20/09/2017

Eine entzückende Stadt*

Emil Gruber zum Buch
Mein Graz von Karl Wimmler

* Theodor Adorno nach einem Auftritt in Graz (siehe 1967 im Buch Mein Graz )

Karl Wimmler umkreist, was sein Graz ausmacht. Ausgehend von Fund- und Bruchstücken zwischen 1913 und 2017 erzählt er von einem so noch nicht beschriebenen Graz – von Schriftstellern, Künstlerinnen, Verbrechern, Kriegern, Opfern; von Geehrten und Vergessenen, von ersten Autos und den ersten Politessen, von Einwanderinnen und Flüchtlingen, Medizin und Kultur, Widerstand und Anpassung. (CLIO)

20/09/2017
©: CLIO - Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit

"Sich mit Graz zu beschäftigen, ist für einen Nicht-Grazer aussichtslos. Über Graz könnte man Bücher schreiben, man würde sie aber in Graz nicht lesen, und wenn, würde man es sich nicht eingestehen. Die Grazer – die es nicht gibt – schreiben. Und die Architekten? Die Grazer Schule ist ein missglückter Begriff, weil es in Graz keine Schüler gibt. Eine Zunft von Einzelgängern, Einzelkämpfern. Der Grazer Architekt – den es nicht gibt – ist höchstens Lehrer, nie Schüler."

Diese Sätze verfasste der Architekt und Schriftsteller Friedrich Achleitner im Rahmen seines Beitrags zu dem 2003 von Klaus Hoffer und Alfred Kolleritsch herausgegebenen Buch Graz von aussen. In der bei Droschl erschienen Anthologie schrieben über vierzig Autorinnen und Autoren sehr persönliche Eindrücke über die damalige europäische Kulturhauptstadt.
In eine Innensicht wandelt solche und viele andere Fundstücke das neueste Buch des Historikers und Schriftstellers Karl Wimmler. Mein Graz – Ein Jahrhundert in Bruchstücken ist ein tief subjektiver Blick auf Menschen und Ereignisse in der letzten Dekade. Wimmler hat für diesen Schnelldurchlauf durch die Geschichte einen kurzweiligen Zugang gewählt. Beginnend mit 1913 wird für jedes Jahr auf knapp einer Seite eine Originalquelle zitiert. Im Anschluss kommentiert Wimmler und bindet die Zitate in den geschichtlichen Kontext ein. Mehr als hundert Jahre voll mit intensiven Momenten bis ins Heute entstehen.
Da gibt es heftiges Erinnern zu bekannten Größen.
Wer weiß noch oder es überhaupt, dass Peter Handke von Polizisten 1971 der Zutritt zur eigenen Lesung in der Neuen Galerie verwehrt wurde und dabei der aufgebrachte Dichter den zwecks Vermittlung herbeigeeilten damaligen Kulturlandesrat Jungwirth mit einer Zeitung attackierte. 1969 zeigte Landeshauptmann Krainer senior Format, als Gräfin Goess intervenierte, das im Rahmen des steirischen herbst uraufgeführte Wolfgang Bauer Stück Change wegen "Beleidigung des Abendlandes“ abzusetzen. Die kurze Replik des Politikers: "Bei uns wird nix verboten. Die Zeit ist vorbei."
Die wahren Hauptrollen spielen aber die Einwirkungen von politischen und sozialen Veränderungen auf die an sich wenig bis gar nicht bekannten oder vergessenen Menschen, kurz die Alltagsgeschichte.
Philippine Bendiner zum Beispiel war 1925 eine der ersten Frauen, die in Graz Jus, ein Studium, das bis 1919 Frauen verwehrt geblieben war, inskribierte.
Der Pfleger an der damaligen Landesirrenanstalt Am Feldhof Franz Beletz beobachtete 1940 die Abtransporte von geistig Behinderten nach Hartheim, wo sie später im Rahmen der reichsweiten Aktion T4 ermordet wurden.
Der Grazer Kurt Köck fordert in einem Leserbrief an die Kronenzeitung vehement 1988 nach der Burgtheateraufführung von Heldenplatz, man solle "Herrn Peymann und Herrn Bernhard stante pede zum Teufel jagen", befürchtet aber, "im lieben Wien sitzen scheinbar ‚Freud’sche Masochisten, die noch applaudieren, wenn man ihnen ins Gesicht spuckt!"
50 Schilling hat Parken im Halteverbot gekostet, erinnert sich Herta Murlasits, die 1972 eine der ersten Politessen in Graz wurde.
Jazzexperte Otmar Klammer wiederum erzählt von einer ereignisreichen Einbindung des Hauptplatzkurtl in seine Band. Kurtl war in den 1970ern und 1980ern das Szeneoriginal, so bekannt, dass die Post Briefe mit der Aufschrift: Herr Kurt, Hauptplatz, Graz, sogar in sein Stammlokal, dem Lückl, zustellte.
Dem Leser, der Leserin, allen steht es in Mein Graz frei, in den über hundert Jahren chronologisch oder kreuz und quer zu reisen. Die Auswahl durchmisst nicht nur Zeit, sondern funktioniert auch als Lupe für Verdrängtes, als Wiedereinschalter von eigenen Erinnerungen. Es ist ein sehr persönliches und höchst politisches Buch zugleich. Karl Wimmler scheut sich dabei nicht, seine Sicht auf das Gewählte und das Warum klar zu positionieren. Seine Kommentare sind emotional und leidenschaftlich, hin und wieder polemisch.
Aber Karl Wimmler darf das, es ist ja sein Graz.

* Theodor Adorno nach einem Auftritt in Graz (siehe 1967 im Buch Mein Graz)

Buchempfehlung

Karl Wimmler
Mein Graz
Ein Jahrhundert in Bruchstücken
Geb., 256 Seiten
CLIO, Graz, 2017
Euro 22,00
ISBN 978-3-902542-58-8

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