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„Gaia approaches“ (Bruno Latour)
Wir erinnern uns: Im Jahr 2000 haben der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen und der Limnologe Eugene F. Stoermer den Begriff des Anthropozän für eine neue erdgeschichtliche Epoche, die durch die dominante geophysikalische Macht des anthropos bestimmt sei, in die geologische und umweltwissenschaftliche Debatte eingeführt.(1)
Die Hypothese ist in der Folge laufend weiterentwickelt und bald in die öffentliche Debatte hineingetragen worden. Bemerkenswert ist, dass das Anthropozän-Konzept durchgehend als ein Narrativ präsentiert wird, als eine Geschichte mit Protagonisten, einer Ereigniskette, einem Plot mit Ursache-Wirkungs-Verhältnissen(2) und darüber hinaus mit einer spezifischen räumlichen und zeitlichen Struktur, die zusammen der Sinnstiftung dienen. Der Protagonist ist die gesamte Menschheit als geophysikalische Kraft, die so tiefgreifende Spuren auf dem Planeten hinterlässt, dass sie auch nach „Hunderttausenden von Jahren“, etwa durch radioaktive Isotope oder CO2-Ablagerungen, noch in den Sedimenten nachweisbar sein werden.(3) Das Konzept der „planetary boundaries“ (Johan Rockström) entwirft die Perspektive eines „safe operating space for humanity“, dessen Parameter nicht überschritten werden dürfen. Nach Berechnungen des Kulturgeographen Erle C. Ellis sind mittlerweile (Anm. 2008) mindestens 75% der bewohnbaren Erdoberfläche von Menschen überformte Natur, die er – abgeleitet von Biomen, ökologischen Großlebensräumen – als „Anthrome“ bezeichnet.(4) Demnach ist 'Natur‘ mittlerweile in großem und planetarem Maßstab anthropogene, eine vom Menschen kulturell und technisch überformte Natur. Schon vor dem Anthropozän-Diskurs sprach Bill McKibben vom „End of Nature“ (1989) und aus posthumanistischer Sicht prägte Donna Haraway (2003) für die enge Wechselbezüglichkeit von Natur und Kultur den sinnfälligen Begriff der „Natureculture“. Als am 29. August 2016 in diversen Zeitungen und Plattformen das lang erwartete Ergebnis der Arbeitsgruppe der International Commission on Stratigraphy (ICS) auf dem 35. Internationalen Kongress der Geological Society mit den Worten verkündet wurde: „The Anthropocene is here“, stach die Durchbruchsrhetorik ins Auge, in welcher der Akt der Benennung der neuen geologischen Epoche mindestens genauso wichtig erschien wie die wissenschaftliche Bestimmung selbst. Bei der Diskussion um die Durchsetzung des Anthropozän geht es damit auch um wissenschaftliche Reputation, Deutungshoheit und das Abstecken von Claims, die in den Narrativen transportiert werden. Die Bedeutung der Anthropozän-Hypothese wird mit den großen wissenschaftlichen Paradigmenwechseln wie Darwins Evolutionstheorie oder der von Galilei ausgelösten Kontroverse der Stellung des Menschen im Universum parallelisiert.
Im Kontext der Debatten um das Konzept des Anthropozän, demzufolge die Menschheit zu einer geologischen Macht geworden ist, kommt es in jüngster Zeit zu einer Art „geological turn”. Autor*innen wie Bruno Latour, Isabelle Stengers und Donna Haraway rekurrieren in ihren Schriften auf die Figur der Erde, die mit dem mythischen Namen ‘Gaia‘ belegt oder mit anderen chthonischen Gottheiten in Verbindung gebracht wird. Andere Autor*innen führen neue Begriffe wie etwa „geo-power” ein. Zentrale Bezugspunkte sind dabei die Gaia-Theorie von James Lovelock und Lynn Margulis sowie die Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari.(5)
Bei Bruno Latour nimmt Gaia beispielsweise eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum geht, die Naturwissenschaften neu zu definieren und den Glauben an objektive Wahrheit durch ein pluralistisches Konzept der Existenzmodi zu überwinden. Er versteht Gaia als Katalysator, der die Menschheit zwingt, ein neues Verständnis der Beziehung von Natur und Kultur zu entwickeln – eines, in dem die Natur eben nicht länger ein passives Objekt ist, das objektiv erforscht und durch kulturelle Errungenschaften beherrscht werden kann.(6) Für Latour verspricht ‘Gaia‘ die Chance, die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft in Zeiten ökologischer Krisen neu zu definieren. Gaia impliziert ein holistisches Verständnis, in dem die Menschheit und die Biosphäre der Erde untrennbar verbunden und ineinander verwoben sind. Indem er das unmittelbare Bevorstehen dieses Zustands beschwört, drängt Latour auf die Notwendigkeit einer neuen Art des Denkens, um der (drohenden) Gefahr des Klimawandels entgegenzutreten. Aber Gaia ist bei Latour nicht nur das konzeptuelle Objekt, sondern auch das Subjekt der Aussage: „Gaia naht.“ Für Latour ist Gaia ein Akteur, mit dem die Menschheit in Konfrontation tritt. Gaia ist beides: Konzept und Wirkungsmacht. Die Tatsächlichkeit des Klimawandels zwingt die Wissenschaften zum Überdenken ihres Naturverständnisses. Gleichzeitig ist der Klimawandel von den Wissenschaften selbst durch Vermessungen, Modelle und Computersimulationen konzeptuell konstruiert: Die Idee des Klimawandels ist gemacht, auch wenn sie auf Datenspuren basiert. Das gilt auch für die Idee Gaias. Nach Latour steht die Menschheit am Scheideweg zwischen Ökologisierung und Modernisierung.
Sollen wir die Objektivierung der Erde durch Technowissenschaften weiter vorantreiben, um die leblose Natur zu beherrschen? Oder sollen wir uns als Teil einer lebenden globalen Ökologie neu begreifen?
Latour befürwortet Letzteres, ist sich aber bewusst, dass die schlichte Dekonstruktion des Wertesystems der Moderne nicht genug ist, um den Wandel einzuläuten. Nötig sei eine Assemblage positiver Werte, eine neue Art des Denkens, ein neues ökologisches Glaubenssystem, begründet in der Figur Gaias: „It is now before Gaia that we are summoned to appear: Gaia, the odd, doubly composite figure made up of science and mythology used by certain specialists to designate the Earth that surrounds us and that we surround, the Möbius strip of which we form both the inside and the outside, the truly global Globe that threatens us even as we threaten it.“
Latour schreibt über den „Rückruf der Moderne“ (recalling modernity) – und zwar im wörtlichen Sinne. Die Moderne zurückzurufen suggeriert ein Besinnen und Hinterfragen der ihr zugrundeliegenden Annahmen, aber auch die Möglichkeit, sie völlig neu zu gestalten. Für Latour sind die Metaphysiken der Moderne defekt und müssen ersetzt werden – genau so wie der beschädigte Motor eines Autos. Dabei ist ein diplomatisches Vorgehen vonnöten, ein großer Verhandlungsprozess, in den alle möglichen Existenzweisen (modes of existence) gleichberechtigt eintreten. Die Logiken, Annahmen und Prämissen von Religion, Wissenschaft, Recht etc. sollen öffentlich diskutiert werden. Latours Abhandlung ist der Beginn eines Prozesses, an dessen Endpunkt idealerweise eine neue Metaphysik steht, woran die Denkfigur „Gaia“ wesentlich mitwirkt.
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(1) Etliche Vorläufer-Konzepte wie etwa era anthropozoica (Stoppani), Noosphäre (Vladimir I. Vernadsky/Teilhard de Chardin), anthropogene Ära (Alexei P. Pavlov), Anthropozoikum (Hubert Markl) oder anthrocene (Revkin) umschreiben bereits menschliche Einflüsse auf das planetare Ökosystem mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Ausgangsprämisse. Demgegenüber betonen Hamilton/Grinevald das Neuartige des Anthropozän-Konzepts, das erstmals in den Erdsystemwissenschaften fundiert sei.
(2) Ursula K. Heise, Comparative Ecocriticism in the Anthropocene, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 2013
(3) Jürgen Renn/Bernd Scherer (Hrsg.), Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, 2015
(4) Erle C. Ellis/Navin Ramankutty, Putting People in the Map: Anthropogenic Biomes of the World, in: Frontiers in Ecology and the Environment 6, 2008
(5) Susanne Lettow, Die Figur der Erde. Genealogie und Kritik des "geological turn", Lehrveranstaltung, WiSe 2020/21, Freie Universität Berlin
(6) Bruno Latour, An Inquiry into Modes of Existence: An Anthropology of the Moderns, 2013
Lektüre:
– Gabriele Dürbeck, Narrative des Anthropozän – Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, Jg. 3 (2018), Nr. 1: https://doi.org/10.25969/mediarep/3602
– Niklas Schrape, Spiel mit Gaia, in: Alexander Friedrich/Petra Löffler/Niklas Schrape u.a. (Hg.), Ökologien der Erde. Zur Wissensgeschichte und Aktualität der Gaia-Hypothese, 2018: https://doi.org/10.25969/mediarep/2272
– Johan Rockström/Paul Crutzen/Kristin Noone u.a., Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. Ecology and Society 14, 2009: http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/
Datum:
Infobox
Environmental Thinking
Bettina Landl zur Notwendigkeit einer neuen Art des Denkens, eines neuen ökologischen Glaubenssystems
Ausgangspunkt des Textes ist die Teilnahme am Onlinekurs „Environmental Thinking in Artistic and Curatorial Practices“ im Rahmen des Post-Graduate Programme in Curating an der Zürcher Hochschule der Künste (ZhDK, s. Link > curating.org) unter der Leitung von Emanuele Guidi (Autor, Kurator und künstlerischer Leiter des ar/ge kunst, Kunstverein in Bozen) mit Bezug auf den „geological turn“ und die neuesten Theorien und künstlerischen Praktiken rund um den Begriff ‘Umwelt’.
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