21/09/2020

Jörg Uitz

Erinnerungen an Ferdinand Schuster zu seinem 100. Geburtstag am 21. September 2020

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21/09/2020

Publikation "Ferdinand Schuster. Das architektonische Werk" – Detail der Ausstellung im HDA Graz, 02.07. – 14.08.2020. Foto: Julian Lanca-Gil

©: HDA – Haus der Architektur

Ferdinand Schuster, 1972; Überreichung des Diploms an Jörg Uitz in der Aula der TU Graz

©: Jörg Uitz

Wollte man Ferdinand Schuster mit einem Satz charakterisieren, dann vielleicht folgendermaßen: Schuster hat zeit seines Lebens als Maßstab an sich selbst, an Studierende und an seine Wegbegleiter größte Integrität im Denken und Handeln angelegt. Dieses Ethos einer moralisch unbestechlichen Integrität hat seine Haltung als Mensch, als Architekt und Hochschullehrer bestimmt. Immer wieder hat er betont, sich selbst und seinen Idealen gegenüber treu bleiben zu wollen.
    In seinem Buch Die Flamme einer Kerze vergleicht Gaston Bachelard die Flamme mit einem Zeichen für ein Dasein, das von seiner Zukunft aufgezehrt wird. Sich allein und ganz als Flamme zu fühlen, heißt es darin, sich beim Aufleuchten zu zerstören, sind große und starke Bilder einer einzigartigen Dynamik. Dieses Bild der unbeirrbaren Vertikalität einer Flamme, die auch in der Finsternis nicht zittert, war Ferdinand Schusters Lebensform.
    Schusters Lebensweg hat sich im Spannungsfeld gegensätzlicher Pole bewegt. Als Zeitzeuge hat er mehrere gesellschaftspolitische Umbrüche erlebt: In seinem Elternhaus die Nähe und Einheit von Wohnen und handwerklich – vorindustrieller Arbeit; als Jugendlicher eine auf Disziplin und Leistung gemaßregelte Erziehung; als Wehrmachtsangehöriger Elend und Leid einer vernichtenden Kriegsmaschinerie; als Architekt und Familienvater den hoffnungsvollen Wiederaufbau der Nachkriegszeit samt aufblühendem Wohlstand; als Professor die Herausforderung in Lehre und Forschung; als Dekan die Verantwortung gegenüber der Architekturfakultät sowie die Auseinandersetzung mit den Nachwehen der Studentenbewegung von 1968.
    Schon ein im Werkstattbuch des 25-jährigen Gesellen geäußerter Gedanke, als Geigenbauer allein der Musik dienen zu wollen, zeigt Schusters veranwortungsvolle, aber auch demütige Haltung gegenüber Arbeit. Handwerkliche Tätigkeit beinhaltet den moralischen Auftrag, eine Arbeit um ihrer selbst Willen bestens auszuführen. Dieser dem Handwerk und sich selbst auferlegte Maßstab höchster Güte, welcher der Eigenmotivation und Qualitätssicherung gleichermaßen dient, kennzeichnet Schusters gesamtes Werk. Wie Schuster seine Person immer uneitel hinter das ausgeführte Werk gestellt hat, sah er seinen Auftrag als Architekt und Hochschullehrer als Dienst an der Gesellschaft. Diese Arbeitsauffassung einer unaufdringlichen Zurückhaltung ist auch der Schlüssel zur Aktualität und zeitlosen Gültigkeit seines Werkes.
    Sobald Schuster, hager, mit schwarz gerandeter Brille, im weißen Arbeitsmantel den Hörsaal betrat, um an der Tafel Werke der Baukunst in räumlichen Darstellungen zu skizzieren, wurde man unmittelbar Zeuge eines kreativen, durch Sorgfalt und Langsamkeit geprägten handwerklichen Entstehungsprozesses. Unvergesslich bleibt, wie er die strukturelle Entwicklung der Baukunst von einer monumentalen, lastenden Massenarchitektur zu einer durch Bogen, Schale und Gewölbe befreiten Raumarchitektur entfaltete. Proportion und Rhythmus wurden als Ordnungsprinzipien definiert, die Formintentionen der Baumeister anhand des Kräftewirkens in den einzelnen Baugliedern erläutert.
    In der Lehrveranstaltung Entwerfen erklärte Schuster, dass es die eigentliche Aufgabe des Architekten sei, als oberster Handwerker integrierend zu wirken. Entwurfsaufgaben konnten von einer spontan skizzierten, mit Axt und Säge gefertigten Urhütte für Schiffbrüchige bis zur mehrsemestrigen fächerübergreifenden Planung eines Atomkraftwerkes reichen.
    Sobald man Schusters hell möblierten, von herbem Pfeifenduft erfüllten Arbeitsraum zur Baukunstprüfung betrat, war man von einem an der Wand hängenden Violoncello piccolo, der Chaise-long von Corbusier und einem Gemälde Mario Declevas beeindruckt. Schuster hat an der Architekturfakultät liberale Prüfungsformen eingeführt, die den Studierenden größere Eigenverantwortung erlaubten. In Roundtable-Gesprächen wurden anhand von Bildmaterial Werke der Baukunst diskutiert. Im Voraus zugeteilte Referatsthemen wie etwa Proportion und Rhythmus in Musik und Architektur konnten gewissenhaft vorbereitet werden.  
    Die Lehr- und Vortragstätigkeit war für Schuster Verpflichtung, sich als Architekt ständig selbstkritisch neu zu positionieren. Seine eigene Arbeit musste jeder Kritik standhalten können. In zahlreichen Vorträgen hat Schuster polare Themen wie Architektur und Gesellschaft, Architektur und Politik, Architektur und Landschaft, Zweck und Raum, Planung und Freiheit, Konstruktion und Ästhetik prägnant formuliert.
    Immer war Schuster bestrebt, als Vorbild zu wirken. Den Anspruch auf Gediegenheit und Perfektion hat er mit unermüdlichem Fleiß, bedingungsloser, aufopfernder und kräftezehrender Selbstdisziplin verfolgt. Um seine eigene Position als Architekt zu finden, bemühte er sich, den Dualismus gegensätzlicher Pole zu überwinden und mit sich selbst in Einklang zu bringen. Architektonische Probleme ganzheitlich zu erfassen und zu einem unteilbaren Ganzen zusammenfügen, betrachtete er als Herausforderung seines Tuns.
    Schusters Werkverzeichnis umfasst ein umfangreiches Spektrum gegensätzlichster Bauaufgaben. Sie sind Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Anliegen und reichen vom Kindergarten zur Totenhalle, vom Wohnhaus zum Ledigenheim, vom Kino zum Freibad, von der Kapelle zum Seelsorgezentrum, von der Tankstelle zum Kraftwerk. Über die bloß pragmatische Erfüllung einer schlüssigen Einheit von Funktion, Konstruktion und Form hinaus hat Schuster bevorzugt das Ideal der Einfachheit, des Maßvollen, der Reduktion und Konzentration, der kristallinen Askese verwirklicht. Seine Bauten sind uneitel; sie strahlen innere Ruhe, beherrschte Gelassenheit, gefasste Stille aus.
    Eine architektonische Form musste für Schuster Gestaltqualität besitzen. In Anlehnung an Stockhausens Theorie des Komponierens nach einer Übereinstimmung von Materialstruktur und Werkstruktur sprach er gerne von einer erforderlichen strukturellen Ähnlichkeit zwischen der Formstruktur einer Baugestalt und der Gestaltstruktur der Aufgabe. Das subjektive Erlebnis der Formeigenschaften eines Bauwerkes achtete er höher als eine Beurteilung nach bloß materiellen oder wirtschaftlichen Qualitätskriterien.
    Dem neu zu interpretierenden Begriff Funktionalismus Adornos folgend, betonte er die notwendige Verknüpfung von Zweckgebundenheit und Zweckfreiheit. Daraus erst könne Architektur als Raum- und Formschöpfung ihre stärkste Wirkung entfalten. In Analogie zur Musik meinte er, auch Architektur könne Unaussprechliches durch Artikulation des Raumes ausdrücken. Immer wieder hat Schuster versucht, Musik und Architektur in Einklang zu bringen. Ein in seinem Notizheft zwischen den Alltagssorgen eines Institutsvorstandes flüchtig geäußerter Gedanke zeigt seine umfassende Sicht zu beiden Disziplinen. Er schreibt: "Musik und Architektur – beide sind Künste des Raumes."
    Schuster hat sich selbst auch als Musiker empfunden. Gegen die selbst gesetzten Leistungsmaßstäbe spielte die eigene Musikausübung immer einen meditativen Gegenpol. Er hatte am Grazer Konservatorium Cellounterricht erhalten. Während seiner Tätigkeit in Kapfenberg war er Mitglied des Stadtorchesters. Mit Erich Marckhl, dem damaligen Direktor der Musikschule, hielt er engen philosophischen Briefkontakt.
        Wer Gelegenheit hatte, mit Schuster im privaten Kreis Kammermusik zu spielen, konnte erleben, dass er – nach seinen eigenen Worten – nicht bloß zum genießenden Vergnügen in der zweckfreien Sphäre einer Feierabendkultur zum Cello griff. Die Fähigkeit, Gegensätzliches gleichzeitig aussagen zu können, hielt er für die feinste Ausdrucksmöglichkeit der Musik. Wein, Brot und Verhackertes wurden erst nach vollbrachtem Spiel am Jogltisch genossen. Unvergessen bleibt von einer Exkursion nach Prag das gemeinsame vergnügliche Spiel der drei Flötenquartette Mozarts in der Villa Bertramka, dem von Mozart so geschätzten Aufenthaltsort der Familie Duschek.
    Ein Foto zeigt Schuster beim häuslichen Cellospiel. Wie seine Hände beim Geigenbau einfühlsam und mit Fingerspitzengefühl die Stecheisen in Decke, Boden und Schnecke setzten, er mit energischem Strich Architektur skizzierte, spielten seine Hände auch beim Cellospiel harmonisch und ausdrucksstark zusammen. Sein Blick auf die Noten ist nicht romantisch-verklärt. Es ist die nüchtern prüfende Sicht eines Analytikers, der die Klarheit von Bachs Kunst der Fuge bewundert, sich während der Planung des Dampfkraftwerkes Werndorf mit der Motorik von Honeggers Pacific 231 auseinandersetzt oder sich anlässlich des 20. Todestages Anton von Weberns für das Destillat der Bagatellen op.9 interessiert.
    Aller augenscheinlich hohen Intellektualität und scheinbar äußeren Sprödigkeit zum Trotz, war Schuster auch ein einfühlsamer Herzensmensch. Treffend bemerkt er in seinem Notizheft: "Alles, was nicht zum Erlebnis wird, geht daneben." Immer wieder hat er sich mit großem persönlichen Engagement für die Nöte von Studierenden eingesetzt. Um für einen Studenten die Kopie seines vergessenen Reisepasses in der nächstgelegenen Bezirkshauptmannschaft persönlich zu beschaffen, unterbrach er am Grenzübergang stundenlang eine Reise in die damalige Tschechoslowakei. Eine von unserem Zeichensaalboss im Dekanat mehrmals erfolglos vorgebrachte Petition, nach einem der berüchtigten Architekten-Gschnasfeste eine farblich wie auch plastisch dekonstruktiv bearbeitete Wand auf Dekanatskosten renovieren zu lassen, beglich er schließlich aus eigener Brieftasche.   
    Sein ganzes Leben lang war Schuster aber auch von Selbstzweifeln an der Richtigkeit seiner beruflichen wie küstlerischen Entscheidungen geplagt. Im Werkstattbuch betrachtet er Geigenbau als Beruf im ureigensten Sinn. Dennoch, so notiert er, blieben die Zweifel ein Leben lang bestehen. Als Handwerker, Musiker, Architekt und Lehrer hat er den Unterschied zwischen der Sicherheit bietenden Arbeit an der Werkbank und einer oft von Zweifel geprägten Arbeit am Zeichentisch bestens gekannt. Noch kurz vor seinem Tod soll er Bedenken an seiner Berufsentscheidung zum Architekten geäußert haben.
    Trotz seiner starken verbalen Präsenz hat Schuster ein Leben lang nach dem Unaussprechlichen gesucht: als Geigenbauer, der das Klangbild einer Violine aus der innenräumlichen Qualität des Geigenkorpus zu entwickeln suchte; als Musiker, der sein Instrument in Beziehung zu den akustischen Eigenschaften eines Raumes zum Klingen brachte; als Architekt, der die Baustruktur vieler seiner Bauten räumlich durch Proportion und Harmonie artikulierte, um Betroffenheit unter den Menschen zu bewirken.
    So fügt sich für uns das Bild von Ferdinand Schuster als Mensch: Beruflichen, künstlerischen wie gesellschaftspolitischen Herausforderungen hat er sich immer wieder von neuem gestellt. In bedingungslosem Ringen nach intellektueller Klarheit hat er stets versucht, diese Ansprüche in Einklang mit sich selbst zu bringen. Ohne seine geistigen und seelischen Kräfte zu schonen, musste er – Sisyphos gleich – ständig gegen Gipfel ankämpfen. Der Kampf gegen Gipfel, schreibt Albert Camus in seinem Essay Der Mythos des Sisyphos‚ vermag ein Menschenherz auszufüllen. Obwohl der Gipfelsieg Ferdinand Schuster zuletzt verwehrt blieb, dürfen wir uns – anknüpfend an Camus – ein zwar von Mühen und Zweifel geplagtes, aber dennoch reiches und sinnerfülltes Leben vorstellen.

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