25/10/2014

Der steirische herbst 2014 stand unter dem Motto I prefer not to ... share! Ich ziehe es vor, nicht zu teilen. Wenn der steirische herbst mit seinem Leitmotiv Anleihen an Herman Melvilles Verweigerer Bartleby nimmt, dann weil wir zerrissen sind – zwischen dem Wissen, dass wir mehr teilen und gleichzeitig auf mehr verzichten müssen, wenn wir das Auseinanderdriften der Reichsten und Ärmsten auf diesem Planeten stoppen wollen. (Zitat aus dem Programm)

Wilhelm Hengstler teilt mit GATleserInnen seine persönlichen Eindrücke.

25/10/2014

steirischer herbst 2014: Grace Ellen Barkey / Jan Lauwers / Needcompany: All Tomorrow's Parties I+II

©: Wolf Silveri

steirischer herbst 2014: Árpád Schilling / Krétakör: A Párt – Die Partei –The Party

©: Wolf Silveri

steirischer herbst 2014: Young Jean Lee: Straight White Men

©: Wolf Silveri

steirischer herbst 2014: Gunilla Heilborn: Gorkij Park 2

©: Wolf Silveri

steirischer herbst 2014: Die Transmissionare: Nein, ich will! Eine Hochzeit für alle

©: Wolf Silveri

steirischer herbst 2014: Marino Formenti: One to one / One for the road

©: J.J. Kucek

steirischer herbst 2014: musikprotokoll 2014, Richard Mosse: The Enclave

©: Richard Mosse

Abgerechnet wird zum Schluss. Da holt die gesellschaftliche Leistungsrationalität die alternative Utopie des Festivals steirischer herbst wieder ein. Die Strecke beläuft sich dieses Jahr auf 527 Einzelveranstaltungen in 24 Tagen mit über 1.000 Künstlern und Theoretikern und mehr als 50.000 Besuchern.
War es ein guter herbst und was hat ihn dazu gemacht? Ein Besucherrekord? Hervorragende Produktionen? Eine punktgenaue Abrechnung? Ein Skandal? Ein geniales bzw. genial umgesetztes Leitmotiv?

Intendantin Kaup-Hasler eröffnete vor dreieinhalb Wochen in der Listhalle mit einem mittelschweren, intellektuellen Missbrauch. Wie sonst könnte man die Inanspruchnahme von Bartlebys enigmatischen Ausspruch in ihrer rundum anschlussfähigen Rede (... für Teilen, aber auch wieder nicht, für Energiesparen aber auch Autofahren...usw) nennen? Der Schreiber Bartleby ist nicht nur die rätselhafteste Gestalt Hermann Melvilles, sein Ich möchte lieber nicht stellt auch die konsquenteste, die selbstzerstörerischste Verweigerung dar, die sich denken lässt.

GRACE LEN BARKEY/JAN LAUWERS/ NEEDCOMPANY, All Tomorrows Parties I + II. Jan Lauwers, der Chef der Truppe sagt in seinem Interview für Theorie zur Praxis, dem Zentralorgan des herbstes für orientierungslose Besucher, kulturpolitisch nur Kluges. In der Listhalle sollte eine programmatische Aufführung stattfinden, extra für Graz und speziell auf das Motto I prefer not to...share zugeschnitten. Armes Graz. Leider ging das Konzept eines vazierernden Publikums, das sich Essen und Theater gleichzeitig teilt, nicht auf. Wer einen Sitzplatz gefunden hatte, dem war bald der Blick verstellt. Zu sehen bot die zweifellos virtuose Truppe vor allem endlose Umzüge, Tänze, und - zugegeben - appetitliche Einblicke unter die kurzen Röcke der Tänzerinnen. Und die übermäßig strapazierte Figur des Clowns ist im Showbusiness von ähnlich gefährlicher Sentimentaliltät wie Träume in der Literatur. Ein weniger abgehärteter Gast aus Nigeria sagte: "Jetzt weiß ich was Avantgarde ist - weiße, ältere Spielmacher, bei denen selbst Lou Reed am Ende nach Country & Western klingt."

Aber Eröffnungen, ob gelungen oder misslungen, sind noch nicht der ganze herbst. Und wie jeder weiß, lässt sich praktisch jede Veranstaltung unter den fadenscheinigen Schirm eines Mottos argumentieren. Wie war er also, der herbst? Ein Gesamtbild kann bei den hunderten, bis in die Provinz streuenden, ungeheuer diversifizierten Produktionen kaum jemand entwickeln - außer, vielleicht, die Intendantin. Theater, Film- oder Literaturkritik werden solcher Überangebote mit dem analytischen Instrument der Bestenlisten Herr; hier also ein entsprechender Versuch für das Festival. Und wie im steirischen herbst selbst muss man auch bei diesem Rückblick nicht alles konsumieren.

SHORTLIST

MARIA HASSABI, Premiere. Entschleunigung pur. Fünf Personen liegen bzw. stehen schweigend im Dom im Berg zwischen zwei enormen Scheinwerferbatterien während das Publikium an ihnen vorbei zu den Stuhlreihen geht. Und so bleibt das auch während der nächste Stunde, nichts ist zu hören, außer einem gelegentlichen Knacken der Scheinwerfer und dem Quietschen von Haut auf dem Boden. Die unmerkliche Bewegungen der Tänzer mit Zeitlupe zu beschreiben, würde den Eindruck viel zu hoher Geschwindigkeit erzeugen. Verfolgt hat man eher das Wachstum von Tropfsteinen und trotzdem begreift man in der Arbeit der aus Zypern stammenden Künsterin, wieviel übersehen wird. Bei etwas Mut für die Eröffnung sehr viel passender als All Tomorrows Party.

ARPAD SCHILLING, The Party is over - but we keep on going!. Schlechte Zeiten provozieren gute Kunst. Also fördert Victor Orban den auch international hoch dekorierten ungarischen Theatermacher Arpad Schilling gerade, indem er ihm die Subventionen kürzt und auch sonst drangsaliert? In seinem Kampf um Selbstbehauptung greifen der Theatermacher und seine Gruppe Kretakör zu agressiver Selbstbeschädigung und agressivem Ficksprech, um die Gewalt, die ihnen angetan wird, deutlich zu machen. Am Anfang zieht sich Arpad Schilling gleich einmal nackt aus, am Ende, nach vielen irrwitzigen, brecht`schen Szenen, liegt er in Windeln, mit einem Plastiksack über dem Kopf pflegebedürftig auf der Couch. Dazwischen lässt Schilling ständig die Rahmen(bedingungen) von politischer und Theaterrealität ineinander laufen und nimmt Mitläufer -  Künstler und andere - virtuos auf`s Korn. Für dezenten Geschmack ist da kein Raum, einige Zuseher vertrieb der hoch artistische Wutausbruch auch aus der Gleichenberg-Halle. War dieser große, wütende Abend in der Provinz verschenkt, oder gehörte er grade dorthin?

YOUNG JEAN LEE, Straight White Man im Orpheum: eine etwas andere Sitcom in drei Akten über das schwere Leben der amerikanischen, weißen, männlichen Mittelklasse. Sinnsuche auf so lockerem wie hohem Nieveau. Für Geschwister, die ihre fröhliche, grausame Zuneigung wiedererkennen; toll getimt, toll gespielt, Pflicht für die Mimen des Schauspielhauses. Nicht unbedingt Avantgarde, aber was soll`s.

LONGLIST

BORISD CHARMATZ, manger. Der Kaumuskel als Tanzmuskel, eine ganze Tanzkompagnie beim Verzehr von Oblaten in DIN A Format. Während des Kauens in der Listhalle entwickelten sich anschwellende, manchmal sehr schöne Gesänge, die dann in selbstvergessener Konzentration der Protagonisten auf sich selbst münden. Gelegentlich wird auch versucht, den Nebenmann mit zu vernaschen, nur reichen Lust oder Appetit nie zu einem ordentlichen Happen. Ein wunderbarer, eleganter Abend mit wunderbar sympathischen Tänzern, dem aber dann doch das Mitreißende fehlte: Wegen der etwas kräftigen Symbolik? Wegen des monotonen Timings? Wegen des Verzichts die durchaus gegebenen Solo-Performances gegen das Kollektiv auszustellen?

BAROCKTHEGREAT, Victory Smoke. Die unheimliche Reduktion, die die italienische Formation bot, war derart dicht, dass sich die Frage nach irgendwelchen Bedeutungen gar nicht stellte. Erst ist der Bühnenboden von einem schwarzen Fünfeck dominiert, über dessen Ränder die Silhouetten der schwarzgekleideten Tänzer ragen. Zwei Musiker sind in der Diagonale positioniert, der eine sondert Gitarrenriffs ab, der andere werkt an der Drummachine. Dazwischen entwickelt sich ein geheimnisvoller Tanz in reiner Monochromie. Erst am Ende vollzieht ein Tänzer allein magische Schritte in einem Oval aus grünem Licht... und das ist auch schon das Ende dieses düster-dynamischen, archaisch-technoiden Tanzwirbels.

GUNILLA HELBORN, Gorkij Park 2: Eine Theaterarbeit, die  sich, ausgehend von Michael Apteds Film Gorkij Park (1983) in sehr freier Assoziation mit dem russischen Revolutionsdichter, dem nach ihm genannten Park, seinem Museum, aber auch mit russsicher Folklore, mit Verrat und Tod, dem Luftfahrer Kapitän Andres und dem Diktator Stalin beschäftigt. Die Musikalität, der Sound der Aufführung war außerordentlich, die Scherze schwebend-absurd, das Spiel nonchalant. Nur bringen es dekonstruktivistische Inszenierungen, sofern sie nicht mit Überwältigung durch Effekte arbeiten, mit sich, dass sie bald ins Nirgendwo führen.

NATURE THEATRE OF OKLAHOMA, LIfe and Times - Episodes 4,5, - 5 – 6 im Mumuth. Die immer unterschiedlichen Inszenierungen der genre- und werküberschreitenden Gruppe nehmen transkribierte Telefonate ihrer Mitgllieder zum Ausgangspunkt. Und wenn, wie für Nr. 6 der Mitschnitt fehlgeschlagen ist, dann tritt die freie Erfindung an Stelle der Biografie. Eine zusätzliche Besonderheit besteht darin, sich stets einer neuen Form zu bedienen. Nr. 4,5 bestand aus dem großflächig gezeichneten Trickfilm der Protagonistin aus der Zeit ihrer Adoleszenz inclusive Hauskatze, Bruder, Vater, etc. Die klaren Bilder unterlegt von einer Gesangsstimme evozierten eine unaufgeregte, tiefe Traurigkeit über eine nur vermeintlich idyllische Jugend. In 5 gab`s 45 Minuten dann kollektive Pflichtlektüre eines mittelalterlich wirkenden Pornocomic zu E-Pianokrach. Das Lichtdesign für den Pianisten war hervorragend, die Einschulung der Heldin in`s Sexualleben per Comic cool... aber, hey! Spezialisten können das noch besser. In Nr. 6 schließlich, der Teil, für den das Originalmaterial fehlte, argumentierte die Truppe absurd über Sinn von Leben & Kunst. Worum ging`s bei dem Aufwand zuvor?

ANN LIV YOUNG, Elektra. Tiere und Kinder sind im Showgeschäft nicht zu schlagen. In Ann Liv Youngs sehr, sehr freier Version der Elektra war der Star eindeutig ein Schweinchen, das im Sand der Rundbühne schnüffelte und sich ansonsten möglichst weigerte, aufgehoben zu werden. Ansonsten gab es allerlei trashigen Mythos, drei Tänzerinnen, ein goldenes Schwert, einen goldenen Zweig (Frazer, The Golden Bough?), einen absichtlich misslingenden Balanceakt auf einem Thron und eine doppelte Elektra. Orest kommt erst, nachdem der zum Krautkopf mutierte Agamemnon zermanscht bist. Irgendwann sind alle schön nackt und im Dunkel ertönt ein schauerlicher Schrei: Licht, eine Nackte klammert kopfüber an den Oberschenkeln Orests, der hält, assistiert vom alter Ego Elektras, ein abgeschlagenes Haupt – wessen? es ist nicht der Krautkopf – am ausgestreckten Arm. Das Publikum weiß lange nicht, dass es applaudieren soll, und dem jungen Mann wird der Kopf langsam zu schwer. Überraschend kurzweiliger Abend gemessen an der üblichen monomanschen Selbstüberhöhung der Regisseuse… Schwein gehabt.

LUNDAHL & SEITL haben es mit An Elegy to the Medium of Film in den Wettbewerb geschafft. Auch in diese hochgelobte, leicht überschätzte Installation findet nur jeweils eine kleine Gruppe Einlass. In der dunklen Ebene 3 des Schauspielhauses erinnern die 3-D Bilder eines nördlichen Mischwaldes an das Panorama in den Fünfzigerjahren in Graz. Nur waren die beleuchteten, im Kreis rotierenden Schaukästen stumm; hier wird eine melodische Stimme nicht aufhören über das Drinnen und Draußen in Bildern und die ultimative Wahrnehmung im Kino zu referieren. Möglicherweise schlau, aber wie soll man das in der Geschwindigkeit mitkriegen? Irgendwann gibt`s viel schlechtere Bilder von Breughelbildern aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum, außerdem eine kurze Anleihe (oder vielleicht sogar Leihe?) aus Lech Majewski`s Film The Mill and the Cross. Schließlich wird`s stockdunkel und im besten Teil der Installation wird der seiner Gewissheiten beraubte Besucher an beiden Händen im Kreis gedreht, umhergeführt und angehalten, Körperempfindungen wie Fliegen zu imaginieren. Nicht übel, eine effektvolle Geisterbahn ohne Gespenster.

JÖRG ALBRECHT/ GERHILD STEINBUCH, You`re not the same. Der Plot zielt auf eine Neuverfimung, für das Casting sind ausschließlich Frauen vorgesehen, es geht aber auch um die systemstablisierende Funktion des mythischen Helden und nicht zuletzt um sehr persönliche Hommagen an ihn. Jedenfalls das Beste, was die beiden bisher im Heimatsaal gezeihgt haben. Das Duo überträgt für seine literarische Collage das Karaokeprinzip vom Singen gleich auf das Showbusiness insgesamt; die beiden arbeiten mit Tanzschritten, Gesang und Entertainerposen ohne etwas davon wirklich zu beherrschen, alles eingebettet in eine schnelle Lichtregie. Das Ergebnis ist erfreulich unpretentiös, die Texte interessant: Ausbaufähig.

AUSSERHALB DES WETTBEWERBS

CHRISTINE GAIGG/ 2ND NATURE, Maybe the way you made love twenty years ago is the answer. Vom Dom im Berg eine Zeitreise zurück in die Sechziger bzw, Siebziger, als der Sex (für die Rundumbefreiung) angeblich noch geholfen hat. In ihren a-chronologisch vorgetragenen Tagebucheintragungen bemühte sich die immer noch sehr ansehnliche Vortragende um eine Art politisch korrekte Schamlosigkeit, während "um`s Eck" ihrer Installation ihre Tanzzgruppe – aus zwei Mädchen und einem Jungen bestehende Formation – sich in anrührender Jugendfrische für eine durch und durch klinische Orgie entkleideten. Die proper in Jeans und Bluse gekleidete Choreografin als Entsprechung von Meister Proper wiederholte in ihrer Aufführung also genau die autoriztären Verklemmungsmuster, die aufzubrechen sie versprach. Die tragische Maryse Holder in diesem Zusammenhang zu strapazieren ist ... Schön allerdings der Wunsch ihres Sohnes sich für einen Maskenball als Morgenerektion zu verkleiden. Gut gemeint und weit daneben.

THOMAS EBERMANN/KRISTOF SCHREUF/ANDREAS SPECHTL/ROBERT STADLOBER, Der eindimensionale Mensch wird 50. Guter Einstieg, die biografisch-essayistische Einführung Thomas Ebermanns war informativ, engagiert und dabei (selbst)ironisch. Und die berühmte Streitschrift der 68er die für einen Gegenentwurf zur bestehenden Entfremdung  plädiert, ist vielleicht immer noch gut als Lackmustest für eine Gegenwart, die korrumpierter ist, als alles was damals verteufelt wurde. Aber dann scheint Ebermann das Heft unvorsichtigerweise seinen jugendlicheren Kollegen überlassen zu haben: Ihr Konzert-Theater bot an Stelle von Diskurs nur Musikkrach, statt Neugier auftrumpfendes Pathos - dabei hat der Schlagzeuger krankheitshalber noch gefehlt. Gezeigt wurden immergleiche Videos (eines davon mit Marcuse), gleiche, schampig inszenierte Dialoge und vor allem die Pose, irgendeine Revolution mittels einer Art Kunst in eine Utopie weiter voranzutreiben. Dazu strange Ankläge an Rilke. Thomas Ebermann durfte sich  nur noch einmal kurz und undeutlich melden; wie schön wäre ein federnder Diskurs zwischen ihm und seinen Kollaborateuren gewesen; man wünscht sich ein verbessertes Remake. Vielleicht nächstes Jahr?

DIE TRANSMISSIONARE Nein, ich will! Eine Hochzeit für alle. fand ebenfsalls im Heimatsaal statt und war, wie die meisten Veranstaltungen dort rundum unbefreidigend. Aber so sollte es nach dem Konzept der Autorin Natascha Gangl und der Regisseuse Kathrin Mayr auch sein. Das Ritual der Hochzeit wird zum Ausgangspunkt für Wege in die Irre, für das Enttäuschen von Erwartungshaltungen, wobei der Diskurs sich immer weiter fortsetzt. Allerdings bleiben auch die bloß prätendierten Sinnangebote blass, das sinnlich oder ironisch Gemeinte (wie ein Absperrungsband, oder auf die Serviette geschriebene Gerichte) geraten zu bloßen Illustrationen des Textes, das Theater wird zur lauten Sinnsuche mit verteilten Rollen, die zwischen undefinierten semantischen Ebenen changiert. Wenn nichts eingehalten wird von dem, was das Konzept so schön verspricht, und eben das sein Kern ist: Großartig!
 
SONDERREIHE
Einige der faszinierendsten Veranstaltungen lassen sich nicht in Listen zwängen, für sie gibt`s die Sonderreihe.

RICHARD MOSSE, The Enclave (als Veranstaltung des Musikprotokolls) im Cafe Luise im Kunsthaus: Auf sechs Projektionsflächen werden Filmbilder mal simultan, mal abwechselnd aus dem Bürgerkrieg im Kongo gezeigt - schlimme Sache, noch dazu ohne Sitzgelegenheit. Und der farbliche Verfremdungseffekt durch den verwendeten Infrarotfilm ist dazu angetan, die nervöse Reizbarkeit noch zu steigern. Wer das aber einmal hinter sich hat, den erfüllt tiefer Respekt vor der monumentalen Arbeit des irischen Filmemachers Mosse und seines Kameramanns Trevor Tweeten, die für diese conditio humaine zwei Jahre vor Ort gedreht haben. Zu erleben ist in diesen unkommentierten, bis auf O-Töne stummen Film(en), eine Enzyklopädie des Grauens, aber auch Bilder gelegentlicher Hilfe und Solidarität. Am merkwürdigsten eine Halbtotale, in der ein junger Mann mit umgehängter Guzzi von der Kamera weg und in einen Fluss hineingeht, bis sich das Wasser über seinem Kopf schließt. Die Kamera bleibt ohne Schnitt auf den Wellen, aber der Untergegangene kommt nicht wieder.

HEISZE OHREN, ohne Zweifel ein semantischer Scherz in Kornberg, glich einem Veteranentreffen österreichischer Avantgarde bzw. der Exilwiener im Burgenland. Das ortsansäßige Publikum bekam schnell kalte Füße und wärmte sich an den Feuern im Hof, während drinnen die Performance anlässlich eines Films von Kurt Mayer über das Kürbisputzen ablief. Frau Wiener verteilte (heiße) Schweinsohren, deren Zubereitung hinter ihr groß auf die Wand projiziert wurde. Und nebenher produzierte Oswald Wiener, gefürchteter Rudelführer der Wiener Gruppe, auf seinem Laptop Musik. Assistiert wurde er dabei von einer Violinistin, einer Cellospielerin, einem Elektronik- und einem Lärmdesigner, die es insgesamt schafften, die Ohren anders zu erhitzten. Toll! Jedenfalls für Avantgardenostalgiker.

BENJAMIN VERDONCK, notallwhowanderarelost im Festivalzentrum: eine  kleine, große Arbeit, die in ihrer Bescheidenheit an einen Wanderkünstler denken lässt. Der Schauspieler und Performancekünstler bietet ein völlig transparentes, so kluges wie poetisches Ideentheater. Begleitet von einem Gitarristen agiert er neben einem mit "Aufzügen" gefüllten kleinen Kasten, dessen Prospekte er mit Schnüren bewegt. Auf den Tafeln zeigt er einfache Sätze, die Bilder einer Realität im Kopf des Publikums entstehen lassen. Das scheint einfach, ist aber in seiner zurückgenommenen Konzentration sehr klug, sehr medidativ und sehr elegant. Was hätte Wittgenstein zu Verdoncks Umgang mit Sprache gesagt? Jedenfalls ist die Zahl der Zuseher der kleinen Bühne wegen sehr beschränkt.

MARIO FORMENTINI, One to One & One for the Road. Der Star dieser Sonderreihe war zweifellos der Pianist Formentini, der in One to One das Spiel für/mit den Zuhörern extrem betrieb, indem er an unterschiedlichen Orten jeweils nur für einen Hörer spielte. (Der Kritiker, zu schüchtern, um sich dem Meister zu nähern, kann darüber nichts berichten. Es soll aber nicht geschmerzt haben). Der Italiener "gastierte" bereits voriges Jahr mit nowhere im wahrsten Sinn des Wortes als er über acht Tage und Nächte im Stadtmuseum musizierte, ohne es zu verlassen. 2014 ist der Liebling des Festivals mit seinem musikalischen Vieraugengespräch wohl das leibhaftíg gewordene Motto des steirischen herbstes. Sein one for the road am Sonntag Vormittag des letzten Wochenendes erinnerte an die Proust`schen Salons in der Recherche, wobei unklar blieb, ob man bei den Verdurins zu Gast war oder bei den Guermantes. Für Formentini dient das Klavierspielen (wie das Schreiben für Proust) der Neugier auf andere, dem Ausforschen, wie weit der Hunger nach Nähe reicht, und wann der Überdruss daran einsetzt. Dafür trägt er mit sich ein Klavier in seinem Körper herum, das er in geeigneter Umgebung herauslässt. Auf ihm - mal ein Steinway mal ein Wegenstein -spielt er dann Zaubertöne, erzeugt vergängliche Klangräume, die er mit seinen Zuhörern für eine kurze Weile teilt. Und schön an dieser Matinee bei den Honoratioren von Gleichenberg war, dass auch ein kleiner Beitrag von dem greisen Oswald Wiener kam, der dafür, gleich wie im nahe gelegenen Kornberg, die gleich Regie übernahm. Anrührendes, sehr gelungenes Ende des Festivals. 

Wie war er nun, der herbst. Man muss schon sagen, so wie er ist, kann er nicht besser gemacht werden. Und die freilich erst durch eine zusätzliche Dotierung ermöglichte Öffnung in ländliche Bereiche hat ebenfalls fuktioniert. Besser könnte - vielleicht - nur ein anderer herbst sein. Ein Intendant steuert mit seinem persönlichen Schwerpunkt das Festival auch in eine bestimmte Richtung, daher sind Richtungsänderungen Gegenstand kulturpolitischer Entscheidungen. Wie der Vorige ein Besessener der Neuen Musik und des Musiktheaters war, hat es Veronika Kaup-Hasler eben mit dem dekonstruktivistischen Theater.

Daneben bestehen freilich Lücken, von denen die schmerzhafteste die Absenz der Literatur und zwar keineswegs bloß der hiesigen ist. Und nach seiner verdienstvollen Öffnung für die Jugend verharrt das Festival in einer merkwürdigen Angebotsroutine. Warum in der Bildendenden Kunst stets alle hiesigen Galerien mit ihrem gewiss akzeptablen aber doch eintönigen Angebot das jeweilige Motto bebildern müssen, bleibt zum Beispiel schleierhaft. Auch im Bereich der Kuratoren bestehen noch Gestaltungsspielräume.

Bis Weihnachten dieses Jahres muss der steirische herbst 2015 jedenfalls konzipiert sein. Auch die Kultur ist, wie man sieht, ein hartes Dienstleistungsgewerbe, erleichternd ist allenfalls, dass viele Künstler von Gästen zu Stammgästen aufsteigen. Alles soll sich um das Begriffsfeld heritage ranken. Was für ein Thema für die Produktion von noch mehr philosophischer Schmuckprosa.

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