06/02/2020

Vortrag Fiction for Urban Transformation von Carole Schmit, Gastprofessorin Uni Luxembourg, am 30. Jänner 2020, organisiert vom Institut für Städtebau der TU Graz.

Schmit geht es darum, Verantwortung in der Stadtentwicklung zu übernehmen und viele (politische) Initiativen miteinander zu verbinden. Dabei sollen ambitionierte Programme gefördert und daran erinnert werden, dass niemand eine Stadt – auch kein Gebäude – alleine baut.

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Bettina Landl berichtet.

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06/02/2020

Vortrag 'Fiction for Urban Transformation' von Carole Schmit, Polaris Architects, Luxemburg

©: Bettina Landl

Carole Schmit, Polaris Architects, Luxemburg

©: Bettina Landl

Der universitäre Fachbereich Städtebau stellt eine Querschnittsmaterie dar, die Wissen aus unterschiedlichsten Disziplinen – von Sozialwissenschaften über technische Bereiche bis zu digitalen Methoden – und die Erweiterung der Entwurfskompetenz zu vermitteln hat. Dabei legt das Institut für Städtebau der TU Graz unter der Leitung von Aglaée Degros besonderen Wert auf eine lebendige Forschungstätigkeit, auf eine interdisziplinäre und interinstitutionelle, sowie interuniversitäre Zusammenarbeit mit AkteurInnen aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft. Seit dem Wintersemester 2018 wird das universitäre Angebot durch die Veranstaltungsreihe Lunch Lectures ergänzt. Am 30.01.2020 war Carole Schmit, Gastprofessorin an der Universität Luxemburg, zu einem Vortrag in Graz.

Andere Sichtweise(n)
Seit etwa fünfzehn Jahren entwickelt Carole Schmit in bzw. mit ihrem Büro Polaris eine Architektursyntax, die auf den Einflüssen von Straßenkultur, Konzeptkunst und anthropologischen Studien gründet. Unter dem Titel Fiction for Urban Transformation gab sie Einblicke in einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer theoretisch-praktischen Arbeit rund um das Konzept Fiction in Architecture, das als Modell und Methode die Architektur von vornherein anders denkt und ausrichtet. Indem ArchitektInnen verstehen, wie Fiktionen die Wahrnehmung des Realen verändern, können sie ihre Rolle in den Prozessen urbanen Gestaltens neu definieren. Die Einführung einer Vielzahl von fiktiven Ansätzen als strategisches Instrument zur Emanzipation von Räumen und Gemeinschaften lässt neue Formen räumlicher Dominanz entstehen, die etablierte Machtstrukturen innerhalb städtischer Landschaften unterwandern. Durch eine Reihe von Beispielen in Luxemburg und im Ausland erläuterte sie ihren Ansatz: So produziert die französische Compagnie Fictions collectives rund um Marie Mortier und Leila Gaudin (Gast ihres Masters) seit 2015 Performances und partizipatives Theater. Sie interessieren sich für das Auseinanderbrechen der Welt, Überzeugungen und Standpunkte und erforschen die Funktionsweise des Gedächtnisses, die Fiktion des Ichs, die Intimität der Ideale und die fragmentierte Realität. Fiktion spielt dabei eine wesentliche Rolle und wird auf spielerische Weise in die künstlerische Praxis integriert. Diese veranschaulicht gesellschaftliche Prozesse, die mit der Vorstellung einer Plastizität der Formen zusammenhängen.
Die Arbeiten von David Evrards (Gast ihres Masters), der als Künstler und Schriftsteller am ERG in Brüssel lehrt, orientieren sich ebenfalls stark an kollektiver Produktion und Erfahrung. So verweist beispielsweise seine Arbeit Lady auf die Legende von Lady Godiva, einer angelsächsischen Adeligen aus dem 11. Jahrhundert, die aufgrund ihres radikalen Einsatzes für einen Steuererlass zugunsten der leidenden Bevölkerung zu einem Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wurde.

Nouvelle Vague
Diese und andere Beispiele dienten Schmit zur Veranschaulichung ihrer Vorstellung von einer Fiction for Urban Transformation, in der sie der Sprache eine herausragende Rolle im Hinblick auf gestalterische Prozesse zuweist. Geschichte(n), Vorstellung(en) und das Erschaffen neuer Strukturen und Bauweisen, das Etablieren einer freien Denk- und Arbeitsweise, sowie intensive Recherche und die Aufgabe (eine) Geschichte zu schreiben und Wissen zu generieren, um die Zukunft besser zu machen ist ihr ein Anliegen. Architektur soll mit dessen Umgebung eine Symbiose eingehen.

Und immer die Frage: Was müsse getan werden, um …

Geschichte(n) zu beeinflussen? Es geht (ihr) darum, sich von der räumlichen Dominanz zu emanzipieren, um handlungsfähig zu werden und neu und besser gestalten zu können. Schmit orientiert sich in ihrer Theorie und Praxis auch an AktivistInnen, die direkt und konkret agieren, um etwas zu verändern und verweist dabei auf die Aktionsform Reclaim the Streets. UrbanistInnen sind aufgefordert, die Welt „wie sie ist“ zu hinterfragen wie auch den repräsentativen Charakter ihres Handelns.
Schmit fordert, Theorie und Praxis nicht als voneinander getrennt zu denken oder gar in Opposition zueinander zu setzen, sondern beides zu vereinen und führt in ihre „Little Theory“ ein: (1) Non-Human-Material Fiction bezieht sich poetisch und substanziell auf Konzepte natürliche Umgebungen in Personen zu transformieren. (2) Act as If fordert auf, sich in die Situation von jemand anderem zu versetzen, um besser zu verstehen. Dieser humanistische Aspekt, auf Hans Vaihingers zurückgehend, wird oft nicht beachtet. (3) Der informelle Charakter des Gestaltens bezieht sich auf die Individualpsychologie Alfred Adlers und dabei insbesondere auf die Überwindung der Überlegenheits- und Unterlegenheitsdynamik. (4) Wir sprechen nicht über ein „Ich“, sondern immer über ein „Wir“, denn als ArchitektIn arbeitet, gestaltet man immer im Kollektiv! Dieser Aspekt richtet sich gegen den modernen Autorenmythos. (5) Aktuelle Diskurse sind zu hinterfragen, denn Metanarrative in Ökologie etc. haben großen Einfluss auf unsere Vorstellungen. Dabei dient Fiktion als Instrument die gegenwärtige Realität und damit die Zukunft zu verändern – Phänomene in etwas besonderes zu verwandeln – entgegen eines Diktat des Spektulären.

Mission Statement
Schmit geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und viele (politische) Initiativen miteinander zu verbinden. Dabei sollen ambitionierte Programme gefördert und daran erinnert werden, dass niemand eine Stadt, auch kein Gebäude, alleine baut. Schlussendlich kommt alles zusammen und beeinflusst sich gegenseitig, betont Schmit. Es gibt einen Unterschied, Geschichten zu konsumieren oder sie selbst zu schreiben. Was sind die Werte, die jeglichem Design zugrunde liegen? Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, nachzudenken und Position zu beziehen, Entscheidungen zu treffen. Das ist eine Übung, die man versuchen sollte: Sich vorzustellen, wer sich an den geplanten Orten aufhalten wird, wofür diese Räume genutzt werden etc. Sich selbst dabei als (Bau-)ArbeiterIn zu sehen, kann hilfreich sein: Wer baut was und wie kann man Ideen umsetzen? Es ist wesentlich und unerlässlich, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, seine Vorstellungen an die der anderen (NutzerInnen) „anzupassen“ und sich mit allen Beteiligten oder möglichen PartnerInnen zu verbünden. Nur so kann Stadtgestaltung wirklich gelingen, ist Schmit überzeugt. Für die nächste Generation sei es wichtig, eine Balance zwischen dem Projekt und dem Prozess zu finden. Der Raum ist Teil von alledem und die Erzählung wesentliches Mittel, der Komplexität uns umgebender Strukturen zu verstehen und bestenfalls zu simplifizieren. Dabei ist es nicht von Wert heroisch zu sein, sondern Systeme zu durchbrechen und veraltete, zentralisierte Planungsprozesse zu überwinden. Dass diese Praxis einer politischen Geste gleichkommt, steht außer Frage, hat all das nicht auch mit Machtverteilung zu tun. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass Bauen bzw. Gestalten immer eine soziale Frage ist, die auch gemeinsam (gemeinschaftlich) verhandelt werden muss.

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