Lauffer

Adventdorf am Eisernen Tor in Graz

©: Gernot Lauffer

... und dem Aufflackern öffentlichen Lebens in der Adventszeit

Venedig, Winter, morgens. Eine kleine Piazza, Pflaster, ein, zwei Bäume, menschenleer bis auf einen Mann. Die Sonne müht sich durch den Morgendunst. Der Herr - er ist wohlgekleidet - steht mitten auf dem Platz in der fahlen Morgensonne und liest in der weit aufgeschlagenen Zeitung. Er ist ganz bei sich, bei seiner Lektüre, in seinem Wohnzimmer, in der Öffentlichkeit. Alle rundum können ihn sehen. Er weiß das, er gehört zu ihnen und sie zu ihm. Er ist in der Öffentlichkeit zu Hause und macht dort ‚bella figura’.

Los Angeles hat keine Öffentlichkeit, wie wir sie herkömmlich verstehen. Los Angeles ohne Auto findet fast nicht statt. Und in einem Auto findet nur ein Minimum von Öffentlichkeit statt: Zwar sieht man (vor allem die anderen Autos), aber selbst wird man kaum gesehen, es sei denn, man fährt vor, steigt sichtbar aus. Das war früher bei wenigen Autos vielleicht noch ein Ereignis, aber im Gewühl moderner Siedlungen - von Städten sollte man vielleicht nicht reden, eher von Anhäufungen - ist das kein öffentliches Ereignis mehr. Ein öffentliches Ereignis, ein Ereignis der Öffentlichkeit ist gebildet von einer Gemeinschaft, deren Teile einander kennen, kennen könnten oder wollten. Die amerikanische Öffentlichkeit findet im Privaten statt, so man Zugang hat, halböffentliche Begegnungsstätten wie Wirtshäuser laden viel weniger zum Verweilen ein, einen öffentlichen Stadtraum, dessen Inbegriff die italienische Piazza, die griechische Agora ist, gibt es fast nicht.
 
Wir nördlichen Europäer sind aber auch keine richtigen Städter, keine urbanen Menschen, deren Bedürfnis nach Öffentlichkeit fast unstillbar ist. Wir sind immer noch Urwaldbewohner, die sich in ihren Blockhäusern verschanzen, in die sie andere nicht so schnell hineinlassen. Auch im Wirtshaus machen wir jeden Tisch zu einer Sperrzone und wenn wir uns in der sogenannten Öffentlichkeit bewegen, schleppt ein jeder die Aura des >noli me tangere

My home is my castle, sagt der Engländer, auf Italienisch heißt das in etwa ‚sacro egoismo’. Dieser heilige Egoismus verfolgt seine Interessen, und dafür braucht er nun einmal Seinesgleichen. Der Mensch ist ein soziales Tier, das allein schlecht über die Runden kommt. Es muss kooperiert werden, um einander auszunutzen, um physischen und psychischen Tauschhandel treiben zu können. Das ist zwar bei uns „Barbaren“ auch nicht anders, aber wir hängen viel stärker der Fiktion an, „am stärksten ist der Mächtige allein“.

Die Kultur der Südländer, der Griechen und der lateinischen Derivate ist tausend Jahre älter. Als wir aus dem Urwald kamen, hatten die schon eine raffinierte Stadtkultur mit allem Drum und Dran, ja die Stadt, die polis, ist der Ursprung der mediterranen Kultur. Das Leben der Südländer findet in viel größerem Maß in der Öffentlichkeit statt, und sei es nur, dass sie wegen des Klimas mehr Zeit im Freien verbringen können. Auf der Agora oder dem Dorfplatz, bilden sie eine Schwadroniergemeinschaft, die in einem ewigen Hin und Her die Probleme wälzt. Auch sind sie als Anrainer des Meeres nun einmal offener, neugieriger und austauschfreudiger. Und sie bekennen sich zu ihrer sozialen Abhängigkeit, deren Ausdruck der Corso war und bis zu einem gewissen Grad immer noch ist. Da geht dann am späteren Nachmittag die ganze Ortschaft auf der Hauptstraße, dem Hauptplatz auf und ab, in immer neuen Paarungen wird, die Gemeinschaft vor Augen, geplaudert, intrigiert, denunziert, sehen und gesehen werden ist so wichtig wie miteinander, übereinander reden und beredet werden. Und, aus Kindern werden Leute, der Heiratsmarkt ist immer in Betrieb. Die Menschen bilden aktiv und offensichtlich Öffentlichkeit, die Fassaden der einrahmenden Häuser sind sorgfältig gestaltet und bilden so das gemeinsame Wohnzimmer.

Bei uns Nachkommen der „Barbaren“ hat spätestens mit der Gründerzeit das Bürgertum mit der Etikette ein strenges Regelwerk der Öffentlichkeit eingerichtet, die Fassaden der Gründerzeithäuser bildeten das Wohnzimmer und die Bürger näherten sich dem urban-mediterranen Vorbild. Der Couleurbummel der Studentenverbindungen ist dessen extremster Ausdruck. Man erging sich im städtischen Raum, in diesem Fall als Rudel, um präsent zu sein und andere in ihrer Präsenz zur Kenntnis zu nehmen. Es war die große Zeit der Spaziergänger, die um der Lustbarkeit willen unterwegs waren, die Müßiggang mit der Teilnahme am sozialen Geschehen verbanden, die beobachtend und sinnierend leichten Schrittes durch die Straßen wandelten, die ab und zu verweilten, mit einem Plauscherl Kontakt aufnahmen. Sie machten kein Hehl aus der Ziel- und Zwecklosigkeit ihres Herumschlenderns, sie waren ganz bei sich in ihrem Selbstvollzug. Ab und zu betrat der Flaneur eine Bar, setzte sich in einen Gastgarten, unterhielt sich, flirtete mit einem Mädchen - er hatte ganz offensichtlich nichts zu tun, nichts im Sinn, er konnte sich den Müßiggang leisten oder tat zumindest so. Das bürgerliche Zeitalter hatte seinen Höhepunkt erreicht, der emsige Bürger hatte dem Adel die Dominanz entwunden und versuchte sich in der Kunst des kultivierten Müßiggangs, die bis dahin der feudalen Oberschicht vorbehalten war.

Der Erste Weltkrieg zerstörte diese Idylle auf dem Rücken der Ausgebeuteten, die Not verhalf dem protestantischen Arbeitsethos endgültig zum Durchbruch, noch eine kurze Scheinblüte in den 20ern, dann kamen die Diktaturen mit ihrem Plansoll und ‚Arbeit macht frei’, der zweite Krieg und dann der Wiederaufbau, der  als Wirtschaftswunder stattfand. Jetzt war endgültig Schluss mit lustig und Müßiggang, das Ethos der Arbeit hatte oberste Priorität, einfach so herumlungern, sich mit Flanieren vergnügen, das ging nicht mehr. Auch wenn man nur herumstreunte, der Schritt musste schneller und fester werden, der Körper zielorientiert, der Gesichtsausdruck dem Ernst der Lage angemessen. Es hatten schließlich alle viel zu tun. Nur so im Caféhaus sitzen und vergnügt in die Luft oder den Mädchen nachschauen wurde zunehmend obszön. Man hatte eine Besprechung zu haben, die Nachrichten aus den Zeitungen zu saugen, sich wiederherzustellen für den Arbeitsprozess. Auf der Straße waren die Auslagen nutzbringend zu mustern, wer mehr als viermal die selbe Strecke - wie am südländischen Corso - auf und ab ging, war ein oberflächlicher Charakter, ein Tunichtgut, ein eitler Geck, der nur glotzt und sich zur Schau stellt. Bei aller vorgetäuschten Geschäftigkeit, der Corso blieb ein Bedürfnis, aber er verlagerte sich in die Foyers von Theatern, Kinos und Musikschuppen, das Sehen und Gesehen-Werden spezialisierte sich nach Gruppen und Interessen. Aber das Bedürfnis nach Allgemeinheit blieb.

Das Auto, ein wichtiges Selbstdarstellungsmittel, wurde aus den Zentren ausgesperrt, in den Fußgängerzonen waren wieder alle gleich und alle mussten Geschäftigkeit und Zielstrebigkeit simulieren. Der Gammler, der Herumhänger, der schnorrende Punk, sie wurden zum Feindbild. Die mussten weg von den Ruhebänken, auf denen niemand anderer ruhte, von den Stufen der Denkmäler, an denen niemand gedachte, von den öffentlichen Anlagen, in denen sich kaum einer erbaute und erholte. Nur die Beaufsichtigung spielender Kinder enthob etwas des Leistungsdrucks. Waren früher diejenigen arm, die arbeiten mussten, so sind nunmehr die bedauernswert, die arbeitslos (geworden) sind. Es gäbe ja genug Vergnügungen und Beschäftigungen, mit denen man sich angeregt die Zeit vertreiben könnte, von der Leihbibliothek bis zum Waldlauf, aber das ist in seiner konturlosen Beliebigkeit nicht attraktiv. Auch das Flanieren in der Stadt ist zur Arbeit geworden. Es ist anstrengend, Hektik zu produzieren, wenn der Tag lang ist. In der muselosen Gesellschaft ist der Müßige einsam, weil unproduktiv, hat er doch selten Partner für produktiven Müßiggang. Und in der Gesellschaft, der Öffentlichkeit, sind die Hervorbringungen seines Müßiggängers auch nichts wert, die hauptsächlich aus dem vor/gelebten Leben bestehen. Der Kaffeehausliterat mit seinen Wortschöpfungen des Augenblicks erzeugte einst geistige Öffentlichkeit, so ge/wichtig wie die verfließende Zeit. Und doch trugen gerade diese Gedankenblitze ganz wesentlich zur geistigen Atmosphäre bei, zur Aura, die eine Stadt zum geistigen Schwerpunkt machte.
 
Im Kino kann man ja noch zustimmend/ablehnend grunzen, lachen oder schmerzgeplagt aufstöhnen und ist dabei in der Öffentlichkeit des Publikums eingebunden, den Fernseher hingegen können wir anschreien, so viel wir wollen, dem ist alles wuascht. Vor diesem sitzen wir nun vereinsamt und bilden eine Empfangsöffentlichkeit ohne Erwiderung, in der restlichen Zeit füllen wir den Monitor unseres Rechners mit synthetischen Fragen und Antworten, aus denen jedes Leben gewichen ist: die abstrakte Öffentlichkeit einer fiktiven Gemeinschaft. In den Fußgängerzonen hat der Druck der Passanten schon längst nachgelassen. Man muss dort nicht mehr gewesen, um gesellschaftlich anwesend zu sein. Große Teile dieses ewigen Corsos fehlen nunmehr. Die haben sich eine neue Öffentlichkeit in den Einkaufsburgen an den Stadträndern geschaffen. Dort  sind die Teilnehmer unter sich und können viel leichter die erste Geige spielen. Inmitten der Warenangebote der aufgereihten Läden vergnügen sie sich in den Cafés und fühlen sich richtig und wichtig. Einkaufen ist zur größten Lustbarkeit geworden, Beute ausspähen, beobachten und eventuell erlegen, voll der Projektion, was mit dem Erbeuteten alles gemacht werden könnte. Wo sind die vielen Sportler, Heimwerker ..., die sich bei den Diskontern mit Ausrüstungen aller Art versorgen? Die Vorstellung des Augenblicks steht für den Vollzug. Noch nie konnte man sich mit so wenig Geld der Illusion einer sportlicher Betätigung hingeben.

Bei all dieser vordergründigen Befriedigung unserer Bedürfnisse, wir leiden an der Auflösung der Öffentlichkeit, unsere Sehnsucht gilt weiterhin der universellen südländischen Urbanität. Ein Mal im Jahr, wenn es zu Ende geht, wird für unsere Sehnsucht ein Steh-Corso eingerichtet. In den Zentren werden Buden aufgestellt und vor diesen ballen wir uns dann in der Kälte, das warme Glühweinheferl umklammernd. Endlich haben wir einander wieder, sehen und gesehen werden, reden miteinander oder wild durcheinander dank des Alkohols. In der kalten, dunklen Nacht des Dezembers haben wir doch wieder zu so etwas wie eine allgemeine Öffentlichkeit gefunden. Frohe Weihnachten!

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