17/09/2011
17/09/2011

Ausschnitt des Online-Stadtplans von Graz. Anmerkung: Überwachungskameras sind als Kästchen markiert. (12)

Ausschnitt des Online-Stadtplans von Graz. Anmerkung: Überwachungskameras sind als Kästchen markiert. (12)

Der Überwachungsdiskurs in den Medien

Das Thema dieses Artikels ist der Diskurs über die Überwachung von öffentlichen Orten und die zwischenmenschliche Kontrolle. (1) Die Art und Weise, wie bestimmte Probleme in Medien dargestellt werden, sagt Grundlegendes über gesellschaftliche Diskurse sowie über das Bild jener Gruppen aus, über die berichtet wird. In den Berichten werden verschiedene Aspekte betont, ausgeschmückt oder ausgelassen, um ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit zu konstruieren. Dabei kommen die betroffenen Menschen nicht selbst zu Wort, es wird vielmehr über sie berichtet, „und wenn sie zu den Herrschenden sprechen, dann neigen sie dazu, sich eines ausgeborgten Diskurses zu bedienen, nämlich des Diskurses, den die Herrschenden über sie halten.“ (2)

Für die folgende Analyse wurden österreichische Printmedien herangezogen. Insbesondere konzentrierten wir uns auf Artikel, die sich auf die Stadt Graz beziehen und erheblich an der Produktion eines aktuell wirksamen Überwachungsdiskurses beteiligt sind. Die Medien stellen aufgrund ihrer breiten Rezeption ein verführerisches Instrument dar, um politische Diskurse zu verbreiten. Die Politik operiert mit den Begriffen „Sicherheitspolitik“ und „Sicherheitsraum“. Wir verwenden die Begriffe „Überwachungsdiskurs“ und „Überwachungspolitik, da der politisch instrumentalisierte Sicherheitsbegriff auf direkte wie indirekte Weise durch Überwachung garantiert werden soll. Der Überwachungsdiskurs ist durch einen ambivalenten Charakter gekennzeichnet, er befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Befürwortern und Gegnern. Einerseits wird Videoüberwachung von öffentlichen Orten als ein geeignetes Medium betrachtet, um Kriminalitätsbekämpfung voranzutreiben. Andererseits sehen Kritiker die bürgerlichen und freiheitlichen Grundrechte bedroht. Eine strikte Trennung dieser beiden Positionen ist allerdings nicht immer vollziehbar, da der öffentliche Überwachungsdiskurs mit unauffälligen Kommunikationsstrategien arbeitet. Hinter der Ausweitung von vielfältigen Überwachungsstrategien verbirgt sich eine Disziplinierung, die zu einer Umformung der Menschen führen soll. Die Vereinheitlichung des Verhaltens von Individuen wird allmählich zur Funktionsbedingung städtischen Lebens. (3) Eine Abweichung von der Norm hat Sanktionen zur Folge. Den Menschen werden durch Selbstzwang und Kontrolle gleiche Verhaltensweisen „anerzogen“, weil das Verhalten der Menschen aufeinander abgestimmt werden muss, damit der Einzelne in dieser „fundamentalen Verflechtung“ (4) seine gesellschaftliche Funktion erfüllen kann. Dies schafft einerseits Erleichterung für eine Verfügungsgewalt über die Gesellschaft und andererseits die Grundbedingung für das Zusammenleben von vielen Menschen. Gesellschaftlich hergestellte symbolische Ordnungen und Systeme werden in und durch Diskurse produziert. Eine der Funktionen des Überwachungsdiskurses ist es, Denk- und Handlungsweisen vorzuschreiben, auf die wir im Folgenden näher eingehen möchten.

Sicherheitspolitik und Überwachung in Graz
Die Überwachung von öffentlichen Plätzen spielt eine bedeutende Rolle in der Grazer Stadtpolitik. Neben Videoüberwachung wird die Polizei durch die seit Dezember 2007 aktive Ordnungswache unterstützt. Die Ordnungswache der Stadt Graz soll laut Bürgermeister Siegfried Nagl „für mehr Sauberkeit und Ordnung sorgen“. (5) Konkrete Aufgabengebiete sind unter anderem die Überwachung von Parkanlagen, die Einhaltung des Alkoholverbots- und des Jugendschutzgesetzes. (6) Das Landessicherheitsgesetz, das vor allem die Lärmregelung und Störung des öffentlichen Gemeinschaftslebens, Anstandsverletzung und die Haltung von Tieren thematisiert, bildet die rechtliche Grundlage für die Ausübung ihrer Tätigkeit. Entgegen seiner Bezeichnung als Landessicherheitsgesetz geht es bei den im Gesetz beschriebenen Tatbeständen nicht direkt um den Erhalt der Sicherheit, das heißt es wird keine Gefährdung der Öffentlichkeit oder von Einzelpersonen angesprochen. (7) Es geht vielmehr darum, „Verhalten“ zu unterbinden, das „mit den allgemeinen Grundsätzen der Schicklichkeit nicht in Einklang steht und das einen groben Verstoß gegen die in der Öffentlichkeit zu beachtenden Pflichten darstellt.“ (8) Es handelt sich also um Vergehen, die nicht klar definiert sind. Zu beurteilen, wer gegen das Landessicherheitsgesetz verstößt und wer nicht, obliegt den BeamtInnen der Ordnungswache. Die Ordnungswache greift aktiv und real in das städtische Leben ein. Videokameras hingegen zeigen eine subtilere Wirkungsweise. Ihr Effekt ist ein psychologisierender, ihr Blick nicht subjektiv und zielgerichtet wie jener der MagistratsbeamtInnen, die die Stadt patrouillieren – im Visier der Überwachungskamera sind alle PassantInnen gleich verdächtig. Heute richtet sich das Interesse der ÜberwacherInnen nicht mehr nur auf wirkliche GesetzesbrecherInnen, sondern auf alle, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Im Sinne einer Misstrauenspolitik werden alle BürgerInnen zu potentiellen TäterInnen gemacht, alle Orte zu möglichen Orten des Verbrechens. Überwachung ist allgegenwärtig und an jeder Ecke der Stadt einforderbar geworden. (9) Diese Entwicklung führt zu einer Misstrauenspolitik. Schon vor 2005 gab es, nach Gerichtsbeschluss, vereinzelt Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen in Graz. Seit der neuen Gesetzesauflage im Jahr 2005 floriert die Überwachungsmaschinerie der Stadt: Der Jakominiplatz wird seit September 2005 mit Kameras überwacht. (10) Am Hauptbahnhof wurden bereits im Mai 2007 Überwachungskameras installiert, die im Jänner 2008 durch drei weitere Kameras ergänzt wurden, die den Bahnhofsvorplatz filmen. (11) Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Kameras, die nicht von der öffentlichen Stadtverwaltung installiert wurden, sondern Geschäftslokale oder Privatgebäude überwachen.

Ein interaktiver Stadtplan, der vom Grazer Verein „Wirdorange – Verein für Technik in Kultur und Gesellschaft“ betrieben wird, zeigt diese Auswirkungen sehr deutlich. (siehe Abb.) Besucher der Internetseite können Überwachungskameras im Stadtplan markieren und ihnen Fotos sowie eine genauere Beschreibung anfügen.

Neben der gesellschaftspolitischen Bedeutung kommt dem Thema Überwachung auch eine ökonomische Bedeutung zu. Der Wirtschaftszweig „Sicherheit“ erweist sich als gewinnträchtig und zukunftsorientiert. Wie in anderen Lebensbereichen hat sich auch hier das Streben nach Effizienz etabliert, dies zeigt sich auf internationaler Ebene am EU-Förderungsrahmenprogramm „Sicherheitsforschung“, an dem Österreich als Mitgliedsstaat teilnahm. (13) Die mit jährlich 20 Millionen Euro geförderte Forschung soll sich sowohl Sicherheitsproblemen, als auch den Ursachen einer zunehmenden Verunsicherung der Bevölkerung widmen und Projekte im Innovations- und Technologiebereich umsetzen. (14)

Allgegenwärtiger Panoptismus
Videoüberwachung ist durch einen panoptischen Charakter gekennzeichnet, wobei wir zwei Formen des „allgegenwärtigen Panoptismus“ unterscheiden. (15) Einerseits weisen wir auf die zwischenmenschliche Kontrolle hin, durch die alle Menschen einander kontrollierende Blicke zuwerfen und diese gegenseitig vermuten. (16) Andererseits möchten wir auf das zunehmende Ausmaß an Überwachungskameras im städtischen Raum aufmerksam machen. Das Prinzip der panoptischen Überwachung wurde bereits von Jeremy Bentham im 18. Jh. als idealtypisches Gefängnis entwickelt. Dieses lässt die Inhaftierten ihre allgegenwärtige Überwachung vermuten, was dazu führt, dass sich die Häftlinge durch die ungewisse Situation so verhalten, als könnten sie beobachtet werden. Der Mechanismus, der hier angewandt wird, ist keiner, der im 18.Jh. verblieben ist. Unsichtbare Überwachung wird heute an vielen öffentlichen Orten angewandt. Der überwachte Raum ist mit Unsichtbarem, Unheimlichkeiten und Unausgesprochenem aufgeladen und bewirkt ein vorsichtiges, nervöses, kontrolliertes Verhalten. Die inhaftierte Person hingegen weiß, woher der Kontrollblick kommt, im öffentlichen Raum der Stadt könnte er von überall stammen. Menschen kontrollieren und disziplinieren einander und strafen jene mit Blicken, die sich nicht der Norm entsprechend verhalten. Dieses verinnerlichte „indirekte Strafsystem“ ist Produkt der gesellschaftlichen Sozialisation.
Die Grenzziehung zwischen Orten der Freiheit und Orten der Unfreiheit geht verloren. Bei Radarkontrollen von öffentlichen Straßen wird der panoptische Charakter von Überwachungsmedien besonders sichtbar. Radar-Geräte, ob aktiv oder nicht, bewirken ein Verhalten, das den festgelegten Regeln des Straßenverkehrs folgt.

Der Einschränkung von Freiheit durch neue Installationen zugunsten von Sicherheit wird kaum Widerstand entgegengesetzt. StadtbewohnerInnen haben die Freiheit, Überwachungskameras an ihren Häusern zu installieren. Dadurch wird das Handeln der Regierung legitimiert, da sie einen hohen Anspruch an der Überwachung des städtischen Lebens hat und die Menschen gleichzeitig damit angeleitet werden, selbst zu überwachen. Auch die Beziehungen der StadtbewohnerInnen zueinander und ihr Verhältnis zum Raum verändern sich. Die Bewegungen und Dynamiken werden zunehmend mit Spannung aufgeladen, obwohl durch Kontrollmechanismen das Gefühl von Sicherheit erzeugt werden sollte. Dieses Paradoxon konnte im urbanen Raum in solchem Ausmaß zustande kommen, da hier subtile Mechanismen wirken, sich Überwachungstechniken ausbreiten und viele aufmerksame Augen aufeinander treffen. In einer Zeit, in der der „flexible Mensch“ (17) durch veränderte Lebensverhältnisse neuen Formen der Unsicherheit ausgeliefert ist, wird er besonders anfällig für Angebote, die Orientierung und Halt suggerieren.

Der Überwachungsdiskurs in den Medien
Im medialen Überwachungsdiskurs geht es vor allem um die Begründung und Legitimierung von Überwachungskameras. Wir konnten bei unserer Analyse drei grundlegende Legitimationsaspekte identifizieren, welche einander gegenseitig bedingen und bestärken. Dieses Aggregat von „Personalmangel“, „Kriminalitätszunahme“ und „positiven Erfahrungsberichten“ wollen wir im Folgenden darstellen.

Zunächst erfolgt die Legitimierung dadurch, dass die Polizei von einem Personalmangel berichtet und daher die Notwendigkeit sieht, das Überwachungsnetz mittels Videoinstallationen auszubauen. Außerdem werden zunehmend Aufgabenbereiche der Polizei an private Firmen delegiert, um neben der Erfüllung des enormen Anspruchs, alles überwachen zu können, das staatliche Budget zu entlasten.

Ein weiterer Legitimationsaspekt ist der Hinweis auf die Kriminalitätszunahme im öffentlichen Raum. Dabei werden Täter als zunehmend brutaler und bewaffneter beschrieben. Diese Annahmen stimmen jedoch nicht mit den Kriminalitätsstatistiken aus dem Jahr 2008 überein: Laut im Internet einsehbarer Berichte kam es zu einer Kriminalitätsabnahme. (18) Es handelt sich um Diskurse, die eine nicht der Realität entsprechende Kriminalisierung der Gesellschaft behaupten und die ohnehin vorhandene Kriminalitätsfurcht der LeserInnen schüren. Dabei wird beispielsweise die Unkontrollierbarkeit der Kriminalakte angedeutet wie in folgendem Artikelausschnitt: „Zahl der Raubüberfälle in Graz hat drastisch zugenommen … die Überfälle passieren zu jeder Tages- und Nachtzeit – und werden immer brutaler. (19) Es gehört zum Wesen des Journalismus, über Einzelfälle zu berichten, wenn Probleme oder Konflikte auftreten. Die Gründe dafür werden meistens vor Ort gesucht und gefunden, auch wenn sie mitten im Zentrum des Staates zu verorten sind. (20)Die dahinter liegenden gesellschaftlichen Veränderungen (wie ansteigende Arbeitslosigkeit und zunehmende Prekarisierung) werden dagegen nicht thematisiert. Die Kriminal-Berichterstattung konstruiert Bilder von „Gefahren“, „gefährlichen Orten“ und „sozialen Brennpunkten“: Dieser Teil des Überwachungsdiskurses richtet sich vor allem gegen MigrantInnen und Jugendliche. In Berichten über Kriminalfälle, bei denen MigrantInnen involviert waren, wird häufig auf das Herkunftsland der TäterInnen verwiesen. Durch die Beschreibung der AkteurInnen mittels ihrer Nationalität werden stereotype Bilder von „kriminellen AusländerInnen“ bestärkt. Daneben häufen sich Berichte über Jugendkriminalität: Diese wird als „explodierendes“ (21) Problem dargestellt, als etwas, das eben nicht zu kontrollieren ist. Die Artikel widmen sich möglichen Formen der Disziplinierung, z.B. in Boxcamps, (22) in denen eine Lösung des Problems gefunden wird, ohne nach den Ursachen zu fragen. Im Überwachungsdiskurs werden Mechanismen der Ausgrenzung wirksam: Im Sinne eines „eingeengten Sicherheitsbegriffes“ rücken Gesundheit, Existenzsicherung und sichere Beschäftigungsverhältnisse in den Hintergrund. Er handelt von jenen Menschen, die sich durch sozial Schwächere bedroht fühlen, wodurch sich die Aufmerksamkeit auf Menschen in gefährdeten Zonen konzentriert, deren Existenz durch den Abbau des Sozialstaates nicht mehr länger gesichert ist. Anstatt die Gefährdungen, denen sie ausgesetzt sind, zu erkennen, werden sie zur Gefahr erklärt. An Stelle der Existenzsicherung wird die „strafrechtliche Behandlung von Armut“ gesetzt. Diese Kriminalisierung prekär lebender Menschen führt zur Verheimlichung und Neutralisierung gesellschaftlichen Elends und seiner Auswirkungen. Sie trägt zur Zunahme von Unsicherheit und Ausgrenzung bei, aus denen sie sich nährt und die ihren Bestand garantieren soll. (23) Die Dramatisierung von Gefahren steigert die Nachfrage nach Sicherheit: „Erst definiert man die Stadt als gefährlich und bezeichnet sie als gefährlicher denn je zuvor, obgleich die Daten das nicht hergeben. Dann „definieren“ Polizeipräsenz und Videoüberwachung die städtische Situation grundsätzlich als gefährlich. Ein unheilvoller Kreislauf, der nach der bekannten soziologischen Einsicht funktioniere: If men define a situation as real it is real in its consequences (William Thomas).“ (24)

Neben dieser Begründung für die Überwachung öffentlicher Plätze, wird in den Artikeln konstant auf weitere Maßnahmen verwiesen, die einen fortwährenden Ausbau der Überwachungstechnologien erkennen lassen.

Um die Notwendigkeit der Installationen von Überwachungskameras zu bekräftigen, werden bei Hinweisen auf zukünftige Installationen positive Erfahrungsberichte angeführt. Einige Berichte betonen Fahndungserfolge, die nur durch installierte Kameras möglich waren, da dadurch TäterInnen ausfindig gemacht werden konnten. Damit wird ein positives Bild der zunehmenden Überwachung verdeutlicht. Diese Berichte verweisen kritische LeserInnen aber auch darauf, wie viele Orte bereits videoüberwacht sind, was wiederum die Zunahme solcher Berichte bzw. Fahndungsmöglichkeiten erklärt. Falls es keine konkreten Hinweise gab, die zur Aufklärung einer Straftat geführt haben, half zumindest die bloße Existenz des unsichtbaren Auges, so die Bundesbeamten. Ein Vermerk der leicht anzuführen ist, da er keine Beweisausführung möglich macht.

Die genannten Legitimationsaspekte werden im Überwachungsdiskurs durch einen Beruhigungsaspekt ergänzt. Es wird versucht, die StadtbewohnerInnen zu beruhigen und die Ambivalenz zwischen indirekter Überwachung und fehlender Einflussmöglichkeit des Einzelnen zu verringern. Von Seiten der Stadtregierung möchte man mit Hilfe der Printmedien auf die neuen Installationen aufmerksam machen und den BewohnerInnen verdeutlichen, dass das gewonnene Material nur für kurze Zeit oder nur bei besonderen Situationen auf Dauer gespeichert wird. Dahinter steht aber die unausgesprochene Tatsache, dass die Polizei frei über das gewonnene Datenmaterial verfügen kann und die Daten nicht vernichten muss.
Die Legitimationsaspekte des Überwachungsdiskurses treiben einander einer Spirale gleich gegenseitig an und bedingen einander, da nach der Installation neuer Überwachungskameras und durch die darauf folgende positive Berichterstattung der Ausbau neuer Technologien legitimiert wird.

Funktionen des Überwachungsdiskurses
Im Überwachungsdiskurs geht es neben der Ausgrenzung von Unerwünschten vor allem um Verhaltensnormierung. Michel Foucault unterscheidet zwei Grundprinzipien der Gesellschaft, in die soziale Kontrolle und damit auch die Technik der Videoüberwachung eingeordnet werden kann (25):
Seit dem 19. Jh. treten diese Prinzipien bei allen Machtmechanismen in gemischter Form auf. Zunächst kommt es zur Exklusion von Anormalen. Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, werden diejenigen von der Gesellschaft ausgegrenzt, die von der Norm abweichen. Die Ausgrenzung von Unerwünschten spielt eine zentrale Rolle im Überwachungsdiskurs. Dies zeigt sich am „Punkverbot“ am Grazer Hauptplatz oder der latenten Debatte über ein mögliches Bettlerverbot in Graz. Überwachungstechniken sind durch einen exklusiven Charakter gekennzeichnet, da die Täter ausselektiert werden. Durch den Überwachungsdiskurs kommt es zu einer „bewussten Verhärtung der Oberfläche der Stadt“ gegen sozial Schwache. (26) Dabei wird ein stummer Diskurs gegen Menschen geführt, deren Gegenwart nicht länger erwünscht ist. Mike Davis bezeichnet diese Entwicklung als Segregationspolitik. Die Struktur dahinter zielt auf ein gewünschtes Stadtbild ab, das ästhetischen Idealen folgt. Ein Beispiel dafür ist die Situation am Grazer Hauptplatz: Genuss und Wohlfühlen ist dort nur jenen Menschen erlaubt, die konsumieren. Konsum legitimiert das Verweilen am Hauptplatz. So beschloss die Stadtregierung 2007 ein Alkoholverbot für den Hauptplatz, mit dem Hintergedanken, den Hauptplatz – das Aushängeschild der Stadt, von „Unerwünschten“ wie alkoholisierte Personen, freizuhalten.

Ein weiteres von Foucault analysiertes Grundprinzip ist jenes der Integration, welches im Zuge der ersten Pestverseuchungen erstmals angewandt wurde. Um die Bevölkerung vor einer weiteren Epidemie zu schützen, mussten die Entwicklungen in der Gesellschaft geplant und kontrolliert werden, daher war man auf eine Überwachung der Menschen angewiesen. (27) Dieses Grundprinzip schließt abweichendes Verhalten nicht aus, wie jenes der Exklusion, sondern integriert es. Vor diesem Hintergrund kann Videoüberwachung auch eine präventive Funktion zugeschrieben werden, da durch eine systematische Integration „falsches Verhalten“ verhindert wird.

Die wichtigste Voraussetzung des Überwachungsdiskurses ist, dass die Menschen allmählich an die neuen Ansichten gewöhnt und so konditioniert werden und sich „das Normale als Zwangsprinzip etabliert“. (28) Es wird ein Diskurs geführt, der das „gefährliche Stadtleben“ und die damit verbundene Unsicherheit erst erzeugt.

Städte sind von der Privatisierung und Ökonomisierung des öffentlichen Raumes betroffen. Wie wir zeigen konnten, werden Menschen aus sozial benachteiligten Milieus systematisch ausgeschlossen bzw. daran gehindert, sich in ästhetisierten Konsumräumen aufzuhalten. Diese Besetzung und Aneignung eines Raumes wird nach Pierre Bourdieu als „Symbolisierung des Sozialraumes“ (29) bezeichnet. Soziale Räume werden von verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Milieus besetzt, wobei es, abhängig von den akkumulierten Kapitalien, ungleiche Chancen bezüglich der „legitimen“ Aneignung eines Raumes gibt. So dürfen sich sozial benachteiligte Menschen, die dem Bild vom profitablen Konsumenten widersprechen, nicht am Grazer Hauptplatz – dem Aushängeschild der Stadt – aufhalten. Zur Begünstigung des konsumträchtigen und ästhetischen „Lokalisierungsprofits“ (30) wird der Stadtraum durch direkte und indirekte Überwachung zu einem Sicherheitsraum, der ein subjektives Sicherheitsgefühl vermitteln soll. So lautet die Motivation des konservativen Bürgermeisters Nagl „…weitere Plätze mittels Videoüberwachung auf die sichere Seite [zu] holen“. (31) Um das Konsumverhalten anzuregen und so den wirtschaftlichen Profit zu fördern, ist die Stadt Graz an der Schaffung von subjektiven Sicherheitsräumen interessiert. Wer sich sicher fühlt, der bleibt und konsumiert. Dies wird am Beispiel von Einkaufszentren oder dem Grazer Hauptbahnhof deutlich, wo mittels Videoüberwachung und Kontrollorganen unerwünschten Personen wie BettlerInnen der Zutritt verweigert wird. Ökonomisch weniger begünstige Stadtteile oder Plätze der Stadt, wie der Grießplatz oder Lendplatz, sind wesentlich seltener Thema des Überwachungsdiskurses. (32) An diesen Orten existieren auch keine öffentlich eingerichteten Überwachungskameras. Dies verdeutlicht den Fokus der Stadtpolitik auf den Hauptplatz, dem ökonomisch mehr Bedeutung zukommt als anderen Teilen der Stadt.

Der Überwachungsdiskurs hat nicht die Sicherheit zum Ziel, er ist politisch und ökonomisch motiviert. Statt strukturelle gesellschaftliche Probleme zu lösen, werden sozial benachteiligte Menschen aus ökonomisch bedeutsamen Räumen der Stadt verdrängt. Überwachungstechniken führen in Wirklichkeit zu einer Problemverlagerung, da eine mögliche Kriminalitätsausübung oder ein nicht der Norm entsprechendes Verhalten, nun in anderen Räumen ausgeführt wird, bis sie als störend empfunden werden und der Verdrängungsprozess wieder in Gang gesetzt wird.

Fußnoten/Literaturverzeichnis:
(1) Es handelt sich hier um die Zusammenfassung einer Diskursanalyse, welche im Zuge einer zweisemestrigen Forschung am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie in Graz durchgeführt wurde.
(2) Champagne, Patrick: Die Sicht der Medien. In: Bourdieu, Pierre et. al. (Hg.): Das Elend der Welt, Konstanz 2005, S.63.
(3) Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S.25.
(4) Vgl.: Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische Untersuchungen (Zweiter Band), Amsterdam 1997, S.324.
(5) Vgl.: Grazer Ordnungswache ab morgen im Einsatz: http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/346656/index.do am 28.10.2009.
(6) Vgl.: Land bereitet Weg für Grazer Stadtwache: http://oesterreich.orf.at/steiermark/stories/222662/ am 28.10.2009.
(7) Vgl.: Reiners Diana / Malli Gerlinde / Reckinger Gilles: Bürgerschreck Punk. Lebenswelten einer unerwünschten Randgruppe, Wien 2006, S.61.
(8) Vgl.: Gesetz vom 18. Jänner 2005, mit dem ein Steiermärkisches Landes Sicherheitsgesetz erlassen wird (StLSG): http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/LrStmk/LRST_4000_002/LRST_4000_002 .pdf am 8.11.2009.
(9) Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S.38.
(10) Vgl.: Mehr Überwachung für Grazer Jakominiplatz: http://steiermark.orf.at/stories/70315/ am 07.03.2008.
(11) Vgl.: Videoüberwachung am Hauptbahnhof überführte Räuber: http://www.kleinezeitung.at/regionen/steiermark/graz/734225/index.do am 06.03.2008.
(12) Vgl.: Teleschirm – Big Brother, We’re Watching You!: http://www.orwell.at am 28.10.2009.
(13) Sicherheitsforschung – Begriffsfassung und Vorgangsweise für Österreich: http://epub.oeaw.ac.at/3469-5 am 10.12.2008.
(14) Sicherheitsforschung: Österreich-Konzept liegt vor: http://science.orf.at/science/news/134572 am 10.12.2008.
(15) Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S.286.
(16) Vgl.: Ebd., S.221.
(17) Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000.
(18) Bundeskriminalamt: „Für das Jahr 2008 zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Rückgang der Gesamtkriminalität gegenüber dem Vorjahr um 3,6 Prozent“ http://www.bmi.gv.at/cms/BK/publikationen/krim_statistik/Statistiken_200... am 13.12.2009
(19) Kronen Zeitung: 03.06.2008, S.18.
(20) Vgl.: Champagne, Patrick: Die Sicht der Medien. In: Bourdieu, Pierre et. al. (Hg.): Das Elend der Welt, Konstanz 2005, S.60.
(21) Kronen Zeitung, 27.04.2008, S.6.
(22) Vgl. Ebd.
(23) Vgl.: Wacquant, Loic: Elend hinter Gittern, Konstanz 2000, S.68.
(24) Zit. n. Blum, Elisabeth: Schöne neue Stadt. Wie der Sicherheitswahn die urbane Welt diszipliniert, Berlin 2003, S.68.
(25) Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S.251.
(26) Davis, Mike: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin 1994, S.269.
(27) Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S.251.
(28) Vgl. Ebd., S.237.
(29) Lenoir, Remi: Ein lebender Vorwurf. In: Bourdieu, Pierre et. al. (Hg.): Das Elend der Welt, Konstanz 2005, S.161.
(30) Ebd., S.163.
(31) Kleine Zeitung: 18.05.2008, S. 40-41.
(32) Im Zeitraum zwischen 2005 und 2008 fand sich nur ein Artikel, der berichtete, dass nach der Kamerainstallation am Jakominiplatz, eine Kamera für den Grießplatz geplant ist. Vgl.: Mehr Überwachung für Grazer Jakominiplatz: http://steiermark.orf.at/stories/70315/ am 07.03.2008.

ÜBER DIE AUTORINNEN

Barbara Frischling,
BA, geb. 1983, lebt in Graz, wo Sie Volkskunde/Kulturanthropologie und Musikologie studiert. Forschungsschwerpunkte: Informations- und Kommunikationstechnologien und Alltagsleben, Internet und Musikrezeption, sowie Diskursforschung und Gouvernementalität. Derzeit schreibt sie an ihrer Diplomarbeit mit dem Arbeitstitel: „Zwischen Freiheit und Kontrolle. Nutzungspraxen von Facebook.“

Mag. Claudia Rückert
geb. 1984, lebt in Graz, Studium der Volkskunde und Kulturanthropologie in Graz und Berlin. Ihre Diplomarbeit beschäftigte sich mit dem Thema "Fordistische und neoliberale Arbeitsbedingungen und Arbeitswerte in der Industriearbeit". Promoviert seit 2011 über die Auswirkungen gouvernementaler Regierungstechniken auf die städtische Raumaneignung in Graz. Forschungsschwerpunkte: Kulturtheorien, Arbeitskulturforschung, Jugendkultur, Diskursanalyse, Stadtforschung und neoliberale Gouvernementalität.

Der KUCKUCK erscheint seit 1985 zweimal jährlich mit einer Auflage von rund 500 Exemplaren. Zusätzlich zu den laufenden Nummern sind bis jetzt drei Sonderhefte erschienen. Die Sonderhefte stellen ein Publikationsmedium zu aktuellen Diskussionen, Forschungsprojekten o.ä. dar.
MedieninhaberInnen und HerausgeberInnen:
Elisabeth Katschnig-Fasch
Gerlinde Malli
Johannes Moser
Adelheid Schrutka-Rechtenstamm

KONTAKT UND BESTELLUNG:
Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie
Attemsgasse 25/I, A-8010 Graz

kuckuck@uni-graz.at

Verfasser/in:
Barbara Frischling & Claudia Rückert; erstmalig erschienen in der Zeitschrift "KUCKUCK" Notizen zur Alltagskultur, Ausg. 2/10 "Kontrolle"
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