27/03/2020

CORONA GEDANKEN 02

Alltag im Zeichen von Corona

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27/03/2020

Zerreißprobe

©: Emil Gruber

Wenn Corona nicht wäre - ich meine die Sache mit dem Virus, nicht das Bier – ja, dann wäre das Leben mit all den von der Regierung getroffenen Maßnahmen: wie? Eigentlich doch schön. Ich sage "eigentlich doch“. Denn sagte ich es nicht, dann erntete ich wohl Kopfschütteln. "Eigentlich doch“ relativiert. Warum denn auch nicht wieder zurück nach gestern, in das Leben vor Corona?
  Das ist wie zuvor: Ich kann zu zweit denselben Gesundheitsspaziergang von etwa 25 Minuten Gehzeit durch den Grazer Stadtpark machen. Ich mache ihn schon gut fünfzehn Jahre lang auf abwechselnder Wegstrecke, von der Ecke Leonhardstraße/Glacis durch das von Buchsbaum gesäumte Rondeau um die Franck-Eiche hindurch hin zur Blumenwiese: vorbei am Mozart-Denkmal mit dem davor aus Beton gefertigten, monströsen Blumentopf und einer erbärmlich wirkenden Zwergzypresse, die mir den Blick auf die Büste anfänglich nimmt. Es ist strahlender Sonnenschein und blauer Himmel. Je näher wir der Blumenwiese kommen, desto wärmender scheint die Sonne zu sein, desto reiner, intensiver das Blau des Himmels, so schön ist es hier. Links stehen zum Knospen bereite Pfingstrosen und die Franz Nabl-Büste: Ich denke mir, man sollte Nabl mit einer Gruppe von Skulpturen von Handke, Bauer, Roth, Falk ergänzen. Jetzt, da Handke den Nobelpreis erhalten hatte, müsse sich Graz seinetwegen nicht schämen. Rechts liegt die eingezäunte Blumenwiese mit der kaukasischen Flügelnuss.
   Hier gibt es heuer nur wenige, jetzt verblühende Schneerosen, aber noch zahlreiche Schneeglöckchen, zart- oder dunkelviolette und gelbe Krokusse sowie Sternblümchen, die jetzt einen Blütenteppich bilden. Wenige Tage davor gab es gar keine Schneerosen und Schneeglöckchen herrschten vor. Frühlingsknotenblumen  - Barbara nennt sie Märzenbecher - gibt es hier nicht. Mir gehen sie ab. Nach Norden geht es vorbei am Denkmal von Moritz Ritter von Franck, über den mir meine Großmutter vor siebzig Jahren gesagt hatte, dass er der Gründer des Stadtparks sei, und vorbei am Springbrunnen, zwischen einer Fichtenwaldung an der Linken und einer spät blühenden Magnolie an der Rechten hindurch zum Kepler Denkmal, von einem Gingko und aufblühenden Magnolien umstanden. Von dort komme ich vorbei an der Pirchegger-Büste, dem Denkmal von Anastasius Grün zur Maria-Theresia-Allee.
   Zurück gibt es zwei ganz unterschiedliche Wegstrecken. Eine führt vorbei am Paulustor der ehemaligen Stadtmauer, der inneren Verteidigungslinie, folgend zum ehemaligen Wachhaus am Burgtor (heute das Café Promenade, einem Bobo- und Investoren Café), weiter auf dem Kamm der Montclair-Allee, einem Teil der äußeren Wallanlage, vorbei am seit Jahren verwahrlosten Wetterhäuschen hin zur Leonhardstraße. Diese Variante nehme ich ausschließlich im Sommer, wenn dichter Bestand an Laubbäumen mir den Ausblick auf die junge Bebauung des ehemaligen Pfauengartens nimmt, der ein Jahrtausend lang die Verbindung von Schloßberg mit dem Bereich vor der Stadtmauer und eineinhalb Jahrhunderte mit dem Stadtpark war. Es ist der Ort für die neuzeitliche Art von Pfeffersäcken, "bourgeoisen Pfeffersäcken", von BoPeps. Welch soziale Schichtung: oben BoPeps, zu Füßen die Bobos. Was ich gerade über die Sicht auf das sagte, was auf dem ehemaligen Pfauengarten steht, stimmt nicht mehr. An der Stadtmauer war eine der mächtigen, gefiederblättrigen Eschen umgestürzt. Eine einer herrlichen Gruppe von vier. Als ich hier vorbeigegangen war, waren Mitarbeiter des Stadtgartenamtes gerade dabei, bei einer weiteren Esche die Daten für einen Wurzelstocktest zu sammeln, die dann von einem Institut in Deutschland ausgewertet würden. Das Ergebnis: Alle restlichen Eschen, jede eines Durchmessers von etwa einem dreiviertel Meter, wurden umgeschnitten. Makellose Stämme auf marodem Wurzelstock, einem für alle, das erkannte man per Ferndiagnose. Wann immer sich die BoPep-Bebauung mir ins Gesichtsfeld drängt, empfinde ich einen Schlag ins Gesicht.
   Die andere Wegstrecke führt auf der äußeren Wallanlage nach Süden, vorbei am Forum Stadtpark bis zum ehemaligen Wachhaus am Burgtor und weiter wie zuvor zur Leonhardstraße. Auf beiden dieser Wege gibt es Varianten, die ich nehmen kann und auch nehme. Nur im Winter bleibt mir die Präsenz der Bebauung des Pfauengartens nur mit stets bewusst gewählter Kopfhaltung erspart.
   Barbara und ich begegnen wenigen Paaren, einzelnen Läufern, kleinen Gruppen von Jugendlichen, am Samstag auch vermehrt Polizisten. Abgesehen von Mopedfahrern hört man Straßenlärm kaum. Konzert-, Theater-, Opernbesuche fehlen mir nicht wirklich. Auch "der wunderschöne Balletabend in der Staatsoper", über den Thomas Seifert in der Wiener Zeitung, heute, am 21./22.3.20, schreibt, geht mir nicht ab. Ich habe an die hundert mitgeschnittene Bänder, an die 150 CDs und viel Schallplatten klassischer Musik von Gabrieli bis Ligeti, Reich, Glass usw. Ich habe ein Abonnement der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker, demnächst für You Tube Premium Musik. Ich habe mehr Bücher als Stauraum, mache Arbeit, die kein anderer macht oder machen kann, und, vor allem, lebe ich an der Seite der Liebe meines Lebens. Ich kann sowohl mit mir als auch mit ihr sprechen. Der Einsame kann beides nicht.
   Die samstäglichen Gespräche im Café mit Peter Waitz, einem späten Freund, und das Essen mit meinem in Graz lebenden Sohn und meiner Schwägerin fehlen mir. Seiner Hilfe bin ich mir immer noch gewiss, wenn es um meine Forschung geht. Ohne sie ging nichts mehr.
   Ist das Leben also doch schön? Etwas zeigt sich: Es war zuvor schöner, ohne Angst ums Leben, aber man dachte täglich gar nicht an die Schönheit des Lebens, rief sie sich nicht bewusst in Erinnerung. Ohne Angst um die Gesundheit war das Leben schön, ohne daraus viel zu machen. Es war so da. Jetzt ist Angst unterschwellig immer dabei. Eigentlich ist es ja Furcht, denn der Gegner ist nicht ein unbestimmtes Etwas, sondern konkret Covid-19. Ich bin fest verankert in der Risikogruppe, da schleicht sich unwillkürlich Besorgnis ein. Sendungen im Fernsehen, allem Anschein nach immer und überall in allen Programmen gesendet, nicht nur, aber vor allem vom ORF, fördern die Besorgnis. Sprechblasen haben wieder Hochkonjunktur, es wird Frühling, sie blühen auf. Sie heben mein Vertrauen nicht. Gefräßiger, quotengeiler Journalismus stürzt sich von allen Seiten auf das Thema. Aber das tut er doch immer: Tausend Tote bei einem Ereignis bringen höhere Seherquoten als hundert Tote. Daran musste man sich ergeben gewöhnen, aber was jetzt gemacht wird und kritiklos hingenommen wird, empört mich und verletzt meine Intelligenz. Der Chef der Abteilung Wissenschaft des ORF meint zum Thema Schutzmasken, man habe nicht genug, und die man habe, brauche man für Personal in Krankenhäusern und Pflegeanstalten. Ja, eh. Dann, als Schluss der Kette einer Logik, die zurückreicht vor die Vorsokratiker ins babylonische Zeitalter: Schutzmasken würden ja ohnehin nichts nützen. Aerosole mit Covid-19 als Schwebeteile kämen durch Schutzmasken hindurch und infizierten die Träger.
   Das aber scheint das Personal in Krankenhäusern und Pflegeanstalten nicht zu wissen, auch die vielen Koreaner, die sie tragen und die die Infektionen eindämmten. Früher hieß es ja noch, Schutzmasken schützten andere, aber nicht die Träger. Ja, eh, wenn sie schon infiziert sind, aber wenn nicht? Handelt es sich vielleicht um Einwegmasken? Nun, Herr Mayr, es gibt zwei Arten von Masken, solche, die (absoluten) Schutz bieten und nur für kurze Zeit getragen werden wie bei Operationen im Krankenhaus und solche, die vor Viren schützen, wie sie für den Schutz der Bevölkerung in Korea verwendet werden. Erstere habe man, letztere zu wenig. Soll vermieden werden, das zu sagen?
   Ich meine, vor mancher Reportage zum Corona-Virus sollte man warnen, wie man Jugendliche vor Filmen mit exzessiver Gewalt warnt. "Wenn Sie empfindlich sind, suchen Sie sich einen anderen Sender. Wir müssen und wir kommen unserer Informationspflicht nach." Diese könnte beispielsweise die folgende Meldung enthalten: Angelo Piccolo ist heute in Bergamo an Covid-19 gestorben. Seine Familie trauert.
   Genug damit. Halte deine Wut im Zaume, Bernhard Hafner. V e r n u n f t ist das Motto. Das aber weiß ich jetzt: Das Leben wird nach der Pandemie schöner sein. Der Stadtpark wird wunderschön sein, Bäume voll im Laub. Der ORF wird gleich mies sein, aber nicht alle Programme werden gleich mies sein, und es wird leichter fallen, nicht zuzusehen. Und ich werde mich öfter daran erinnern, wie schön das Leben tatsächlich ist.

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