01/10/2005
01/10/2005

Am 29.09.2005 wurde in der Helmut-List-Halle in Graz der steirische herbst 2005 mit dem Thema Stadt - polis on display eröffnet.

> steirischer herbst 2005
Eröffnungsrede von Kathrin Röggla

© kathrin röggla, 2005

meine damen und herren,

die erdölförderungsanlage in der nähe des flughafens. die raffinerien hinter ihm. der wasserspeicher in jenem dicht besiedelten seitental. die trinkwasseraufbereitungsanlage, die großen bürotürme in der innenstadt, der küstenabbruch im westen, das ubahn-system. der staudamm, der nur 50 kilometer entfernt liegt. die brücke. und natürlich shoppingmalls, flughäfen, bahnhöfe.

es ist so. mich faszinieren katastrophen. also in filmen, katastrophenfilmen, aber auch in der berichterstattung über real sich vollziehende katastrophen vorzugsweise auf nordamerikanischem oder europäischem gebiet. sei es aus sehnsucht nach einer kathartischen erfahrung, oder aus einem aggressiven verlangen heraus, im ausnahmezustand die bestehende ordnung negiert und gleichzeitig auf die spitze getrieben zu sehen. oder ganz einfach, weil ich mit dem phantasma der atomkatastrophe aufgewachsen bin und mich in diesem genre quasi zuhause fühle. als katastrophenfilmgängerin weiß ich jedenfalls: diese filme sind stadtfilme. man denke an die hollywoodproduktionen der letzten 10 jahre wie „war of the worlds“, „the day after tomorrow“, „independence day“, oder „deep impact“, die eine großstadt als einsatzpunkt des untergangs gewählt haben. diese fiktive katastrophe bewegt sich nämlich meist von außen auf die metropolen zu und löst deren untergang und eine fluchtbewegung der in ihr lebenden menschen aus, die man mitvollzieht. und so läßt der plot die überlebenden aus dem kollabierenden moloch fliehen, weg von den zentren der verwaltung, der finanz- und medienindustrie durch eine bizarre vorortstimmung, eine stadtlandschaft, die aus verlassenen und beschädigten häusern besteht, aus verunstalteten wohn- und ein wenig später gewerbegebieten, durch reste disfunktionaler infrastruktur - bis sie nicht selten am ende ganz auf dem land ankommen, von dem sie sich ein überleben versprechen. doch sieht man sich postapokalyptische filme wie „28 days later“ von danny boyle oder, noch expliziter „wolfzeit“ von michael haneke an, wo die filmerzählung gleich auf dem land ansetzt, weiß man, die sogenannte katastrophe hat längst stattgefunden, und auch das schlußbild, ein starrer blick aus dem fahrenden zug in die vorbeiziehenden wälder hinein, erzählt einem nur eines: dieser zug wird nirgendwo ankommen, die städte und damit die zivilisation ist ausgelöscht. jetzt herrscht roher naturzustand, der kampf aller gegen alle, allenfalls durch chauvinistische bandenzusammenschlüsse unterbrochen, eben das recht des stärkeren. doch konnte man in den atomkriegsfilmen der 70er und 80er noch mehreren sozial heterogenen helden und heldinnen, repräsentativ für die bestehende gesellschaft, bei diesem überlebenskampf in einer vielzahl von mehr oder weniger gleichberechtigten narrativen strängen zusehen, so wird in den gegenwärtigen produktionen hauptsächlich die eine familienzusammenführung thematisiert, die zu gelingen hat und auch meist gelingt, auch wenn die welt dabei arm aussieht. so als wollte man permanent margret thatchers legendär gewordene aussage loswerden: "there is no such thing as society, there are only individuals and families."

an der veränderung der narration wird eben auch die gesellschaftliche veränderung ablesbar. daß stadtgeschichte und katastrophenfilmgeschichte einhergehen, hat das buch von mike davies „ecology of fear“ in bezug auf los angeles und hollywood ausführlich gezeigt, und vielleicht ist es wirklich jene kalifornische metropole, die zumindest für unsere westliche wahrnehmung diese phantasmatische aufladung am stärksten erhält. ja, möglicherweise entspricht die verbindung von stadt und katastrophe wirklich dem nordamerikanischen kontinent, doch die ahnung, daß die zivilisatorische decke dünn ist, wenn der gesellschaftliche zusammenhang aufbricht, ist eine, die sich nicht ohne grund immer stärker ins bewußtsein auch europäischer stadtbewohner schiebt. eine ahnung, die gerne bündnisse mit jenen katastrophenfilmen eingeht.

vollzögen wir diese bewegung aus dem verdichteten städtischen raum in die vielfältige stadtrandlandschaft im realen nach, würde sich ein dem fiktiven ähnliches bild ergeben. wie leicht wäre es, und es ist auch schon mehrmals geschehen, einen apokalyptischen film ohne studiotricks und special effects zu drehen. man müßte sich nur an bestimmte orte begeben, die im städtischen zusammenhang zahlreich auffindbar, selten aber betretbar sind und oft auch gar nicht wahrgenommen werden, als würde eine geisterhand diese immer zum verschwinden bringen, als würden sich gewisse bereiche der stadt immer vor uns zurückziehen. und vielleicht ist es dieses gefühl, das ein bedürfnis nach einer vermeintlich realen stadterfahrung erzeugt hat, wie es sich in der nachfrage von touren durch kanalisationen und vorstädte niederschlägt, oder im eventtourismus, der neben der üblichen touristisierung der europäischen innenstädte hotelaufenthalte in gefängnissen oder spaziergänge durch privatwohnungen anbietet. als wollten wir etwas sehen – sehen, wie es wirklich aussieht, bzw. eine hinter dem sichtbaren liegende wahrheit erkennen, eine kehrseite, die sich uns entzieht.

ja, es ist eben nicht nur mit dem veränderten verhältnis von öffentlich und privat zu erklären, was uns jene grenzüberschreitungen suchen läßt, sondern auch mit der tatsache, daß wir in unserer alltäglichen großstadterfahrung mehr und mehr von orten umgeben sind, die wir nicht mehr einordnen können - weiße flecken auf der inneren landkarte. und damit sind nicht nur brachen, vernachlässigte gebiete und eingezäunte baustellen gemeint, mit denen nichts mehr geschieht, no-mans-land, vernagelte fensterscheiben und ruinen, sondern auch das, was man die gürtel der armut bezeichnet, no go aereas, für die man mittelsmänner, gewährsmänner bräuchte, orte mit kaputter gegensprechanlage und fehlenden hausnummern. das sind auch die gated communities mit ihren schranken, portiershäuschen und mauern, die wohnanlagen, in die man nur mit zahlenkombination gelangt, olympische dörfer, orte mit patroullierenden sicherheitsdiensten und sicherheitszonen. das sind sowohl industrieanlagen als auch militärische sperrgebiete und gefängnisse, die sich durchaus mal neben bürotürmen mit magnetkarten und lobbies mit meldepflicht befinden können, also zugangsbeschränkungen, wohin man blickt.

die stadt scheint heute mehr als zusammenhang von ausschlußsystemen beschreibbar und erlebbar zu sein als als zusammenhang des sozial heterogenen, wie traditionell, besonders im europäischen kontext gerne beschworen wird. der feinsinnige großstadtmensch zu beginn des zwanzigsten jahrhunderts, wie ihn der kulturphilosoph georg simmel als prototyp moderner stadterfahrung beschrieben hat, ein zur distanznahme fähiger und die verfeinerung seiner sinne in einer kultur der kälte erlebender, wurde abgelöst von der postfordistischen doppelfigur des touristen und illegalen migranten. kaum noch erinnern wir uns an den sinnspruch „stadtluft macht frei!“, der zu beginn des 20. jahrhunderts von „stadt, das ist der ort, wo fremde wohnen“ überschrieben und seit den 80ern unter zahlreichen schichten von „das boot ist voll!“-rufen vollends begraben wurde. doch das wissen, wie dieses boot aussieht, das wir anscheinend zu steuern haben, wird meist vorausgesetzt.

sicher, die europäische stadtgeschichte war schon immer aufgespannt zwischen emanzipationsgeschichte und ausschlußbewegung, zwischen eingemeindung, integration und ghettoisierung, aber dennoch scheint sich ein neuer zusammenhang zwischen neoliberalem freiheitsversprechen und jenem sicherheitsdispositiv zu ergeben, wie es der französische theoretiker michel foucault ende der 70er skizziert hat. eine neue rationalität des regierens, die sich in stadtplanung, im umgang mit dem öffentlichen raum, in institutionen, politischen entscheidungen und sozialen zusammenschlüssen niederschlägt. diese rationalität läßt sich bis zu der vorstellung eines autonomen subjekts runterdeklinieren, das im zentrum eines neoliberalen gesellschaftskonzeptes steht - das inbild des mobilen, dislozierten, autonomen individuums, das soziale risiken selber zu tragen versteht und sich höchstens zu communities gleichgesinnter zusammenschließt und ansonsten, wenn überhaupt, nur noch in einer ökonomischen matrix verortbar ist.
die dominanz dieser matrix ist in allen bereichen von der politik bis zum bildungswesen, von der kultur bis zur medizinischen versorgung zu bemerken, in ihrer rationalität hat man sich zuerst einzurichten, bevor man sich auf wohnungssuche begibt. daß wirklich nichts mehr ihrer verwertungslogik entgeht, zeigt auch die neben dem bürger als „kunden“ üblich gewordene adressierung des patienten als kunden oder gar, noch absurder, des arbeitslosen als kunden.

doch seltsamerweise scheint dies autonome subjekt kaum in der realität aufzutreten, die vorstellung von ihm, die sich in den rhetoriken der institutionen und politiker, in handlungsanweisungen und gesetzesentwürfen niederschlägt, kaum realisierbar - das scheitern des ich-ag-konzeptes in deutschland ist da ein beredtes beispiel - und so äußert es sich hauptsächlich als druck, der auf der mehrheit der bewohner unserer städte liegt. wer oder was alles durch diesen rost fällt, ahnen die ängstlichen, zu kunden befreiten bürger nur zu gut, aber das wissen, daß sie über sich selbst sprechen, d.h. daß der mittelstand über sich selbst spricht, ist noch nicht weit verbreitet, wie auch jene beamtin der deutschen agentur für arbeit feststellt, die sich in der im sommer veröffentlichten reportage „die produktion von parias“ von gabriele goettle über die ruhe im land wundert. und es ist auch verwunderlich. denn es finden mit reformen wie hartz 4 die größten sozialen einschnitte der nachkriegszeit statt.

aber, so könnte man einwenden, was für soziale phantasie steht uns denn noch zur verfügung? gegen die aggressive verwertungslogik, die alles umso mehr erfaßt, da die kommunen verschuldet, die öffentlichen kassen leer sind, stehen allenfalls kommunitaristische vorstellungen, die meist einen sozial homogenen raum herzustellen versuchen und somit eines der weiteren zahlreichen einfarbigen mosaikplättchen auf der fläche der postfordistischen stadt produzieren. einer stadt, die ansonsten hauptsächlich von einem stark schwankenden immobilienmarkt, dem konzept der sogenannten unternehmerischen stadt, von einer immobilienpolitik, die eigentum fördert und mietraum unterbindet, und von einem sicherheitsapparat, der sich allerdings oft nicht auf den ersten blick zeigt, gestaltet wird. es entsteht dieses seltsam fragmentierte und segregierte stadtbild, dem man in der gegend um marseille ebenso wie in berlin begegnen kann, in der agglomeration um zürich genauso wie in birmingham oder frankfurt. nicht selten mit einem finanz- verwaltungs- und geschäftscenter, das mal aus bürotürmen besteht, mal aus älteren repräsentationsbauten, klein im verhältnis zu dem breiten netz der vorstädte, das es umgibt. in jedem fall zeigen diese agglomerationen, urbanizaciones, urban sprawls an, wie sehr sich das verhältnis von zentrum und peripherie verändert hat. was sich vielleicht nicht so zeigt, ist, mit welchen verdrängungsprozessen diese veränderungen einhergehen - einer der zentralen ansatzpunkte vieler künstlerischer arbeiten, die in den letzten zehn jahren entstanden sind.

diese postfordistische realität, die sich in städten wie los angeles und, als gegenbild, detroit möglicherweise am deutlichsten manifestiert, vielleicht weil diese städte eine kürzere geschichte haben und die öffentliche hand nicht in der weise eingreift, wie wir es hier kennen, vielleicht weil es sich um modelle, ja, prototypen der stadtsoziologie und somit des urbanistischen diskurses handelt und wir gewohnt sind, in diese richtung zu blicken - diese realität entfaltet sich in europa ebenso, wenn auch auf sehr unterschiedliche weise. mal abrupter, mal nach und nach, das hängt von den historischen gegebenheiten und politischen umständen ab, immer aber sind mehrere zeitschichten anwesend, das städtische bleibt der ort der ungleichzeitigkeiten, der ort wo, um mit foucault zu sprechen, disziplinargesellschaft neben kontrollgesellschaft koexistiert, wo man fordistische reste neben postfordistischen produktionsverhältnissen findet, und daneben spuren mittelalterlicher gewerbeverordnung, sozialistischen aufbruchs sowie einer denkmalpflege, die sich um die jahrhunderte davor kümmert.

und das ist auch das faszinierende am sprechen über die stadt: daß sie der ort ist, wo gesellschaftliche verhältnisse sichtbar werden können, bzw. wo konflikte sich zeigen und politische fragen sich deutlicher stellen lassen. nicht umsonst hatten karl marx und friedrichs engels sich eine proletarische revolution nur im städtischen vorstellen können und schimpften auf die idiotie des landlebens. und andersrum ist die stadt das thema, über das sich politisches verhandeln läßt. und so ist die frage, wie es um die sichtbarkeiten und unsichtbarkeiten der stadt bestellt ist, die frage, was geschieht, wenn eine form der sozialen organisation inszeniert wird, die mit den eigentlichen verhältnissen nichts zu tun hat, eine politische.
denn zu den neuen unsichtbarkeiten, die über ausschlüsse hergestellt werden, gesellen sich fake und camouflage, sodaß man nicht selten von einer fake city sprechen möchte, einer theatralen inszenierung von stadt, die mit den realen wohn- und arbeitsverhältnissen nicht mehr viel zu tun hat. das reicht von der disneyifizierung der innenstädte mit ihrer fassadenkultur und wohnzimmermöblierung des öffentlichen raums, bis zum breiten sicherheitsapparat, der nicht nur kaschiert wird, sondern architektonisch mit einer scheinbaren offenheit umgeben, oder besser gesagt zugedeckt wurde. zugedeckt mit den ornamenten des freien zugangs und der freien einsicht. wie man es gut am pariser platz in berlin mit seinen kaschierten panzersperren vor der amerikanischen botschaft sehen kann oder in zahlreichen gated communities, die nach innen ein offenes gesellschaftsmodell suggerieren, das aber nach außen durch hohe mauern und wachschutz begrenzt ist. und nicht zuletzt das üblich gewordene verständnis von transparenz, das sich alleine durch die verwendung des baumaterials glas auszeichnet.

ist es nicht diese camouflage, die an jenem derealisierungsgefühl mitarbeitet, das uns mehr und mehr bestimmt. an diesem gefühl, nicht mehr zu sehen, was wirklich vor sich geht. könnte es nicht genau diese inszenierungsvorgänge sein, die jenes defizit erzeugen, das unsere sehnsucht nach katastrophenfilmen auslöst? weil diese uns eine gesteigerte form von sichtbarkeit bieten. weil jene filmische erzählung darauf hinausläuft, eine dahinterliegende oder zugrundeliegende realität zu verkaufen, auch wenn sich dann herausstellt, daß diese meist auf eine reaktionäre moral hinausläuft? steckt im wunsch nach katastrophenfilmen nicht neben dieser lust an der zerstörung aller oberflächen, neben der sehnsucht der negation des bestehenden, der wunsch nach klareren sichtverhältnissen?

dieser hang zum fake und zur camouflage kann man auch im diskurs über die stadt wiederfinden – man denke nur an die oft geführte rede von der allgemeinen flexibilisierung und mobilisierung, die vermeintliche geschwindigkeitszunahme in all unseren bewegungen, wobei immer gerne unter den tisch fällt, daß diese phänomene mit einer neuen immobilität großer teile der bevölkerung einhergehen. entweder, weil ihr das monatsticket der verkehrsbetriebe gestrichen wurde wie seit längerem den sozialhilfeempfängern in berlin oder weil gleich die verkehrsbetriebe selbst gestrichen wurden wie in los angeles, weil man vom bürger als autobesitzer ausgeht. so als würde die flexibilität der einen die immobilität der anderen zudecken, als wäre da eine parallelgesellschaft im gang, die in anderen zeit- geschwindigkeitsverhältnissen lebt und aus der breiten öffentlichkeit mehr und mehr verschwindet. ja, die segregation, entkoppelung und entmobilisierung ganzer schichten ist im gang, die der „idiotie des landlebens“ auf ganz neue weise ausgesetzt sind. allerdings muß man dazu sagen, daß die heutige „idiotie des landlebens“ mit dem land gar nichts mehr zu tun haben muß, denn sie findet längst in den urbanen zonen statt. orte der peripherie wird man nicht selten in geographisch zentralen gebieten einer stadt finden, genauso wie man arbeitsbedingungen und lebensverhältnisse, die man in der sogenannten dritten welt vermutet, heute inmitten der ersten wird finden können. es handelt sich um menschen, die, man hat es im krasser form in diesem sommer in new orleans gesehen, nicht einmal das geld haben, die stadt im katastrophenfall zu verlassen. und wenn man jetzt meint, das seien einzig amerikanische verhältnisse, dann kann ich nur sagen, daß der armutsbericht in deutschland und vor allem in österreich dagegen spricht. immobilität, schlechtere medizinische versorgung und weitaus geringere bildungschancen, sind die merkmale einer verschärften, ja, ich möchte sagen, scharfen armut in mitteleuropa. und die befindet sich auf dem vormarsch, weil unser boot ja voll ist, und wir es uns bei allem gesellschaftlich produzierten reichtum nicht mehr leisten können, gesellschaftliche risiken und verluste auch gemeinsam zu tragen.

seltsamerweise ist das boot ja in wirklichkeit eigentlich gar nicht so voll, mehr noch, es entsteht im augenblick eher der eindruck, als entleerte es sich zusehends. daß die meisten europäischen städte schrumpfen, dokumentiert zumindest der katalog des architektur- und ausstellungsprojekts shrinking cities. nicht nur die einzelnen orte ziehen sich also in den städten zurück, sondern auch die städte selbst? ja. man sagt: die vielbeschworene verlagerung der produktion nach asien. der bevölkerungsschwund. die überalterung. man sagt: nicht nur aus manchester und liverpool, auch halle und leipzig werden nach und nach geisterstädte, und selbst zürich und wien sind von schrumpfungsprozessen betroffen. in einem faz-artikel zur deutschen bevölkerungsentwicklung im sommer 2004 wurde gar von einem menschenleeren korridor von der ostsee bis zum bayrischen wald fantasiert, der dann nicht lauschige wälder beherbergen wird, sondern sekundärwälder, bärenklau und gestrüpp. eben die unaufhaltsame rückkehr der wildnis, die mit unserer romantischen naturvorstellung nichts zu tun hat.

doch zuerst haben wir ja noch die erdölförderungsanlage in der nähe des flughafens. die raffinerien hinter ihm, der wasserspeicher in jenem dicht besiedelten seitental, die großen bürotürme, das ubahn-system. den staudamm. und natürlich shoppingmalls, flughäfen, bahnhöfe.

die bloße erwähnung dieser orte ruft in uns allen die gleichen katastrophischen phantasien wach. es ist erstaunlich, mit wievielen menschen man über dieses thema ins gespräch gerät, und wie viele gelegenheiten sich dazu finden, denn katastrophen sind das smalltalkthema in zahlreichen städten, ja, in den usa erscheint es sogar, daß man an der art und weise, wie über katastrophen spekuliert wird, die stadt erraten kann, in der man sich gerade befindet. die spezifischen szenarien über mögliche terroranschläge, naturkatastrophen, das ständige sprechen über eventuelle erdbeben, hurricanes, wirbelstürme, tsunamis sind dort alltagsgossip, und manchmal scheint es sogar, als würde darüber eine städtische identität hergestellt. also daß man sich erst als bürger der jeweiligen stadt ausweist, wenn man über ihre möglichen katastrophenszenarios auf die rechte art zu fantasieren weiß. was dort auch immer heißt, daß man vor allem ein versagen der regierung im katastrophenfall feststellen wird, und vielleicht ist es das einzige, das alle sozialen schichten des landes miteinander gemein haben.

in berlin sind eher bandenkriminalität, die vermeintlich kippende stimmung im viertel neben gentrifikation und binnenmigrationsbewegungen thema als eine drohende naturkatastrophe, und sicher, so machte mir der filmemacher christoph hochhäusler in einem gespräch deutlich, ist es in europa niemals die ganze stadt, die wir durch derartige attacken bedroht sehen. unsere europäischen phantasmen handeln nicht vom kompletten untergang einer großstadt, auch im europäischen film würde, wenn überhaupt, mehr die umweltkatastrophe thematisiert. und doch ist gewissermaßen eine verwandtschaft in der richtung festzustellen, die diese vorstellungen nehmen. denn ist nicht das erstellen von zukunftsszenarien, das ausmalen der dinge, die da unweigerlich eintreten wollen, eine beliebte tätigkeit geworden? gerne begeben wir uns auf das gebiet der spekulation und sind ständig dabei, zukunftshorizonte auf- und zuzumachen, risiken abzuschätzen und sicherheiten zu gewinnen. ein verfahren, das wir von unserer medialen und institutionellen umgebung übernehmen.
denn werden nicht überall stochastik und statistik zur hilfe genommen, tabellen und graphiken erstellt, wahrscheinlichkeiten berechnet, restrisikoabschätzungen vorgenommen? gibt es nicht zahlreiche wochenmagazine, die nichts anderes mehr abdrucken? und ist es nicht dieses präventivdenken, das uns von allen seiten umgibt, dieses sich immer an einer vermeintlich schon sicheren realität vorwärts tastende, sie vorwegnehmende?
in diesem präventivdenken wissen wir, um nochmal das wackelige „wir“ der mehrheit aufzurufen, daß beispielsweise eine gewisse form der armut, die notgedrungener effekt der sich gleich einer naturmacht entfaltenden wirtschaftsglobalisierung ist, daß diese armut kriminalität erzeugt, und so wollen wir sie nicht um uns haben. obwohl oder weil wir gleichzeitig wissen, daß es uns selbst morgen auch so gehen könnte. ja, es ist nicht mehr so klar, ob man sich morgen noch unter den selben bedingungen am selben ort aufhält. doch führte man jetzt die rede von einer neuen unsicherheitskultur, in der wir eben lebten, befände man sich genau in jener rhetorik eines neuen sozialdarwinismus, die ihren beschreibungsversuch allerdings mit dem begriff „kultur“ noch überhöht.

so jedenfalls erstellen wir die realitätsflächen, auf denen unser unternehmerischer mittelklasse-flaneur sich bewegen darf, deren grenzen durch ein ganzes sicherheitsregime bewacht werden, an dem wir mitarbeiten. satellitengestützte aufnahmen, überwachungskameras, aus dem blick des adlers und des frosches gleichzeitig, die theorie des partisanen und des klassischen militärapparates vereinigend und eben nicht selten zivile unterstützung inkorporierend, wie man es bei konzepten wie neighbourhoodwatch und „grazer bürgerwehr“ erleben konnte. daneben tun wachschutz, sicherheitspersonal, bel air patrol, kaufhausdetektive und polizei ihre arbeit, aber auch exorbitante gebäudeversicherungen, und cctv, satellitengestützte überwachung, lauschangriff, aber auch unsere handys und kreditkarten, eben die steten datenflüsse, die wir abgeben. dabei lösen sich grenzen auf, die zwischen öffentlich und privat, zwischen öffentlich und privatwirtschaftlich, zwischen militär und polizei, wobei letztere aufgrund der leeren kassen zumindest in berlin gnadenlos unterfinanziert ist und schon deswegen in vielen fällen auf das militär angewiesen ist - was sie allerdings nicht davon abhält, den katastrophenfall in zahlreichen übungen zu antizipieren, wie ich von einer polizeipsychologin erfahre, die mir auch von den manövern erzählt, polizisten in den niedriglohnsektor zu drücken, sodaß man jenen beinahe empfehlen möchte, noch zusätzlich sozialhilfe zu beantragen. eines der beispiele für die paradoxen entwicklungen jenes sicherheitsregimes, das deutlich macht, daß unsere vermeintliche sicherheit nicht wirklich dessen einziges und letztes ziel sein kann.

das verhältnis zum öffentlichen raum wird bestimmt von einer militärischen logik, die von der privatwirtschaftlichen nicht mehr zu trennen ist, mit ihr immer schon zusammengeht. eben jene neue verbindung zwischen freiheitsversprechen, das auf marktfreiheit abzielt und sicherheitsdispositiv, das als sicherheitsregime auftritt. und vielleicht, weil diese militärische logik den ausnahmezustand braucht, sich immer auf ihn bezieht, in ihm erst ihren ausdruck findet, sich von ihm nährt, könnte man manchmal den eindruck gewinnen, die katastrophe habe schon stattgefunden. und so ist es auch. und sie findet auch ständig statt. das ist etwas, das merkwürdigerweise unserer präventivrede und antizipationswut zu entgehen scheint, etwas, das wir in unserem blick bei aller erfassungsgier nach vorne nicht mehr sehen.

doch, als würde sie dieser überwachungsphantasie hohn sprechen, steht die erdölförderungsanlage in der nähe des internationalen flughafens von los angeles tatsächlich offen. man kann mit dem auto auf die baldwin hills hinauffahren, hinauf zu dem künstlichen plateau, auf dem sich tanks, erdölpumpen, kräne befinden, versehen mit leicht zugewachsenen schildern, daß man hier bitte nicht rauchen soll. und befindet man sich mit einem anderen menschen gemeinsam dort, wird sich vermutlich jener dialog entspinnen, daß dieser ort perfekt wäre für einen anschlag und die stadtverwaltung sowie die regierung auch gar nichts im griff hätten, von wegen „homeland security“. vielleicht wird man aber einfach auf die sich bietende stadtoberfläche blicken. hinweg über wilden heimischen salbei, europäische schneckenhäuser, vertrocknete kalifornische yucca-blüten, argentinische palmen und australischen eukalyptus, also durch die unterschiedlichen migrationsschichten der hier ansässigen natur - die immer eine hybride ist - auf die unterschiedlichen stadtteile dieser agglomeration in richtung meer, das einige kilometer gen westen liegt.
und vielleicht fällt einem genau in jenem moment auf, wie merkwürdig der versuch, über „die stadt“ zu sprechen, ist, jene seltsame fiktion, die es in wirklichkeit gar nicht gibt, wie er ihr immer gewalt antut. denn was wir erleben, ist eine vielzahl unterschiedlicher stadterfahrungen, situationen, geschichten, die sich in schichten ablagern. zusammenhänge. nur die vielzahl läßt einen verstehen, was das städtische sein könnte, nur das diskontinuierliche führt einen zu einem paradoxen zusammenhang. ein zusammenhang unterschiedlicher intensitäten, geschwindigkeiten, geschichten, sozialer realitäten, widersprüche, also der ort der literatur, und somit in doppelter hinsicht der ort meiner existenz. ohne ihn könnte ich nicht schreiben und nicht leben. werden dessen segregationsbewegungen, ausfransungen, entkoppelungen, nicht als system begriffen, sondern in homogene vorstellungen zurückgepfiffen, landen wir wie die katastrophenflüchtlinge irgendwo in jener natur, ausgesetzt dem gewalttätigen gesetz des reinen überlebens, dem die zivilisation entgegenstehen sollte. nur die wahrnehmung der spannung, der umgang mit dem hybriden und vermischten wird uns zu jener wirklichkeit führen, in der auch wir enthalten sind. KURZBIOGRAFIE
Kathrin Röggla wurde 1971 in Salzburg geboren. Ab 1989 Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg, ab 1992 in Berlin. Seit 1989 Mitwirkung bei und Inszenierung von Theaterstücken und Performances, seit 1991 auch Videoperformances. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften sowie im österreichischen und deutschen Rundfunk.
Die Schriftstellerin lebt in Berlin.

Preise, Auszeichnungen
1992 Jahresstipendium des Landes Salzburg für Literatur
1993 Preis des Internationalen Open-Mike-Festivals Berlin
1994 Nachwuchsstipendium für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst
1995 Reinhard-Priessnitz-Preis
1995 Staatsstipendium des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst
1997/98 Staatsstipendium für Literatur des Bundeskanzleramtes
2000 kolik-Literaturpreis
2000 Alexander-Sacher-Masoch-Preis
2001 Svevo-Literaturpreis der Hamburger Blue Capital GmbH
2001 New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds
2004 Förderpreis zum Schiller-Gedächtnis-Preis.

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