07/09/2009
07/09/2009

steirischer herbst 24/09 - 18/10/2009

Baustelle August 2009: Schauhaus 09 - Festivalzentrum steirischer herbst 2009 im Orpheum. Planung: Architekturbüro MVD Austria | frank, rieper

Baustelle August 2009: Schauhaus 09 - Festivalzentrum steirischer herbst 2009 im Orpheum. Planung: Architekturbüro MVD Austria | frank, rieper

Detailaufnahme

Detailaufnahme

Schauhaus 09, Festivalzentrum des steirischen herbst 2009 im Orpheum Graz, von MVD Austria | frank, rieper.

Ganz in der Tradition des steirischen herbst als nomadisierendem Veranstalter gestaltet das Architekturbüro MVD Austria | frank, rieper das diesjährige Festivalzentrum als temporäre Intervention in den Stadtraum. Eine transparente, begehbare Fassade eröffnet einen neuen Zugang zum Orpheum – und ist Ausgangspunkt einer Reflexion über zeitgenössische Aneignung von öffentlichem Raum.

„Provisorische Architektur baut keine Dome, auch keine Kerzenläden, sie simuliert mögliche Veränderungen. Sie ist wegräumbar.“
Haus-Rucker-Co. 1976

1990 initiiert Horst Gerhard Haberl unter dem Titel „auf, und, davon“ einen dreijährigen Festivalschwerpunkt des steirischen herbst zum Thema „Nomadologie der Neunziger“, der sich Fragen der Mobilität, Veränderbarkeit, Virtualisierung, Simulation und Raumpolitiken widmet. Dazu wird ein Architekturwettbewerb zur Planung und Errichtung einer „Mobilen Halle“ für den herbst als (bis heute) nomadisierendem Veranstalter ausgeschrieben. Der Innsbrucker Architekt Wolfgang Pöschl gewinnt diesen Wettbewerb und führt auch Detailplanungen durch, doch aufgrund fehlender Nachnutzungen und wohl auch finanzieller Probleme wird das Architekturprojekt niemals realisiert – es gehört jedoch seither zum legendären Fundus der gescheiterten Festivalprojekte. Überzeugt hatte es durch die Verwendung von einfachen und bekannten Elementen wie Montageteile, Gerüst- und Schalungselemente und Folien, aber auch durch den ironischen Bezug zum Thema 'Bierzelt', aus dem Pöschl sein „Einweggebäude“ konzipiert hatte.

Es ist interessant, dass 1990, der Zeit der Debatten um „Medienarchitektur“ und „denkende Gebäude“, ein Projekt ausgewählt wird, das auf leicht verfügbare, alltägliche Baumaterialien zurückgreift. Die Unterschiede in der Bezugnahme auf Architektur, Öffentlichkeit und Stadtentwicklung werden dadurch sehr deutlich: Nicht primär die (utopische) Veränderung von Lebensräumen steht im Mittelpunkt, sondern die (vorübergehende) Aneignung, Umdeutung und Intervention. Zieht man eine Verbindung zu den in den letzten Jahren im Rahmen des steirischen herbst entstandenen Festivalzentren, die stets als temporäre Architekturen entstanden sind, erhält die „Mobile Halle“ von Wolfgang Pöschl noch einmal unvermutete Aktualität.

Interventionen in den Stadtraum ziehen sich insgesamt durch die Geschichte des Festivals, und so dürfte diese spezifische Perspektive auch 1990 den Ausschlag gegeben haben, Pöschls Entwurf auszuwählen. In diese Geschichte schreibt sich der herbst seit 2006 wieder verstärkt ein, indem das Festivalzentrum als eine zentrale Plattform für Veranstaltungen, Präsentationen, Workshops, Symposien, Filmprogramme etc. diese Frage einer Verdichtung auf Zeit, eines kulturellen/sozialen Biotops, der „simulierten Veränderungen“ im institutionellen Gefüge der Stadt aufgreift. 2006 gestaltete der irische Künstler Stephen Craig das Künstlerhaus zum Festivalzentrum um, 2007 errichtete das schwedische Kollektiv International Festival am Karmeliterplatz ein temporäres Theater an der Grenze zwischen Architektur und Performance, Gebäude und Show. 2008 griffen raumlabor berlin massiv in die Räume des Joanneum-Ausstellungsgebäudes in der Neutorgasse ein und platzierten eine emblematische Skulptur vor der Fassade, als wäre das Gebäude von einer Katastrophe heimgesucht worden.

Dieses Jahr errichtet das Architekturbüro MVD Austria | frank, rieper ein „Schauhaus“ vor der Eingangsfassade des Grazer Orpheums. Als Varietétheater nach dem Vorbild des Wiener Ronacher, 1899 eröffnet, leidet das Orpheum unter seinen Umbauten der 1980er Jahre, die in nächster Zeit einem weiteren Umbau weichen werden. Ähnlich wie das Gebäude in der Neutorgasse handelt es sich also auch beim Orpheum um ein Gebäude in einer Art Zwischenphase – und in diesen Freiraum stößt der steirische herbst erneut gerne wie durch eine löchrige Vierer-Abwehrkette. Um sich ein Terrain zu erschließen, das den spartenübergreifenden Schwerpunkten des Programms entspricht: nicht Theater, Museum, Konzerthalle, Akademie, Bar, Kino, Internetcafe, sondern eine spezifische Mischung aus allem mit je unterschiedlichen Schwerpunkten und Mischungsverhältnissen.

Dabei hat das Orpheum selbst eine Geschichte im steirischen herbst. Von 1975 bis 1982 war es Schauplatz des „open house“: „Ein neues Modell, junges Publikum mit neuer Kunst und ernstzunehmender Unterhaltung vertraut zu machen. Die Grenzen sollten sich verwischen, die Reizschwellen der Avantgarde abgebaut werden. Nicht nur die Mischung sollte dabei helfen, sondern vor allem die Form der Präsentation.“ (aus: 10 Jahre steirischer herbst. Eine Bilanz, 1977) Ausstellungen, das Musikprotokoll, Lesungen, Filmnächte, Konzerte, Pantomime, Tanz, Workshops, Theateraufführungen bis hin zu Kabarett bildeten das Spektrum des „open house“, das quasi ein Festival im Festival bildete, dessen Profil und Ausrichtung mehr als zufällige Parallelen zu aktuellen Interessen des Festivals aufweist.

Dieser Kontext des Ortes und die Interessen des Festivals kreuzen sich mit der Erfahrung von MVD Austria | frank, rieper, Spezialisten der Realisierung ungewöhnlicher temporärer architektonischer Projekte mit wechselnden Projektpartnern. 2003 entstand als Zusammenarbeit von Peter Fattinger, Michael Rieper und Studierenden der TU Wien im Rahmen von „SELFWARE. Politics of Identity“ eine Fassade vor dem Palais Thinnfeld, die sich quasi als parasitäres Gebäude dem Palais vorblendete. „SELFWARE. surface“ bildete eine bewohnbare Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Innenraum, eine Art Architekturmembrane, die einen spezifischen sozialen Raum zwischen Gebäude und öffentlichem Raum aufspannte. 2005 entwickelten Peter Fattinger, Michael Rieper und Veronika Orso am Wiener Wallensteinplatz „add on. 20 höhenmeter“, das ebenfalls dem Interesse nachging, wie sich durch architektonische Intervention und daran gekoppelte Interaktionen ein öffentlicher Ort verändern kann und damit ein Diskurs über Aneignungsmöglichkeiten öffentlichen Raumes initiiert werden kann. Zwischen Juni und September 2009 hat das selbe Team schließlich auf der Einhausung der Stadtautobahn am Bindermichl in Linz „Bellevue – Das gelbe Haus“ errichtet, mit Unterkünften für GastkünstlerInnen, einem Infokiosk, einer Kantine mit Gastgarten, einem Fahrradverleih, mit Werk-, Schau- und Medienraum, einer Bibliothek und einer öffentlichen Bühne. „Das gelbe Haus“ ist als Zentrum künstlerischer Interaktion gedacht, das Anrainer, Passanten und andere Interessierte zum Sehen, Kommunizieren und Handeln auffordert.

In diesem Sinn ist auch das von Irina Koerdt und Michael Rieper entwickelte Schauhaus 09 als Festivalzentrum des steirischen herbst primär keine spektakuläre Architekturskulptur – den Anforderungen des Festivals verpflichtet (Kassa, Info, Lager, Studio) setzt es zunächst das Orpheum in ein neues Verhältnis zum umgebenden Stadtraum und bildet eine Erweiterung des öffentlichen Raumes. Frei begehbar inklusive Sonnendeck führt das „Schauhaus“ die BesucherInnen über den ersten Stock und die Terrasse des Orpheum in das Gebäude, wodurch eine neuartige Dramaturgie der Erschließung möglich wird. Als eine Art transparentes Regalsystem wendet sich das „Schauhaus“ gegen jede elitäre Nutzung, indem es eine Verschränkung verschiedenster Interessen und Zugriffe inszeniert: unbehelligt abhängen oder sich für das Programm des Festivals interessieren, Rückzugsgebiet oder Auslage, Arbeitsraum oder Bühne, schauen oder mittun. Damit bezieht sich der Entwurf des „Schauhauses“ zu einem auf das Leitmotiv des diesjährigen Festivals – Gleichheit und Gleichgültigkeit –, zum anderen bezieht es sich als temporäre Intervention auf ein Problemfeld, das für den steirischen herbst ebenfalls von Relevanz ist: Wenn die Definition von Öffentlichkeit nicht ursächlich mit Räumen allein zu tun hat, sondern mit diversen Formen der Aneignung dieser Räume – welche öffentlichen Räume sind dann für welche Öffentlichkeiten entworfen, welche Öffentlichkeiten erwarten sie, erzeugen oder ermöglichen sie? Angesichts der immer offensichtlicheren Ausschlussmechanismen, die den öffentlichen Raum eingrenzen, erscheint es immer notwendiger, zumindest temporär Handlungszusammenhänge zu ermöglichen, die nicht hierarchisch organisiert sind, Zugriffe zu unterstützen, die alle als gleich gültig ansehen, um der zunehmenden Segregation von Öffentlichkeit entgegenzuwirken. So erscheinen temporäre architektonische Interventionen nicht mehr vor dem Hintergrund interessant, inwiefern sie elaborierte Architekturkonzepte skizzieren, sondern welche Art von Öffentlichkeit sie imaginieren, wie sie die Grenzziehungen innerhalb dieser Öffentlichkeit thematisieren, welche sozialen Veränderungen sie simulieren. Mag es auch der emblematischen Ästhetik nicht auf den ersten Blick anzusehen sein, das „Schauhaus“ klinkt sich gerade in der Weise, wie es sich einem Ort, einer Institution, einem kulturellen Umfeld vorblendet, massiv in diese Debatte um die Aufteilung des Öffentlichen und des Sozialen ein. Indem es eine Form der Transparenz einführt, Nähe und Distanz zulässt, die Schaulust anspricht, indem es neue Blickpunkte und Standpunkte – auch auf das Festival selbst – ermöglicht.

Reinhard Braun ist Kurator für Bildende Kunst des steirischen herbst.

Verfasser/in:
Reinhard Braun, steirischer herbst
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