19/10/2016

WIR HABEN´S GESCHAFFT

Wie schaffen das – wir haben`s geschafft. Der neunte steirische herbst unter der Leitung von Veronica Kaup-Hasler ist vorbei: 24 Festivaltage, 139 Projekte, mehr als 50.000 Besucher, 90 % Auslastunge bei szenischen Produktionen und Konzerten. Was lässt sich außer diesen trockenen Erfolgen resumieren?

19/10/2016

Milo Rau – Empire

©: Marc Stephan / IIPM

Taoufiq Izeddiou – En Alerte

©: Wolf Silveri

El Conde de Teorrefiel – Guerilla

©: Wolf Silveri

WIR HABEN´S GESCHAFFT

Wie schaffen das – wir haben`s geschafft. Der elfte steirische herbst unter der Leitung von Veronica Kaup-Hasler ist vorbei: 24 Festivaltage, 139 Projekte, mehr als 50.000 Besucher, 90 % Auslastunge bei szenischen Produktionen und Konzerten. Was lässt sich außer diesen trockenen Erfolgen resumieren?

Mit dem Eröffnungsevent Die Nacht der Maulwürfe zeigte die Intendantin, wie meistens, kein besonders glückliches Händchen. Dafür schafften es die herbst-eigenen Ausstellungen Geknetes Wissen und vor allem Body Luggage, anders als bisher deutlich und das zu Recht über die Wahrnehmungsschwelle. Geknetes Wissen, kuratiert vom früheren Kunsthausleiter Peter Pakesch und mit prominenten Teilnehmer wie Ai Weiwei und Edmund de Waal reintegriert Porzellanarbeiten vom Kunstgewerbe in die Kunst. Und in Body Luggage, kuratiert von der Inderin Zasha Colah geht es ganz im Zeichen des diesjährigen Themas um die Spuren vielfältiger Migration, wie sie sich in der Sprache und den Körpern einschreiben. Beide unbedingt sehenswert und noch zu sehen: Body Luggage bis 8.1.2017, Geknetetes Wissen bis 19.2. 2017.

Der Tanzabend des marokkanischen Tänzers Taoufiq Izeddiou verband gleichsam volkstümliche Einfachheit mit professioneller westlicher Dramatugie. En Alerte basiert einerseits auf Sufi-Traditionen mit ihrer Gottesbeschwörung und Trance, reflektiert aber ebenso traumsicher die Gegenwrt. Taoufiq, um die vierzig und gar nicht schlank, greift ohne Erdung zu verlieren nach den Sternen. Begleitet von einem Gitarristen und einem marokkanischen Gimbrispieler, schnellt er sich flach auf dem Rücken liegend immer wieder hoch, geht eine Spirale auf der Bühne und trägt dabei einen Rucksack, aus dem Gries rieselt, hyperventiliert auf sein Publikum zugehend eine Art Musik herbei oder fordert "Give me a huge, giv me a huge", bis er endlich umarmt wird. Zwischendurch verwendet er Gitarre und Gimbri als Gewehre, macht einen Abstecher auf den Mars oder lässt sich nackt unter einem Licht-Wasserfall mit den Namen Gottes in vielen Sprachen überschütten. Die Verbindung von exotischen Traditionen und westlicher Tanzausbildung führt – ähnlich wie bei Elisabeth  Bkambamba Tambwes PInk Eye – zu überzeugenden Resultaten, Goethes Utopie einer Weltliteratur findet ein Echo in der Kraft aber auch im Skeptizismus dieser hybriden Performances.

Und mit den beiden letzten Inszenierungen wurden die programmatischen Versprechungen – Europa, die Verschiebung kultureller Kartographien – noch einmal eingelöst. Die Gruppe El Conde de Teorrefiel (die Schweizerin Tanya Beyeler mit dem Spanier Pablo Gisbert) haben für Guerilla mit "jungen Menschen aus der Steiermark" einen Text entwickelt, deren je eigene Erfahrungen mit fiktivem Material vermischt und das Ganze zu einer Dystopie extrapoliert, deren Klarheit (inklusive exakter Datumsangaben) und Pessimismus an Michel Houellebecq erinnert. Auf der Bühne wird dieser Text mit Schriftbalken vermittelt, darunter sind nacheinander drei Tableaus zu sehen: im ersten nehmen die Teilnehmer des Workshops auf weißen Plastikstühlen Platz, gewissermaßen das Publikum im Orpheum spiegeld; im zweiten veranstalten acht weibliche Workshopteilnehmer eine als Tai-Chi-Kurs getarnte Zitterpartie und das dritte Bild besteht aus einem vierzigminütigen, überlauten Rave aller gegen alle. Währenddessen verbünden sich via Text Russland, China und Indien gegen den Westen, der Krieg gegen Drogen wird eingestellt, es kommt endlich zum Dritten Weltkrieg, einige US-Städte kriegen eine Atombombe ab, neunzig MIllionen Tote, usw. Währenddem tanzen die Grazer unbeeindruckt in ihrer Höhle; eigentlich der bessere Auftakt zum kuscheligen herbst-Auftakt Die Nacht der Maulwürfe mit seiner ähnlichen Aussage. Und eine überzeugende Demonstration, dass Animation, Arbeit mit Amateuren nicht immer nur Kunst zum Fremdschämen hervorbringt. In seiner radikal verknappten, kompromisslosen Form war Guerilla zwar wenig kulinarisch, aber dafür vielleicht die avancierteste Aufführung des herbstes.

Dagegen begann Milo Rau`s Empire im Schauspielhaus wie für eine Inszenierung von Nestroys Zu ebener Erde und im ersten Stock: eine Fassade mit Balkon im ersten Stock. Aber dann dreht sich die Bühne, das Parterre nimmt eine Wohnküche ein, und der erste Stock dient als Projektionsfläche für die Live-Großaufnahmen der vier Spieler unten: eine rumänische Jüdin, ein Grieche, dessen Eltern von Odessa nach Thessaloniki geflohen sind, und zwei ganz gegenwärtige syrische Flüchtlinge.
Milo Raus Empire ist ähnlich textbalkenlastig wie Guerilla, aber sein Europa ist weniger von Zukunft, als von Vergangenheit geprägt. Nicht ganz von der Wiege bis zur Bahre erzählen die Spieler in fünf Kapiteln, immer wieder unterschnitten die Geschichten ihres Lebens. Ihre unaufgeregten Stimmen werden zur Musik, die Texte sind fabelhaft montiert, die Gesichter obwohl live gefilmt, perfekt ausgeleuchtet und selbst die Untertitel sind von seltener Lesbarkeit. Angesichts solcher Theater-KuIinarik mit der das Chaos der Geschichte erzählt wird, beschleicht einen fast leiser Zweifel. 
Der Live-Film ist unterscheidbar von einer "echten" Dokumentation in schwarz-weiß, und da die vier Akteure in der engen Wohnküche kaum miteinander kommunizieren, werden sie sozusagen auf ihr eigenes authentisches "Belegmaterial" für diese live nachgestellte "Oral History" reduziert. Zudem sind diese Erzähler alle Schauspieler, die für jede Aufführung ihre eigene Geschichte 1:1 als spontan reproduzieren. Die eingängige Filmmusik aus Der Blick des Odysseus von Angelopoulos, in dem die Rumänin Maia Morgenstern die weibliche Hauptrolle gespielt hat, der Verweis auf den Mythos von Medea, verstärkt dieses Unbehagen. Ohne die eingespielten Fotos der in Syrien unter der Folter Umgekommenen, wäre die Aufführung allzu kultiviert gewesen. Empire, die letzte von den drei Arbeiten Milos Raus, in denen er Europa darstellt, ist trotzdem ein Glücksfall für das politische Theater. Und ein vollkommen geglückter Abschluss des steirischen herbst 2016.

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