14/01/2014

Fest
Am 11.02.2014 findet im Literaturhaus Graz ein Fest zu Ehren von Wilhelm Hengstler statt.

14/01/2014

Der Autor und Filmemacher Wilhelm Hengstler verfasst seit 2005 für GAT Essays und Kommentare.

©: Wilhelm Hengstler

Willi Hengstler, 70. Eine Würdigung.

erwartungen an erinnerungen,
die in zukunft wirklich gewesen sein
werden, sind im augenblick perfekt.
(Wilhelm Hengstler, Pisco Sour)

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Sollte es die Grazer Gruppe tatsächlich gegeben haben, dann ist Wilhelm Hengstler die vielseitigste Begabung dieses losen Autorenverbandes um die Zeitschrift manuskripte. Hengstler ist nicht nur Buchautor und Dramatiker, er hat auch drei Spielfilme und mehrere Dokumentationen gedreht, er ist Kritiker und Essayist und hat Theaterstücke, Lesungen und Shows inszeniert. Und er hat es bei all der Arbeitsüberlastung trotzdem geschafft, kürzlich 70 zu werden.
Reinhard Priessnitz und Mechthild Rausch haben in den siebziger Jahren, als die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern, postuliert, Dichtung habe „ihr vorgehen am stand der wissenschaftlichen diskussion zu überprüfen.“ Willi Hengstler, der sich, bevor er sein Stück Der Geschmack der Languste schrieb, im Institut für Germanistik alle verfügbaren Bücher zur Dramentheorie auslieh, nimmt diesen Anspruch ernst.
Schließlich war er selber lange genug als Jurist mit Schwerpunkt Arbeitsrecht im Dienste von Forschung und Lehre. Arbeitsrecht habe in der Ära Kreisky einen hohen Stellenwert gehabt. Heutzutage, meint Willi, gehe es eher darum Arbeitnehmerrechte auszuhebeln. Für die Wissenschaft habe ihm die rechte Leidenschaft gefehlt. Sein Versuch, strukturalistische Ansätze auf das Arbeitsrecht zu übertragen, sei ihm nicht nach Wunsch gelungen. Alles in allem habe er sich nicht so stark fokussieren wollen wie seine damaligen Kollegen.
Willi interessiert sich nämlich – wie auch seine Beiträge für GAT zeigen – kurz gesagt für alles. Das ist eine Stärke, die aus zielfixierter Perspektive als  Schwäche erscheinen mag. So verfolgt er gerne mehrere Projekte nebeneinander. Aber nicht als schludriger Auftragsarbeiter, sondern mit der Akribie eines Feinmechanikers. Dazu kommt seine stadtbekannte Zögerlichkeit, Texte aus der Hand zu geben, lieber immer wieder und wieder Hand an sie zu legen.  

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Unter den gegebenen Umständen macht Hengstler vermutlich das Beste. Er folgt Schopenhauers Rat, sich aus der Misere des Lebens in die Kunst zu begeben, und zwar macht er das in vielen Rollen: Als Autor, Regisseur, Kritiker, aber auch als passionierter Leser, Musikhörer und Ausstellungsbesucher. Wobei er die Widersprüche eines zunehmend oberflächlichen Kulturbetriebs, in dem das Sekundäre der Vermittlung unverhohlen über das Primäre des Vermittelten triumphiert, in seinem Film Hanns durch die Zeit (2007) anspricht, ohne sich aus diesen Widersprüchen lösen zu können. Die Hauptfigur kritisiert eine Kultur des Spektakels und bleibt ihr wie ein Gefängniswärter verhaftet.
Die Titelgeschichte seines Prosabands Die letzte Premiere (Suhrkamp, 1987) bezieht sich auf das Ende einer alternativen Kultur, das in Graz für ihn durch den Umbau und die festliche Eröffnung des Opernhauses gekennzeichnet wurde. „Ich selbst“, sagte Hengstler damals in einem Interview, „habe mich von der Literatur deshalb ein wenig zurückgezogen, weil ich mich fürs Filmemachen zu interessieren begann. Filmemachen ist viel anstrengender als Schreiben, und solange ich genug Kraft habe für Filme, möchte ich gern Filme machen, und wenn ich etwas kraftloser werde, wieder verstärkt schreiben.“
Mit seinem Spielfilmdebüt Fegefeuer gelang ihm 1988 das seltene Kunststück, die literarisch unerhebliche, aber inhaltlich spektakuläre  Romanvorlage von Jack Unterweger in eine film-noir-Ästhetik zu überführen, die allen Gefahren platter Sozialkritik elegant ausweicht.
Dafür erhielt er den Preis der Viennale. Ein schwächerer Künstler hätte versucht, diesen Erfolg auf sicherem Terrain zu wiederholen.
Stattdessen wagte sich Hengstler an den riskanten Genre-Mix Tief oben, der Horror- und Sagenmotive mit den Populärmythen des Rock’n’Roll verbindet. Das stieß weitgehend auf Unverständnis, was für seine Karriere als Filmemacher hinderlich, für die Literatur aber ein Gewinn war, denn nun konnte er sich mit der ganzen Energie seiner reifen Jahre wieder dem Schreiben zuwenden.  
Was gibt es noch zu erzählen, da doch das Erzählen sich seit der Moderne überlebt hat und dennoch nicht umzubringen ist? Ein fataler Mechanismus, der die Literatur an die Unterhaltungsindustrie angeschlossen hat, versucht diesen Endpunkt unendlich auszudehnen. Hengstler hat dieser Prämoderne einen Text entgegengestellt, der sich den Anschein einer Erzählung gibt, aber indirekt den Vorgang des Erzählens kritisiert, indem er die Geschichte in einem ungelösten Rätsel enden lässt. Dieser Text heißt fare (Droschl, 2003). John Fare gilt manchen als radikalster Vertreter der Performance, da er sich in einer Reihe von Kunstaktionen nach und nach mit Hilfe eines Operationsautomaten von seinen Gliedmaßen und zuletzt von seinem Kopf getrennt haben soll. Nach meinen Recherchen hat es diesen Fare allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach nie gegeben. Es spiele keine Rolle, ob dieser Künstler fiktiv sei oder nicht, hat Hengstler mir dazu gesagt. Das Buch zeigt den Künstler – und damit den Menschen – in seiner allseitigen Beschnittenheit.
In den letzten zehn Jahren hat sich Hengstler hauptsächlich seinem Roman Zulm gewidmet. Er versucht sich zeitlich und räumlich weit ausgreifend  an der Darstellung der Geschichte als einer Geschichte von Gewalt und Unterdrückung. (Das arabische Wort Zulm bedeutet Willkür, Grausamkeit.) In seinem Exposé schreibt er:  „ZULM spielt auf drei Zeitebenen, deren Schnittpunkte die Hauptfigur auf ihrer Suche nach der verborgenen Wahrheit aufspürt: Das gegenwärtige Spannungsfeld in Indien zwischen Massenarmut, ehrgeizigen Aufsteigern und einer abgehobenen Oberschicht, ein altmodisches Verbrechen aus Leidenschaft während der Sechzigerjahre und politische Wirren während und unmittelbar nach der Zeit des II. Weltkriegs. Die Suche nach der Wahrheit führt den Helden von Episode zu Episode auf der Zeitachse nach vor, gleichzeitig muss er immer tiefer in die Vergangenheit tauchen, um zur Lösung des Rätsels zu gelangen.“
Wir können uns auf einen großen Wurf freuen. Es  ist nur eine Frage der Zeit. Aber was ist schon Zeit? Ein willkürliches Ordnungssystem, an das sich alle halten und das darum wirklich wird.
Parallel zu seinem Opus magnum hat Willi neben vielen kürzeren Prosatexten auch (gemeinsam mit Alfred Paul Schmidt) Drehbücher und (als Solist) Stücke geschrieben. Zuletzt  Soros, unter seiner Regie 2013 uraufgeführt im Theater im Keller, das den rational maskierten Wahnsinn der virtuellen Finanzwirtschaft an den Ort führt, wo er von Menschenrechts wegen verbleiben sollte: das Irrenhaus.  

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Unlängst fragte mich Willi: „Was schreibst du denn als nächstes?“ – „70 Zeilen über Hengstler“, sagte ich. „Wieso 70?“ Und nach kurzem Stocken entfuhr ihm: „Ach, deswegen…“ Und: „Diese Pointe schenke ich dir…“ Ganz kann er also auch selber nicht glauben, dass so viel Zeit so schnell vergangen sein soll.
Seit er im Vorjahr mit dem Fahrrad ans Schwarze Meer gefahren ist, traue ich ihm alles zu. Sogar einen neuen Film!

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