26/06/2018

Ausstiegsszenarien

Gedanken von Emil Gruber zur Ausstellung Schau Graz!

Franziska Schurigs fotografisch Dokumentation des Grazer Stadtraums entlang der Routen von Bus und Straßenbahn im Herbst 2017 zeigt in 426 Fotografien, die an ebenso vielen Haltestellen aufgenommen und den jeweiligen Bezirken zugeordnet wurden, den konkreten gegen- wärtigen Istzustand von Graz

GrazMuseum, bis 10.09.2018

Publikation
Otto Hochreiter, Sibylle Dienesch (Hg.):
Schau Graz! 426 Standpunkte zur Situation der Stadt.
Mit Fotografien von Franziska Schurig, 408 Seiten, durchgehend farbig bebildert
Verlag Anton Pustet 2018
 € 27,00

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26/06/2018

GrazMuseum: Ausstellung Schau Graz! – I. Bezirk, Andreas-Hofer-Platz

©: Franziska Schurig / GrazMuseum

II. Bezirk, Tegetthoffplatz

©: Franziska Schurig / GrazMuseum

X. Bezirk, Brottrager

©: Franziska Schurig / GrazMuseum

XIII. Bezirk, Zanklstraße

©: Franziska Schurig / GrazMuseum

XVII. Bezirk, Gmeinstraße

©: Franziska Schurig / GrazMuseum

Publikation Schau Graz!

©: GrazMuseum

Well I'm waiting at the bus stop in downtown L.A. 

But I'd much rather be on a boardwalk on Broadway
(Rolling Stones: The Under Assistant West Coast Promotion Man)

Ich bin Fußgänger. Einen Schritt nach dem anderen auf festem Boden zu setzen, ist mein Dogma der idealen Bewegung. Stadtfindung verlangt nach aufrechtem Gang. Der Schwung außerhalb der Spur lässt die Resonanz einer Stadt fühlen. Ihre Bauten und ihre Brachen, ihr Grün und ihr Grau, alle Straßen, Gassen, Wege mit ihren Durchlässen, Knoten, Windungen und ihren toten Enden sind verdichtete kinetische Energie.
Ulla Meinecke, die wie ich dünnes Eis sucht, um tanzen zu können, singt „Schlendern ist Luxus“. Was diesen Luxus betrifft, bemühe ich mich aufrichtig, ständig über meine Verhältnisse zu leben.
In den Kreislauf des öffentlichen Verkehrs speise ich meinen eigenen Takt ein. Ich bin mein Bus, meine Straßenbahn. Haltestellen sind dort, wo ich sie hinsetze, wo ich sie brauche. Sie sind mein Wirbel, mein Rückgrat. Die Netzkarte für das Selbst ist eine Einzelanfertigung, gebaut aus Beinmuskulatur. Sie ist unübertragbar und gültig, solange ich mobil bleibe. Es gibt in meinem Routenplaner keine Zeit. Spazieren kennt nie Verspätung. Damit erhalte ich freie Fahrt, eine nicht mit Uhren messbare Pünktlichkeit. Niemand lenkt mich. Der Blick bleibt frei.
Über Standpunkte des öffentlichen Verkehrs zu schreiben, bedeutet für mich fremd zu gehen, zumindest fremd zu sehen. Wahrscheinlich bin ich der falsche Passagier für diese Rezension. Ich bin kein Mensch für das schnelle Ein-, Um- und Aussteigen. 
Das Leben als Linie zeigt Schau Graz! 426 Standpunkte zur Situation der Stadt nicht, auch nicht das Erreichen und Versäumen von dem, das verbinden soll. Schau Graz! sucht in ihrem Rahmen nach der Stadt.

Graz ist seit eineinhalb Jahrzehnten auf einer ununterbrochenen Selbstfindungsschleife unterwegs. Visionen und Utopien stapeln sich mittlerweile im städtischen Designregal. Haben die Creative-Class-Jünger des mittlerweile vom Paulus zum Saulus zurückgekehrten Second-City-Messias Richard Florida etwas an Glauben und Glanz verloren, mit ihren Bauklötzen für die Zukunft wird weiterhin gespielt. Das „Überall dabei sein, ist alles, was wir wollen“, geht für den echten Grazer über jeden Fünf-Ringe-Kampf hinaus. Wenn etwas unter die Erde will, ist es für die Stadt gut, wenn es in der Luft hängt, ist es gut. Alles schwebt. Alles wächst. Alles leuchtet. Alles kommt in Fluss, wenn es sich staut. Meinung bleibt Meinung. Diskurs bleibt Diskurs, Entscheidung bleibt Entscheidung. Das klar getrennte Nebeneinander, der Sicherheitsabstand von Konflikt und Lösung ist eines der Fundamente, auf das Graz heute baut.
Standpunkte sind die Wohnmobile der Überzeugung. Sie sind behaglich und sicher, unverrückbar und doch kann bei Veränderungsnotwendigkeit sofort mit ihnen abgefahren werden.
Aber neue Perspektiven machen sicht-weise.
Diese Hoffnung zeigen Franziska Schurigs Fotografien der städtischen Haltestellen im GrazMuseum. Sie fächern dem Stadtwanderer Frischluft fürs Auge zu. Präzise Teildioramen sind es, mit einer Prise Bernd und Hilla Becher in der inneren Architektur des Bildes. Ein 35mm-Fixobjektiv wird zum Standard für die Ausschnittwahl. Der Blick durch die Kamera geht weg von der Haltestelle, erfasst einen Teil der herum eingebetteten Landschaft ohne Aufregung, ohne Sensation, ohne Spektakel.
Fotografien erzeugen subjektive Abbildungen, die aus jedem Jetzt ein unmittelbares Ist-Gewesen formen. „Du siehst nur das, was ich zensiert habe“. Der K(l)ick beim Drücken des Auslösers ist nicht umkehrbar. Fotografien bedeuten Instant-Anachronismus, wenn wir nur auf das schauen, was der Fotograf oder die Fotografin innerhalb ihres Bildausschnittes zeigen.
Denken wir jenseits des Bildrandes, werden alle Haltestellen der Stadt zu Wahrzeichen des Notwendigen. Sie erhalten eine Bedeutung für die Verankerung im Bilderkanon der Stadt. Durch die Meta-Funktion – Entfernen und Erreichen – wird jedoch die Bedeutung des Ortes, an dem sie sich befinden, wichtiger als das Wahrzeichen selbst. Die Umgebung wird zu einem Lesebuch, das dynamische und trügerische Geschichten nebeneinander wie Zwillinge verschiedener Mütter stehen lässt. Begehren und Ablehnung entstehen erst durch Sehen.
…“but also relieved to be free of those confining spaces which, like so many in modern urban life are social arenas without being wholeheartedly social“, heißt es in All Zones off Peak von 1998, einem der großen modernen Fotobuchklassiker. Fünfzehn Jahre lang fotografierte Tom Woods das Leben Liverpools aus öffentlichen Bussen.
Franziska Schurig hat mit ihrer gelungenen Bestandaufnahme einen ersten, wichtigen Schritt gesetzt, zu zeigen, was offen sichtbar ist.
Jeder erste Blick ist die Vorbereitung auf den zweiten. Wahrnehmung von Veränderung verlangt nach dem Verlassen von Frequentem und Hauptsächlichem. Sie verlangt nach Infragestellung und Paradigmenwechsel.
Nach der unerreichbaren großen Totalen, zu der wir alle aber immer nur Fragmente liefern können.

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