26/12/2013

Med-Campus Graz

Generalplanung:
Riegler Riewe Architekten
Wettbewerbsgewinn 2010
Planung seit 2010

Realisierung: 2012 - 2018

26/12/2013

Med-Campus Graz, November 2013

Architektur: Riegler Riewe Architekten ©: Wenzel Mraček

Koldom, Projekt für ein Kollektivhaus von Josef Havlíček und Karel Honzik, Prag 1929/30. (Foto: Archiv Vladimír Šlapeta, mit freundlicher Genehmigung)

Med-Campus Graz, Modell

©: paul ott photografiert

Herausgegeben von Winfried Nerdinger erschien im Vorjahr L'architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft als begleitende Publikation zur gleichnamigen Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne.(1) Darin behandelt der Architekt und Architekturhistoriker Vladimír Šlapeta in seinem Essay Kollektivhaus und Wohnen im Existenzminimum – Eine tschechische Utopie die, auch ideologisch motivierte, Geschichte der Kommunalbauten in der Tschechoslowakei vor allem während der Zwischenkriegszeit.

Schon 1921 veröffentlichte der Architekt Pavel Janák Entwürfe von Le Corbusiers Wolkenkratzer erstmals in einer tschechischen Zeitschrift. In seinen ablehnenden Kommentaren führte er an, dass solche Entwürfe „alle Schrecken und Schicksalhaftigkeiten der mechanischen und mathematischen, amerikanischen Methode“ aufzeigten und empfahl stattdessen die Dezentralisierung der Großstädte und die Auflösung ihrer Dichte durch Errichtung von Familienhäusern in Gärten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass nur wenige Jahre später Moisei Ginsburg und Michail Ochitowitsch in Moskau noch den „Desurbanismus“ in Anlehnung an Henry Fords Industriemodell propagierten. Ginsburg und Ochitowitsch legten dabei ihr Modell für die „Grüne Stadt“ nahe Moskau bzw. Magnitogorsk vor.(2)
Wie das nachgerade gegenteilige Konzept, mit Vorbildwirkung für die im Folgenden dargestellten Entwicklungen in der Tschechoslowakei, erscheint dagegen Ginsburgs und Ignati Milinis‘ gleichwohl von Le Corbusier beeinflusster Bau des Narkomfin-Kommunehauses 1928/29 in Moskau.

Dieses letzte Anklingen des Prinzips der Gartenstädte sollte aber demnächst vergessen sein, nachdem Le Corbusier, wie Šlapeta es beschreibt, zum einflussreichsten „Navigator“ der tschechischen Avantgarde reüssierte. Schon 1922 wurden in der Zeitschrift Stavba (Bau) weitere Entwürfe Le Corbusiers gezeigt, versehen mit Kommentaren des Künstlers und Kulturtheoretikers Karel Teige, der durch sein Schriften und Vorlesungen in den folgenden Jahren die herausragende Position des französisch-schweizerischen Architekten in der Tschechoslowakei festigte. Maßgeblich in der Folge waren die Vorlesungen Le Corbusiers 1925 in Prag und die Beteiligung tschechischer Architekten an der Exposition Internationale des Arts décoratifs et industriels im selben Jahr in Paris. Eine erste Manifestation des „Corbusianismus“ entstand in Prag mit dem Umbau seiner eigenen Villa durch Evžen Linhart.

Nach Vorlesungen über Soziologie und Architektur am Bauhaus in Dessau und dem inzwischen deutlichen Interesse am russischen Konstruktivismus deklamierte Karel Teige seine Thesen, Architektur sei keine Kunst, sondern eine Wissenschaft. Damit verschob sich auch seine Haltung gegenüber Le Corbusier und dessen gleichermaßen künstlerischen Auffassung von Architektur.
Zunehmend entwickelte Teige sein marxistisch beeinflusstes Weltbild und orientierte sich an sowjetischen Vorbildern, vor allem an Bauunternehmungen wie den Moskauer Kollektivhäusern (Koldomy) der Architektengruppe Ginsburg, Pasternak, Wladimirow und Barstsch. Während der Weltwirtschaftskrise beteiligte sich Teige an der Aufstellung der Linken Front, gründete deren tschechoslowakische Abteilung und erklärte diese 1930 zur tschechoslowakischen CIAM-Gruppe.
Sehr wahrscheinlich ist Teiges Einfluss auf den Erlass eines Gesetzes im Frühjahr 1930, mit dem man der zunehmenden Wohnungsnot in der Tschechoslowakei begegnen wollte. Nach Moskauer Muster ging es darum, Baumaßnahmen zur Errichtung von Kleinstwohnungen zu befördern und Karel Teige veröffentlichte dazu Auszüge seiner Schrift Zur Soziologie der Architektur in der Zeitschrift ReD unter dem Aspekt des Zerfalls der bürgerlichen Familie und neuen Formen des Wohnens in Kollektivhäusern:

„Eine Kleinstwohnung im Kollektivhaus sollte man als eine individuelle Wohnzelle betrachten. Diese Zellen werden in große Wohnbienenstöcke zusammengefügt. (3) Aus den Lebensgewohnheiten der Klasse resultiert die Notwendigkeit einer Auflösung der Familienwirtschaft und die Vergesellschaftung der Kindererziehung.“ Durch die Kollektivhäuser wären alle kulturgesellschaftlichen Prozesse in öffentlichen Gebäuden untergebracht, weshalb „die Formel der Kleinstwohnung eine Wohnkabine wäre. Deshalb kann diese Wohnzelle räumlich tatsächlich auf ein Minimum beschränkt sein, … weil aus ihr alles, was nicht zu der Wohn- beziehungsweise Privatfunktion gehört, ausgeschlossen ist. … Es wird ein dauerhaftes Zusammenleben zweier Personen in einem Element ausgeschlossen.“(4)

Die tschechische CIAM-Gruppe folgte solchen Argumenten Karel Teiges, woraufhin die Redaktion der Zeitschrift Tvorba 1930 einige bedeutende Architekten wie Jaromír Krejcar, Josef Chochol, Josef Havlíček und Karel Honzik zunächst um Vorschläge konsultierte. Die sich ebenfalls an Le Corbusier orientierenden Architekten Havlíček und Honzik veröffentlichten in diesem Rahmen ihr Idealprojekt eines Kollektivhauses (Koldom, 1929/30). „Der Komplex“, wie ihn Vladimír Šlapeta beschreibt, „bestand aus zwei Scheiben auf Stützen [Pilotis] und sah im Inneren minimale Wohnzellen verschiedener Größen sowie im Erdgeschoß Gesellschafts-, Verpflegungs-, Hygiene- und Wirtschaftsfunktionen vor.“

Für einen kurz darauf ausgeschriebenen Wettbewerb um Kleinstwohnungen für zwei Prager Stadtteile adaptierten Havlíček und Honzik ihr Koldom und reichten den Entwurf CIRPAC ein, der allerdings aufgrund seiner Ähnlichkeit zum gerade publizierten Narkomfin-Haus von Ginsburg und Milinis nicht berücksichtigt wurde. Dagegen protestierte wiederum Karel Teige, der Koldom und CIRPAC auf dem 3. CIAM-Kongress in Brüssel im November 1930 präsentierte.

In Prag folgten noch zwei weitere Wettbewerbe für Kleinstwohnungen. Das Prinzip des Kollektivhauses nach den beschriebenen Mustern wurde jedoch nie realisiert.

Grund dieser ausführlichen Vorrede nun ist der in seiner Form durchaus vergleichbare, freilich völlig anderem Zweck gewidmete Entwurf für den in Graz im Bau befindlichen Med-Campus nach Entwürfen und Konzept von Riegler Riewe Architekten, Graz. Womit die eventuell anklingende Frage um die Möglichkeit verschiedener Nutzung des historischen und nie ausgeführten Entwurfs gegenüber dem formal vergleichbaren Neu- oder Erstbau auch schon beantwortet sein sollte.

Ähnlich aber auch Šlapetas Beschreibung (s.o.) des 29er-Modells Koldom und die Projektbeschreibung von Riegler und Riewe auf der Website der Medizinischen Universität Graz (http://www.meduni-graz.at/22520):

„Das Projekt implementiert unter größtmöglicher Berücksichtigung der städtebaulichen Vorgaben ein klar strukturiertes Ensemble aus kohärenten Baukörpern, das einerseits durch seine charakteristische Ausprägung ein Identifikationspotential im städtebaulichen Kontext darstellt, andererseits durch die differenzierte Strukturierung der Volumina ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Bebauung und Freiräumen, zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Nutzungen erzeugt. …
Das Projekt reagiert auf diese vielfältigen Anforderung vor allem durch vertikale Staffelung der Nutzungsbereiche: …
Über der Ebene der Lehre befindet sich die eigentliche Campus-Ebene. Auf dieser Ebene werden durch rad- und fußläufige Ost-West-Verbindungen beide Bereiche miteinander verbunden. Sie bietet gleichzeitig Zugang zu gemeinsamen Einrichtungen wie z.B. der Mensa und dem Cafe einerseits und andererseits wird eine horizontale Verbindung und Verteilung aller Funktionen innerhalb des Areals geschaffen.
Zudem werden großzügige Freiräume im westlichen und östlichen Bereich ausgebildet.“

Wurde aus Koldom 1929/30 der Grazer Med-Campus 2009/16?

(1) Eine Rezension dieses Bandes erscheint demnächst auf GAT
(2) Vgl. Jean-Louis Cohen: Kommunehaus und ‘Bandstadt’ in der UDSSR, ebda
(3) Anmerkung Mraček: An der Entwicklung solcher Wohnungstypen arbeitete der Grazer Architekt Herbert Eichholzer 1932/33 im Standardgor-Projekt in Moskau. In Artikeln, die er während dieser Zeit in Österreich veröffentlichte, äußerte sich Eichholzer deutlich skeptisch gegenüber den Moskauer Modellen, wie sie Karel Teige in vergleichbarer Form für die Tschechoslowakei befürwortete.
(4) Zitiert aus Vladimír Šlapeta, Kollektivhaus, in L'architecture engagée, s.o.

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