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Der Begriff der Kompetenz hat gegenwärtig Hochkonjunktur. Sowohl in der PädagogInnenbildung als auch im Unterricht soll es vorrangig darum gehen, Kompetenzen zu vermitteln. Beleuchtet man den Begriff und seine Geschichte näher, so lässt sich herausarbeiten, welche Bedeutungen mit „Kompetenz“ aus Sicht der pädagogischen Lern- und Unterrichtsforschung transportiert und welche Bereiche möglicherweise in der gegenwärtigen Begriffsverwendung ausgeblendet werden.
Heinrich Roth etwa spricht im zweiten Band seiner Schrift zur „Pädagogischen Anthropologie“ (1971) von Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz als grundlegende menschliche Fähigkeiten und verbindet diese mit der Idee der Mündigkeit und damit mit einem emanzipatorischen Anspruch. Ist dieser Anspruch in der heute weit verbreiteten Rede von Kompetenzorientierung, die meist an eine Begriffsbestimmung von Franz E. Weinert (2001) anschließt, noch auffindbar? Weinert bestimmt Kompetenz als die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2000, S. 27f.)
Geht es vorrangig um Problemlösefähigkeiten, wenn sich Unterricht an Kompetenzvermittlung orientiert und auf konkret erfassbare Lernergebnisse abzielt, und ist damit der Anspruch auf Bildung erfüllt? Kompetenzerwerb, so lautet meine These, ist zwar die Grundstufe für gelingende Bildungsprozesse, Bildungsprozesse gehen jedoch über Kompetenzerwerb hinaus.
Kompetenzorientierter Unterricht ist nur dann auch Bildung fördernder Unterricht – und letzteres ist Ziel jeden Unterrichts –, wenn man bei den Kompetenzen und den damit aktuell verbundenen diversen Testungen nicht hängen bleibt („teaching to the test“) und das übergeordnete Bildungsziel des Fachs nicht aus den Augen verliert.
Ich habe mich bereits in einem früheren Artikel (Schrittesser 2011) mit der Frage der Kompetenzorientierung beschäftigt. Was mir im Laufe dieser Beschäftigung deutlich wurde, ist die Problematik des Kompetenzbegriffs selbst, der recht unterschiedliche Bestimmungen erfährt, der aber auch eine recht eindrucksvolle Begriffsgeschichte aufweist. Ich werde mich daher zunächst dieser Begriffsgeschichte zuwenden. Anschließend werde ich mich mit der Frage befassen, ob und wie sich die gegenwärtige Rede von Kompetenzorientierung mit neueren Erkenntnissen der Lernforschung vereinbaren lässt. Abschließend möchte ich einige Konsequenzen aus den zuvor angestellten Überlegungen für so genannten kompetenzorientierten Unterricht zu ziehen versuchen.
Ein Blick auf den Kompetenzbegriff
Die erste Hochkonjunktur erfährt der Kompetenzbegriff im Anschluss an Heinrich Roth, der im zweiten Band seiner Schrift zur „Pädagogischen Anthropologie“ (1971) von Sach-, Selbst und Sozialkompetenz als grundlegenden menschlichen Fähigkeiten spricht. Roth verbindet diese mit der Befähigung zur Mündigkeit.
Mündigkeit, schreibt Roth, wie sie von uns verstanden wird, ist als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinne: a) als Selbstkompetenz (selfcompetence), d.h. als Fähigkeit, für sich selbstverantwortlich handeln zu können, b) als Sachkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und c) als Sozialkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- oder Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können. (Roth 1971, S. 180) Adorno bringt es griffig auf den Punkt: Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […]. (Adorno 1997, S. 785)
Dieses Verständnis von Kompetenz wird in der Folge vor allem in der beruflichen Bildung rezipiert, findet aber auch in anderen Bildungsbereichen Resonanz. Die Begriffsbestimmung, die allerdings den neueren Kompetenzdiskurs bei weitem dominiert ist jüngeren Datums und stammt von Franz E. Weinert (2001, S. 27f.). Von ihm wird Kompetenz folgendermaßen zu bestimmen versucht: ... die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.
Weinerts (psychologisch fundiertes) Kompetenzmodell betont eine personal orientierte Dimension: in der Perspektive erster Person geht es um Dispositionen und Bereitschaften des Individuums, um die sich kognitive Fähigkeiten gruppieren und diese im Vollzug von Problemlösungen zur Entfaltung bringen. Ein Schlüsselmerkmal dieses Kompetenzbegriffs sei, so Klieme & Hartig (2007) in einer ausführlichen Analyse, der stärkere Bezug zum "wirklichen Leben". (Klieme & Hartig 2007, S. 17) Kompetenz ist in diesem Sinne als lebenspraktisch ausgerichtete Leistung des Subjekts zu verstehen, die es erbringt, um Situationen unterschiedlicher Komplexität und Schwierigkeitsgrade zu bewältigen.
In einem anderen Begriffsverständnis wiederum, vor allem in den die aktuellen Bildungsreformen begleitenden diversen Strategie- und Grundlagenpapieren, wird der Kompetenzbegriff in weiteren Variationen beschrieben. So ist etwa einer Unterlage aus dem österreichischen Bundesministerium für Bildung und Frauen im Anschluss an den Europäischen Qualifikationsrahmen zu entnehmen, dass man Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenz unterscheiden müsse, dass also nicht Kenntnisse und Fertigkeiten Aspekte von Kompetenz seien, sondern es sich bei Kenntnissen um Theorie- und Faktenwissen handle, bei Fertigkeiten um kognitive Fertigkeiten, die zur Nutzung relevanter Informationen erforderlich sind, um Aufgaben auszuführen und Routineprobleme unter Verwendung einfacher Regeln und Werkzeuge zu lösen. (KU-Grundlagenpapier 2012, S. 8) Kompetenz, schließlich, sei vor diesem Hintergrund im Sinne der Übernahme von Verantwortung und Selbständigkeit, man könnte also sagen im Sinne eines Sich-Zuständig-Fühlens zu verstehen. (ebda.) Dass Verantwortung und Kompetenz in Beziehung zu setzen sind, lässt sich auch aus dem Weinert’schen Kompetenzbegriff herauslesen, hier jedoch bezogen auf Problemlösungen, deren Umsetzung verantwortungsvoll zu erfolgen habe – Verantwortung wofür wird allerdings nicht näher ausgeführt. Ebenso ist der Aspekt der Selbständigkeit immer wieder in Kompetenzbestimmungsversuchen zu finden: wer kompetent ist, so der Tenor, kann Probleme eigenständig und erfolgreich einer Lösung zuführen.
Kompetenzorientierung im Schulunterricht
Diese kurzen Erläuterungen sollen zeigen, dass der Kompetenzbegriff ein recht schillerndes Bedeutungsspektrum aufweist und sich einer eindeutigen, allgemein gültigen Bestimmung entzieht. Daher wird auch der Frage der Kompetenzorientierung im Schulunterricht zunächst die Frage vorausgehen müssen, was denn unter Kompetenz nun schlussendlich vor dem Hintergrund des Bildungsauftrags des jeweiligen Schulfaches zu verstehen ist – auch um etwas Ordnung in die unübersichtliche und teilweise auch widersprüchliche Begriffslandschaft zu bringen. Der Begriff der Kompetenz stellt sich vor diesem Hintergrund als ein hypothetisches Konstrukt dar, das eingebettet ist in ein Spannungsgefüge von Problemlösefähigkeit (ein sich stellendes Problem erfolgreich lösen können) und Mündigkeit (als selbständiges Handeln und als eigenständige und ebenso widerständige Urteilsfähigkeit in sachlichen und sozialen Belangen).
In einem ersten Resümee lässt sich feststellen, dass man im Grunde nicht nicht kompetenzorientiert unterrichten kann. Kompetenzen werden immer vermittelt. Wir kennen dieses Argument aus der Diskussion um den heimlichen Lehrplan (vgl. etwa Bernfeld 1925; Zinnecker 1975; Dreeben 1998). Die Frage ist jedoch, ob Schülerinnen und Schüler die intendierten Kompetenzen erwerben oder ob sie sich bloß zufällig und beiläufig Kompetenzen aneignen (z.B. „Stoff“ so zu reproduzieren, wie ihn die Lehrerin bzw. der Lehrer hören will oder jene Lernergebnisse zu erzielen, wie sie in diversen „large-scale“ Assessments abgefragt werden).
Deutlich wird jedoch auch, betrachtet man die hier kurz skizzierte Begriffslandschaft, dass wir es mit einer nicht unerheblichen Akzentverschiebung zu tun haben. Kompetenz in diesem aktuellen Verständnis meint nämlich auch, dass man etwas nicht nur können muss, man muss es auch zeigen können und wollen. Kompetenzen werden somit erst dann als solche wahr- und ernst genommen, wenn sie durch Handeln sichtbar und – noch wichtiger – überprüfbar gemacht werden. Das wiederum bedeutet, dass komplexe Verstehens- und Lernprozesse in operationalisierbare Einheiten überführt werden müssen, um sie einer Überprüfung unterziehen zu können – sofern man unter Überprüfung einen Testvorgang versteht, wie wir ihn etwa im Rahmen der groß angelegten Schulleistungstests kennen gelernt haben.
Wie aber verhält sich dieser deutliche Trend, der vor allem in den jüngeren bildungspolitischen Ereignissen rund um PISA & Co spürbar ist, zu neueren Erkenntnissen der (pädagogischen) Lernforschung? Ich betone „pädagogische“ Lernforschung deshalb, weil der Lernbegriff als einheimischer Begriff der Pädagogik erst kürzlich wieder entdeckt wurde, nachdem die Lernforschung über lange Zeit hinweg der Psychologie, der pädagogischen Psychologie und der Kognitionswissenschaft (neuerdings auch den Neurowissenschaften) überlassen wurde. Erst in den letzten etwa zehn Jahren begann die Forschung in Pädagogik und Bildungswissenschaft wieder aus ihrer spezifischen disziplinären Perspektive Erkenntnisse zu Lernen zu erarbeiten und erste Ergebnisse vorzulegen – ich werde später auf diese Perspektive zurückkommen. Zunächst nur so viel: die pädagogische Perspektive wirft ihr Licht nicht nur auf den Lernenden bzw. die Lernende in experimentellen Settings, sondern denkt die Sache und das Lehren in Bezug zu den Lernenden unter realen (und damit auch komplexen, teilweise daher auch unübersichtlichen) Bedingungen mit. Für den pädagogischen Blick ist Lernen dann von besonderem Interesse, wenn es um das Erlernen von etwas – meist unter Anleitung – geht und das Ziel verfolgt wird, weitere, darauf aufbauende Lernprozesse anzuregen. Lernen zu verstehen heißt aus pädagogischer Sicht immer, ein Verhältnis zwischen Lernendem und Welt als Möglichkeit der Weiterentwicklung dieses Verhältnisses zu begreifen. (Göhlich et al. 2007, S. 7, vgl. auch Göhlich & Zirfas 2007)
Um eine kurze Darstellung dieser Entwicklung zu skizzieren, werde ich vier Zugänge näher betrachten, die für diese pädagogische Perspektive aktuell von Bedeutung sind und zur Diskussion stehen. Dazu gehören Jean Piagets Zugang zur Frage nach der Entfaltung von Erkenntnis (1), der Ansatz der so genannten Learning Sciences (2), Klaus Holzkamps Suche nach den Lerngründen (3) und schließlich Lerntheorien, die sich auf phänomenologische Denkansätze berufen.
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Ilse Schrittesser hat seit März 2014 die Professur für Schulforschung und LehrerInnenbildung am Zentrum für LehrerInnenbildung und der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft (Universität Wien) inne. Forschungsschwerpunkte: Schulforschung mit besonderer Berücksichtigung der Lehr- und Lernforschung, Professionalisierungsforschung und Forschung zur LehrerInnenbildung.
Den veröffentlichten Text hielt sie als Vortrag am 24.9.2013 bei der IMST-Tagung in Klagenfurt.