29/07/2007
29/07/2007

sonnTAG 185

Gut geführte Fremdenpension mit Park und Badestrand

Sindbad, Seefahrer

Türkis und wohltemperiert wie die (hier schon) karibische (aber süß)

Zwei Meter unter der Oberfläche

Hundert Meter über der Oberfläche

Einige Tempi entlang der Uferbalustrade

Wörter-Seefahrer I
Ein Seestück

Von Wenzel Mraček

„Jetzt müssen wir schlau sein“, sagte mein Großvater bei solchen Gelegenheiten, beugte sich zu mir herunter, sah mich an und legte den Zeigefinger an seine Schläfe, „erst spekulieren, dann arbeiten!“

Gut, Opa, dann aber in die Hände gespuckt und fix das Hirn mit Piz Buin eingeschmiert, damit die Mechanik geschmeidig bleibt, beim Erinnern hilft und nicht zur Korinthe dörrt.

„Welcher blädde Chund schmaißt denn hier was herieber“, rief zornig der böhmische Großonkel, den wir während der herbstlichen Gartenarbeit malträtierten. Versteckt hinter einem gefällten Baumstamm hatten wir, Vorstand einer Bubenbande, schon den dritten Schweizerkracher gezündet. Onkel Ader, wie wir ihn stets mit seinem Familiennamen riefen, war der selbsternannte Gartenbeauftragte. Im Frühjahr kratzte er Laub vom vergangenen Herbst von den Wiesen, schnitt alte Äste von den Bäumen. Im Sommer zog er tagein tagaus einen Rasenmäher hinter sich her und im Herbst kratzte er das Laub von den Wiesen, während er im Winter die Wege freischaufelte. Eigentlich war er gar nicht mein Großonkel. Im böhmischen Karlsbad hatte er eine Mordsdrumm Schneiderei mit sechzig Angestellten besessen, die eine internationale Klientel von Kurgästen in feinsten englischen Zwirn kleidete. Als Sudetendeutschen hatte ihn Beneš enteignet und ausgewiesen, worauf er zu uns kam, um die Schwester meiner Großmutter zu heiraten. Die aber verstarb drei Wochen vor der Hochzeit und Onkel Ader blieb als Rasenmäher bei uns. Außerdem baute er regelmäßig Baumhäuser wieder ab, die wir gewissenhaft aus besten geklauten Materialien aus der Holzlage des Großvaters errichtet hatten. Baumhäuser stören das Bild einer gut geführten Fremdenpension mit Park und Badestrand, was man dem im Tourismus erfahrenen Karlsbader wohl oder übel zu glauben hatte.

Onkel Ader dürfte seine Geschäfte in Karlsbad ganz gut geführt haben. Noch als Rasenmäher – ich hatte erst sehr spät erfahren, dass er eigentlich Schneidermeister war – sorgte er immer wieder für Aufsehen, wenn gerade angekommene Stoffballen oder in Kartons gelieferte Herrenhemden einmal von der Post, einmal von der Bahn abzuholen waren. Den immer noch aufrechten Geschäftsverbindungen mit den englischen Lieferanten war es zu verdanken, dass Herren des halben Dorfes mit Anzugsstoffen – unter der Hand und zu moderaten Konditionen – versorgt wurden. Nachdem Onkel Ader sein Metier auf die Gartenpflege verlegt hatte, lag es nun am Dorfschneider Laszar, daraus Maßanzüge zu machen. Laszar Michl war nach dem Volksaufstand aus Ungarn abgehauen und wollte nur ein paar Wochen bei uns bleiben, bis nämlich in Triest ein Dampfer ausfahren sollte, auf dem er als Heizer für die Überfahrt nach Amerika angeheuert hatte. Wie der eine aber Rasenmäher, war der andere Schneider, Laszar Michl, Fischer. Gerade noch vor der geplanten Abreise nach Triest war Michl also in der Abenddämmerung in einem Ruderboot zum Fischen auf dem See. Etwas kam da angeschwommen und Michl sagte zu seinem Kollegen, „Schau, a Hunterl“ und wollte es ins Boot hiefen. Das Hunterl aber war ein Dachs, der dem Michl derart in die Hand biss, dass aufgrund der Verletzung an Kohleschaufeln während der Überfahrt nicht mehr zu denken war. Der Dampfer fuhr nach Amerika und Laszar Michl blieb bei uns, wo er – bis zu seinem Eingehen in die ewigen Fischereigründe – für stilgerechtes Auftreten einheimischer und urlaubender Links- wie Rechtsträger sorgte.

Hier nennen sie mich Sindbad, Seefahrer. Oder: Nennen Sie mich hier einfach Sindbad, denn ich bin Seefahrer, Inhaber des Binnenschifffahrtspatentes D, geprüfter und zertifizierter Motorwärter. Sie können mich und mein Boot mieten, heuern sagen wir nicht, dazu ist der See (nicht die See) zu klein, wenngleich türkis und wohltemperiert wie die (hier schon) karibische (aber süß). Wenn wir dann auf dem (nicht zur) See fahren, erzähle ich Ihnen Geschichten von der Seefahrt (das ist auch hier korrekt) und einige Kilometer über das (nicht die) Ufer hinausreichende; Geschichten von Tausendundeiner Yacht, wahrlich erfunden und nicht geschwafelt, wie wir hier sagen (Hrabal sagt gebafelt). Am Ende jeder Fahrt erwartet Sie ein Yachtfest im (nicht auf dem) See: In einem Ruderboot steht eine Kiste Bier und wir d’rumherum im knietiefen Wasser. Wörtersee (nicht Wörther-), Wörtersee, bist a schens Lack’l oben auf da Oberfläch’ schwimmt a Schinakl …

Eines Abends lümmelte ich auf den Benzindepots, schlichte Blechkisten mit Kanistern bestückt, im Hafen, wie immer in der Hoffnung, es mögen mich noch ein paar Touristen zu einer abendlichen Ausfahrt mieten. Ebenso nebenan die Kollegin Theresa mit ihrem Boot, wenngleich der christlichen Seefahrt geschuldet und im Unterschied zu mir, korrekt in Blau/Weiß adjustiert. Müßig zu erwähnen, aber wir geben nicht viel auf den einst verbreiteten Aberglauben, nach dem nur See-Männer Boote steuern dürfen, andernfalls der Klabauter-Mann auf den Plan gerufen würde um den Stoppel aus dem Teich zu ziehen und damit allem Fremdenverkehr ein für allemal ein Ende zu machen. Wie zu erwarten war, wandte sich eine Tiroler Familie so auch nicht an mich, sondern an Theresa, um zunächst über den Preis einer Ausfahrt zu verhandeln, nachdem man den Fährmann (!) ja nicht vor der Überfahrt bezahlen soll. Augenscheinlich wurde man sich einig und kletterte etwas unsicher vom Steg ins Boot. Die zwei Kinder und ihre Mutter nahmen auf dem Rücksitz Platz, während der pater familias den Beifahrersitz einnahm. Der Tiroler an sich zeigt, so geht die Mär, beachtlichen Respekt vor tiefem Wasser. Der Tiroler an sich ist versierter Alpinist und glaubt, das Vermögen, schwimmen zu können, sei dem Menschen – der der Tiroler ist – naturgemäß nicht gegeben. Umgekehrt müssen wir Seeleute gestehen, dass uns allein der Anblick steiler, schroffer Bergmassive Furcht und Schwindel bereitet. – So war also auch dem pater familias augenscheinlich schon nicht sehr wohl an Bord, während er nun offenbar darauf wartete, dass gleich von irgendwo ein Herr Kapitän auftauchen werde, der seine Zweifel zumindest für die Dauer der bevorstehenden Fahrt vergessen machen möge. Aber nichts dergleichen. Als Theresa sich neben ihn und hinter das Steuer setzte, den Motor startete – immerhin ein imposantes Geräusch, wenn man’s nicht gewöhnt ist, dreihundert Pferde, Big Block von Herrn Ford gefertigt, der Hubraum statt Wohnraum baut – sprang der pater familias seiner Schwester, der Gämse, seinem Bruder, dem Gams, gleich aus dem Boot auf den Steg und rief: „Na, nirrmolls! Mit orrnr Weibischn forr i nit!“ Eheweib und Kinder folgten auf den Fuß – Abbruch des beinahe eingegangenen Geschäftsabkommens im Rahmen des Fremdenverkehrs.

Wenig später kam Laszar Michl vom Fischen, er trug seine Basisausrüstung zum Angeln immer in einer kleinen Aktentasche mit sich, und setzte sich neben Theresa auf die Benzinkiste. Der Abend war lau. Michl war lustig aufgelegt, wozu zwei bis drei Achtel wohl ein Übriges getan haben mögen und er begann zu erzählen. Als Schneider habe er das halbe Dorf eingekleidet und heute noch erkenne er jeden seiner Anzüge. Aber er habe sie auch signiert. An immer der gleichen Stelle habe er in jede Hose und jedes Sakko verborgen sein Monogramm eingenäht. Sollte die Herkunft unsicher sein, so wäre jeweils eine Naht zu öffnen um Klarheit zu schaffen. Internationale Prominenz habe er „g’scheit“ eingekleidet, den Böhm, den Lubitsch und den Sachs. „Wie die manchmal dahergekommen sind. Nicht anzuschauen.“ Erst nachdem er sie aber in Behandlung genommen hatte, „haben die sich sehen lassen können“. Vor allem der Kreisky habe seine Erscheinung als Staatsmann ihm zu verdanken gehabt. Denn: „Ich war ja ein orthopädischer Schneider und der Kreisky war ja ein Krippel. Der hat an Bauch g’habt, an Buckel und schief war er a.“ Eine wahre Wissenschaft sei es gewesen, ihm mittels etlicher Anzüge, „angemessene“ Haltung zu verschaffen. „Weil“, nahm er nun mich Lümmelnden zum Modell seiner Ausführungen, „schauen Sie, liebe Theresa, sich den Sindbad an – mit seinem verkrippelten G’stell. Wenn ich dem einen Anzug schneider’, wird er auch noch a schener Mensch.“

Ich hatte erst mit acht Jahren schwimmen gelernt, damit war ich schon früh immer der Letzte der Bande, alle längst versierte Schwimmer und Taucher. Maienburg hatte es mir beigebracht. Er hatte mich beinahe gezwungen, über Wasser zu bleiben und nach und nach gelangen mir einige Tempi entlang der Uferbalustrade. „Einer, der am See wohnt, muss schwimmen können“, sagte Maienburg forsch, „aber du mogelst, bewegst die Arme und hast die Füße auf Grund.“ Maienburg war Sommergast bei den Großeltern. Seine Statur glich dem standesgemäß dicken Benz, mit dem die Familie jedes Jahr aus Frankfurt – oder Stuttgart oder Düsseldorf, ich weiß es nicht – anreiste. Eines Morgens warf er den Knochen einer riesigen Schweinsstelze – die Reste des gestrigen Abendessens – auf die Wiese, über den sich Bonzo hermachte. Bonzo war der Königspudel von Herrn Horak aus Wien. Während der Hund am Knochen nagte, sahen ihm die beiden feisten Herren in Badehosen zu. „Eisbein können wir uns schließlich noch leisten.“ Maienburg schwitzte. Horak steckte sich eine Zigarre an und sagte: „Heute wird es wieder heiß.“ Im nächsten Jahr sprang ich schon Kopf voraus ins Wasser, aber Maienburg sagte: „Jetzt kannst du schon Köpper – aber schwimmen kannst du noch immer nich.“

Kyselak ist nicht bei uns geblieben. – Joseph Kyselak, jener Wiener Beamte und Vorgänger Kilroys, der sich auf seiner Fußreise 1825 durch die k. k. Monarchie durch allenthalben Anbringung seines Namens per Schablone und Ölfarbe verewigte, hielt in seinen „Skizzen einer Fußreise durch Oesterreich, Steiermark, Kärnthen, Salzburg, Berchtesgaden, Tirol und Bayern nach Wien“ fest: „Immer am Ufer fortschlendernd, gelangte ich nach dem Postorte Velten … Nahrungsbedürfnis nöthigte mich bei einem Fleischer der zugleich Gastwirth ist, einzukehren. Ungern fühlte ich bewährt, was einige Reisende von der schlechten und unbilligen Bewirthung gewisser Gastgeber zu erzählen wissen. Für unreinliches Essen und ungenießbaren Trunk mußte ich mehr entrichten, als für das beste Mahl in Klagenfurt. Ich wünsche nicht, daß Jemand sich davon selbst zu überzeugen so lüstern wäre; nebst dem Magen könnten durch die Grobheiten des Wirths auch die Gliedmaßen des Gastes unangenehm gereizt werden, welches dann zum bedeutenderen Nachtheil sich endigen dürfte.“

Vor einigen Jahren zeigte mir die Wirtin im Grazer Babenbergerhof einen australischen Reiseführer für Hitchhiker, worin derselbe Postort 175 Jahre später angeführt wird, versehen mit der Warnung „Don’t visit the Wurstsalon, it is much too expensive!“ In ebendiesem Ort wirbt nach wie vor die zentrale Volksbar, weil im Haus der Volksbank untergebracht, mit einem auf der Markise angeführten Schlachtruf:

EXPENSIVE DRINKS
NO FOOD
SHIT SERVICE
NO SPECIALS
NO HAPPY HOUR
WORST BANDS IN TOWN

Dort werden wir uns in der nächsten Folge mit Vanja, Baumgartner, dem alten und dem jungen Huber, vielleicht Hoffmann und anderem zwielichtigen Hafengesindel treffen …

Wenzel Mraček, geb. 1962 in Klagenfurt, Kunsthistoriker, Kulturredakteur, Autor, Seefahrer, lebt in Graz.
Literatur: W.M., Simulierte Körper. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen. Wien, Köln, Weimar 2004 (Böhlau, www.boehlau.at).

Verfasser/in:
Von Wenzel Mracek
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