04/03/2013

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien. Sein Forschungsinteresse dreht sich um die Nutzung und Herstellung von Architektur und Stadt mit Schwerpunkt auf Wohnbau, Stadtplanung und öffentlichen Raum.

04/03/2013

Im Fokus: Wohnbau - von März bis Juni 2013 auf www.gat.st

©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Sargfabrik Wien-Penzing

©: Karin Wallmüller

Kabelwerk, Wien-Meidling.

©: Karin Wallmüller

Energiespar-Wohngebäude U 31 in Wien

©: Lukas Schaller

GAT widmet sich ab März 2013 schwerpunktmäßig den Fragen der Qualität des Wohnbaus in Österreich. Ziel ist, aufgrund der Analyse des Ist-Zustands, künftige Entwicklungen in Hinblick auf neue Lebensformen und mögliche Wege zu einer nachhaltigen Qualität im Wohnbau aufzuzeigen und die Erkenntnisse Entscheidungsträgern nahezulegen.
Im Rahmen des Schwerpunkts werden Wohnbauexperten wie Andreas Lichtblau, Architekt und Professor am Wohnbauinstitut der TU Graz sowie Robert Temel, Stadt- und Wohnbauforscher in Wien, ihre Gedanken zu zeitgemäßen und zukunftsträchtigen Wohnformen äußern; es werden Interviews zum Thema geführt, Blicke über den österreichischen Tellerrand gewagt sowie ExpertInnen anderer Disziplinen - Soziologen und Kulturanthropologen - zu Wort kommen. Theoretische Texte, Einblicke in Forschungsarbeiten und Literaturhinweise runden das Thema ab.

Im Fokus: Wohnbau startet am Montag, dem 4. März 2013 und wird in vierzehntägigem Rhythmus bis Ende Juni 2013 fortgesetzt und danach immer wieder aktualisiert.

Leitartikel

ROBERT TEMEL
Qualitäten städtischen Wohnbaus: Das Beispiel Wien

Wenn von Qualitäten des Wohnbaus in Europa gesprochen wird, ist Wien als Beispiel schnell zur Hand: Das liegt einerseits an einem sozialen Wohnbau, der heute in seiner Kontinuität, seinem Umfang und seinem dämpfenden Effekt auf Wohnungspreise wohl einmalig ist. Und das liegt andererseits an einer Qualität, die im Laufe der Geschichte ihre Höhen und Tiefen hatte, aber gerade auch heute zweifellos hoch ist.

Kontinuität des sozialen Wohnbaus
Der Wiener Wohnbau der 2010er Jahre blickt auf eine lange und bedeutungsvolle Tradition zurück: vom Roten Wien über Wiederaufbau und Stadterweiterung der 1960er und 1970er Jahre bis zur Stadterneuerung und inneren Stadterweiterung in den 1980er Jahren sowie zur Liberalisierung ab den 1990er Jahren. In all diesen Jahren, nur unterbrochen zwischen 1934 und 1945, wurde fast der gesamte Wohnbau oder wenigstens ein Großteil öffentlich (mit-)finanziert, und ein Ende ist nicht absehbar. Dabei handelte es sich zunächst weitgehend um kommunalen Wohnbau – der letzte Gemeindebau wurde 2003 fertig gestellt – und heute um geförderten Wohnbau, den großteils gemeinnützige, teils auch gewerbliche Bauträger errichten. Diese Bauträger nehmen Wohnbaufördermittel von Seiten der öffentlichen Hand in Anspruch und müssen dafür das Korsett der Wohnbauförderrichtlinien akzeptieren. Heute gibt es in Wien 220.000 Gemeindebauten, fast ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes der Stadt. Dazu kommen etwa 200.000 Wohnungen, die mit Wohnbaufördermitteln von Bauträgern errichtet wurden. Insgesamt wohnen mehr als die Hälfte aller WienerInnen in öffentlich (mit-)finanziertem Wohnbau.

Wachstum und Wohnungspreise
Wien hat heute 1,7 Millionen EinwohnerInnen und soll innerhalb der nächsten 20 Jahre auf über 2 Millionen anwachsen. Die Wohnungspolitik der Stadt hält die Mieten generell niedrig, setzt Qualitätsstandards und verzögert Segregationstendenzen innerhalb der Stadt. Der geförderte Wohnungsneubau in Wien ist heute jedoch nicht mehr sehr billig, insbesondere hinsichtlich der nötigen Eigenmittel, die einmalig beim Einzug aufgebracht werden müssen. In den letzten Jahren wurde deshalb ein neues Schwerpunktprogramm unter dem Titel Smart-Wohnungen initiiert, das besonders kostengünstige Wohnungen liefern soll. Und auch am Wiener Wohnbau geht die Staatsfinanzkrise nicht spurlos vorüber. 2011 startete der Wohnbaustadtrat die „Wohnbauinitiative“: Das äußerst niedrige Zinsniveau wurde von der Stadt genützt, um Mittel im Ausmaß von 500 Millionen Euro am Finanzmarkt aufzunehmen, die mit geringen Zinsaufschlägen an Wohnbaukonsortien weitergegeben wurden. Im Gegenzug verpflichten sich diese Konsortien, für zehn Jahre Mietzinsobergrenzen einzuhalten und gewissen Qualitätskriterien zu folgen. Weder die Sozialbindung noch die Qualitätssicherung entspricht dabei jedoch den hohen Standards des geförderten Wohnbaus.

Qualitätssicherung
Die Bauträger, die in Wien geförderten Geschoßwohnbau errichten, müssen sich einer Qualitätskontrolle stellen, um Fördermittel zu erhalten. Etwa ein Viertel der geförderten Wohnungen werden im Rahmen von Bauträgerwettbewerben errichtet, einem Instrument, um Förderungen für Anlagen mit über 300 Wohnungen zu vergeben. Dabei bewerben sich Teams aus Bauträgern und ArchitektInnen mit einem Projekt in Konkurrenz um ein Grundstück. Die Projekte werden von einer Jury hinsichtlich Ökonomie, Ökologie, architektonischer Qualität und sozialer Nachhaltigkeit bewertet. Bei den restlichen drei Viertel der geförderten Wohnungen werden die Projekte durch den Grundstücksbeirat nach denselben Kriterien bewertet – das Qualitätsniveau ist dabei niedriger, weil die Jury nicht zwischen Alternativen wählen kann. Die Qualität der Architektur ist somit hoch; weniger gut sieht es mit Städtebau und Freiraum aus.

Probleme bei Städtebau und Freiraumplanung
Dabei gibt es mehrere grundsätzliche Probleme: Das Wohnbausystem ist auf die Entwicklung großer Einzelgebäude ausgerichtet. Deshalb stimmen sich die ArchitektInnen und Bauträger dieser Objekte kaum ab, der schließlich entstehende Stadtraum wirkt wie eine Ansammlung autonomer Häuser, die kaum etwas miteinander zu tun haben. Dies wird noch verstärkt durch die ökonomisch und politisch (große gemeinnützige Wohnbauträger) bedingte Ausrichtung auf sehr große Einzelgebäude mit oft etlichen hundert Wohnungen. Dazu kommen die langjährige Vernachlässigung der Planung des öffentlichen Raums und die Ausrichtung auf eine Erschließung durch motorisierten Individualverkehr. Und schließlich bewirkt die Dominanz des Wohnbaus und die Spezialisierung des Immobiliensektors eine massive Entmischung von Funktionen – die Wiener Stadterweiterung stellt üblicherweise Büroviertel und Wohnviertel nebeneinander, ergänzt durch einzelne Infrastruktureinrichtungen. Mit dem Stadterweiterungsprojekt Seestadt Aspern wird erstmals in großem Maßstab versucht, viele der genannten Probleme zu überwinden; doch daran, Löcher in das Brett der üblichen Methoden der Wiener Stadterweiterung zu bohren, werden noch viele arbeiten müssen...

Neuer Boom der Baugruppen
Eine Neuerung mit langer Tradition ist das Wiederaufleben des partizipativen Wohnbaus in Wien: Nach Projekten wie „Wohnen mit Kindern“ und B.R.O.T. von Ottokar Uhl sowie der Sargfabrik von BKK-2 zwischen 1980 und 2000 wurde für fast zehn Jahre kein einziges Mitbestimmungsprojekt realisiert. Doch 2009 konnten wieder drei neue Projekte bezogen werden, die alle innerhalb des geförderten Wohnbaus gebaut wurden: die beiden Frauenwohnprojekte [ro*sa] in Kagran und im Kabelwerk sowie das Projekt B.R.O.T. 2 in Kalksburg; weitere Projekte sind bereits realisiert oder in Entwicklung. Einen Schub in diese Richtung brachte die Ausschreibung eines Bewerbungsverfahrens für Baugruppen 2011, in dem Grundstücke in der zukünftigen Seestadt Aspern vergeben wurden. In den kommenden Jahren werden dort insgesamt 6 Baugruppen mit etwa 200 Wohnungen und völlig unterschiedlichen Ausrichtungen entstehen. Ähnliche Prozesse in weiteren Stadterweiterungsgebieten werden wohl folgen.

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