15/04/2013

Im Fokus: WOHNBAU
GAT widmet sich von März bis Juni 2013 schwerpunktmäßig Fragen zur Qualität im österreichischen Wohnbau. Ziel ist, aufgrund der Analyse des Ist-Zustands künftige Entwicklungen in Hinblick auf neue Lebensformen und mögliche Wege zu einer nachhaltigen Qualität im Wohnbau aufzuzeigen und die Erkenntnisse Entscheidungsträgern nahezulegen.

Die Begriffe Baugruppe und Baugemeinschaft werden häufig wenig differenziert als Synonym verwendet. In diesem Essay wird der Begriff Baugruppe für eine Gemeinschaft benutzt, die neben dem selbstbestimmten Bauen die einfachere Form des Eigentumerwerbs in den Vordergrund stellt. Demgegenüber betont die Baugemeinschaft die gemeinschaftliche Praxis, die sich eher an solidarischen Miet- und Genossenschaftsprojekten orientiert. Beide sind Formen des gemeinsamen Planens, Bauens und Wohnens.

15/04/2013
Architektur: BKK-2©: Karin Wallmüller

Sujet zum Themenschwerpunkt "Wohnbau"

©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Das Kernteam des Instituts für Wohnbau der TU Graz: Marlis Nograsek, Andreas Lichtblau, die Autorin dieses Artikels, Elisabeth Anderl und Monika Keplinger (v.l.n.r.). Collage: Martin Grabner

Entwicklungen im Wohnbau anhand von Lebensformen

Ist-Zustand und Aussichten
Quantitäten und festgeschriebene, zumeist technische Qualitätsstandards sind die Maßstäbe für den heutigen Wohnbau und das bedeutet nach den Prinzipien der industrialisierten Produktion: Standardisierung, Rationalisierung und Funktionalisierung. Aber Wohnen ist mehr als eine funktionalistische Lösung, wir suchen in unserer Wohnung Schutz, Geborgenheit, gelegentlich Gemeinschaft und Erholung. „Wir“ das ist inzwischen ein sehr vielschichtiger Begriff. In diversen Studien wird sichtbar, wie sich unsere Gesellschaft diversifiziert und wie die Ansprüche und Lebensentwürfe auseinandergehen.

Noch nie waren uns so viele unterschiedliche Nutzergruppen, Wertvorstellungen und Bedürfnisse bekannt. Das Sinus Markt- und Sozialforschungsinstitut in Heidelberg unterscheidet sie z.B. nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und Grundorientierungen, wie: traditionell, hedonistisch, adaptiv-pragmatisch, bürgerliche Mitte usw.

Auch die Zahl der ständigen Nutzer einer Wohnung hat sich stark verändert. Wir können nicht mehr länger ausschließlich von der Kernfamilie ausgehen. Im städtischen Bereich haben wir eine Scheidungsrate von beinahe 50%; das bedeutet neben Familienwohnungen, Wohnraum für AlleinerzieherInnen, für Clusterfamilien, Singlewohnungen für alle Altersstufen und verschiedene Wohndauer. Unsere Lebensläufe werden - freiwillig oder gezwungen - individualistischer und mobiler.

Alles ist anders und trotzdem gleich geblieben. Im Wohnbau wird immer noch für die Standardfamilie mit ein bis zwei Kindern produziert. Neue Technologien fließen wohl in die Bauausführung ein, führen aber nicht immer zu Verbesserungen im Bereich der Wohnung. Sie verschlechtern manchmal sogar das Angebot, da bei steigenden Herstellungskosten an den Wohnungsgrößen gespart werden muss. Bei gleichbleibendem Raumprogramm ändert sich zwar die Nutzung unserer vier Wände, sei es durch eine Öffnung für die sozialen Medien oder für Heimarbeitsplätze, nicht aber die Bezeichnung der einzelnen Räume.

Das Raumprogramm, dem bürgerlichen Wohnen nachempfunden, hat seine Beständigkeit seit dem frühen 20. Jahrhundert. Damals wurden Qualitäten und Standards funktionell für alle Schichten nach bürgerlichem Maßstab festgeschrieben. Hinterfragt wurde das Wohnprogramm der 1920er Jahre höchstens in den Wohnmodellen meist linker Eliten, wenn sie Haushaltstätigkeiten und Kindererziehung bis zur Auflösung von Familien zu verallgemeinern versuchten.

„Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße (1)
Erst das Einfamilienhaus erfüllt uns scheinbar den Wunsch vom individuellen und selbstbestimmten Wohnen. Laut einer Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstitutes Gfk (2) ist es der Traum von 63% aller ÖsterreicherInnen, der sich aber alsbald zum Albtraum entwickeln kann, wenn man die veränderlichen Lebenssituationen betrachtet (s.o.). Zu leicht übersehen wir beim Erwerb eines Einfamilienhauses die vielen Zwänge und die hohen Kosten, die die Raumnahme der vereinzelten Lage und die Alleinnutzung verursachen. Abgesehen von den ständigen Erhaltungs- und persönlichen Infrastrukturkosten muss vor allem die Allgemeinheit für den Erhalt der technischen und sozialen Infrastrukturen bei unwirtschaftlich geringer Dichte aufkommen.

„mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn -
aber abends zum Kino hast du’s nicht weit.“ (3)
Wohnen wie im Einfamilienhaus mit den Vorteilen wie Selbstbestimmung, Individualität und Eigenverantwortung aber ohne die Nachteile wie dezentrale Lage, hohe ungeteilte Erhaltungs- und Infrastrukturkosten ist eine Option, die mit einer Baugruppe oder Baugemeinschaft umgesetzt werden kann.

Ja, das möchste:
Die Baugruppe / die Baugemeinschaft
Vor Jahren haben wir uns im Kreis von Freunden ausgemalt, wie wir wohl einmal als empty nesters, best agers oder eben nur Rentner wohnen und leben werden. Und wir fanden die Vorstellung vom allein Wohnen in zu großen Wohnungen und Häusern, vom Umzug in Seniorenresidenzen oder dem Wohnen bei den Kindern und Enkelkindern wenig zufriedenstellend. Irgendwann einmal, spät in der Nacht, verfestigte sich die Idee: Wir wollen gemeinsam wohnen. Bis heute haben wir nichts weiter unternommen, wir wohnen auch alle ziemlich nett und alt werden tun auch nur die anderen, aber irgendwo im Hinterkopf lebt die Idee, noch gemeinsam etwas zu gestalten, uns gegenseitig Gesellschaft zu leisten und zu unterstützen.

Ähnliche Konzepte liegen heute vielen Baugruppen und Baugemeinschaften zugrunde.
Eines der ersten großen Mehrgenerationen-Mietprojekte wurde nach langer Vorbereitungsphase 2001 von der Genossenschaft Kraftwerk1 in Zürich fertiggestellt. Es ist eines der Referenzprojekte im Genossenschaftsbau, auf die wir alle immer wieder zurückgreifen, um das Modell des individuellen Wohnens in Gemeinschaft zu beschreiben und zu verweisen, dass es funktioniert.
240 Personen leben in Zürich-Hartholz, zum großen Teil in Standardwohnungen aber auch in mehrgeschoßigen Groß-WGs. Innerhalb der Wohnanlage herrscht eine große Mieterzufriedenheit und Wohnungswechsel geschieht vorrangig intern, wenn Wohnungen zu klein oder zu groß werden. Das Gemeinschaftsprojekt wird entsprechend seiner Gründungsphilosophie durch Gemeinschafts- und Sozialeinrichtungen, einem Restaurant und mehreren Gewerbebetrieben abgerundet. (4)

2008 bis 2012 hat dieselbe Baugenossenschaft ein neues Projekt im Raum Zürich entwickelt, Kraftwerk2 im Höngger-Heizenholz. Dieses Projekt war der Um- und Zubau eines ehemaligen Kinder- und Jugendheimes, bei dem das Konzept der Groß-WGs von Kraftwerk1 noch weiter gedacht wurde. Neben 26 Standardwohnungen wurden 2 Clusterwohnungen mit jeweils ca. 330m2 errichtet. Sie bestehen aus kleinen, persönlichen Einheiten mit Kitchenette und Duschbad, die mit Gemeinschaftsflächen verbunden sind. Jede der Clusterwohnungen ist zoniert in Wohn-, Ess-, Bibliotheks- und Küchenzonen. Das Haus wurde 2012 fertiggestellt und heute leben insgesamt 85 Personen in diesem Mehrgenerationenhaus. (5)

Im Kleinen wäre das ein Vorbild für unseren zuvor erwähnten Wunschtraum von einem zentrumsnahen Stadthaus. Fünf bis sechs abgeschlossene kleinere Wohnungen und ein gemeinsames Wohngeschoß mit angeschlossener Gästewohnung und einem gemeinsamen Garten oder Freibereich. Die Gästeeinheit stünde dann Freunden, Kindern, Enkelkindern oder anderen lieben Besuchern zur Verfügung, könnte vermietet oder bei Bedarf für eine gemeinsame Hilfe im Haushalt oder Pflege genutzt werden.

Grundsätzlich spannt sich der Bogen beim gemeinsamen Bauen von einfachen Zweck-Baugruppen, die letztlich nur zusammen Wohnraum - oft im Eigentum - errichten wollen, bis zu kompliziert organisierten Solidarprojekten mit allen erdenklichen Zwischennuancen. Verbindend ist der auf Gemeinschaftsentscheidungen aufbauende Prozess der Entstehung und der Planung des Projekts. Bereits in der Entwicklungsphase lernen sich die BewohnerInnen kennen und dabei entstehen Interessensgemeinschaften bis zu Wahlverwandtschaften. Diese frühen Entscheidungsfindungsprozesse fördern die Entstehung einer konfliktfähigen und lebendigen Nachbarschaft.

Beispiele in Österreich
Schließlich noch einige bekannte und weniger bekannte Beispiele von Baugruppen und Baugemeinschaften, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Österreich entstanden sind (auf die frühe Vorreiterrolle österreichischer Architekten wie Fritz Matzinger, Ottokahr Uhl, Eilfried Huth und die Architekten des Modell Steiermark in den späten 70er und 80er Jahren können wir hier nicht eingehen):
1996 wurde die Sargfabrik (6) in Wien fertiggestellt; sie hat eine ähnlich lange Entwicklungsgeschichte wie Kraftwerk1 in Zürich und gehört auch zu den wichtigsten mitteleuropäischen Referenzprojekten. 2000 folgte in unmittelbarer Nähe die Miss Sargfabrik. Ebenfalls in Wien befinden sich die zwei Wohngemeinschaften des Vereins B.R.O.T. (7)
In den letzten Jahren wurde das Entstehen von Baugruppen und Baugemeinschaften vor allem in Wien wieder gefördert und neue Projekte in den Entwicklungsgebieten um den Wiener Hauptbahnhof und am Areal des ehemaligen Flugfelds Aspern initiiert.

Baugruppen sind jedoch kein Wiener Phänomen, vielmehr hat bereits die erste Generation der Vorarlberger Baukünstler gemeinschaftliche Wohnanlagen errichtet, wie z.B. Hans Purin mit der „ Siedlung Halde“ (8) Bludenz 1967, und damit eine Tradition begründet, die sich bis heute fortsetzt.
Die frühen, wesentlichen Beiträge der Grazer Architekturszene können wir hier nicht beleuchten (s.o.), jedoch steigt das Interesse am gemeinsamen Bauen aktuell auch hier wieder. Baugruppeninteressierte in Graz finden Erstinformationen auf der Homepage der Stadtbaudirektion. Erste konkrete Baugruppen und Baugemeinschaften sind in der Planungsphase, darunter die Cumpanei, die ein sozialengagiertes Mietwohnungsprojekt entwickelt. Aber auch an die Arge W:A:B gibt es immer wieder Anfragen von Personen, die an Baugruppen interessiert sind.


(1) Zeilen aus dem Gedicht: „Das Ideal“ von Kurt Tucholsky, 1927
(2) Quelle Fessel-Gfk, Lifestyle 2005
(3) aus Kurt Tucholsky „ das Ideal“ s.o.
(4)
http://www.kraftwerk1.ch/hardturm/siedlung.html
(5) http://www.kraftwerk1.ch/assets/plaene/heizenholz/Kraftwerk1_Heizenholz
(6) http://www.sargfabrik.at
(7) http://www.brot-verband.at
(8) http://www.nextroom.at/building.php?id=29878

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