01/11/2009
01/11/2009

Die Küste der Cinque Terre

Riomaggiore vor vielleicht 50 Jahren

Riomaggiore

Riomaggiore

Riomaggiore - die Hauptstraße über dem nicht mehr spürbaren Fluss

72 Stufen führen zum Bäcker hinunter- und wieder hinauf (Morgensport)

Für den kleinen Linienbus muss das Geschäft (alimentari) seine Steigen jedesmal beiseite räumen

Ein künstlicher Platzraum über dem Eisenbahntunnel in Riomaggiore

In luftiger Höhe die Wohnterrassen in Riomaggiore

Das Parkhaus in Riomaggiore - bis hierher kann man fahren

Manarola - Bahnhof und Ansicht von SO

Manarola wurde am Fluss Groppo erbaut. Das Wasser fließt jetzt unter der Straße

Entlang dem Fluss standen mehrere Papiermühlen

Manarola. Erst in den 1960er Jahren wurde der Fluss überbaut

Das Zahnradgefährt, um die Trauben ins Tal zu transportieren

Vernazza

Vernazza

Ein Netz als Sicherung des Hafenbeckens von Vernazza gegen Steinschlag, darüber Weingärten, darunter wird gebadet.

Wein-, Garten- und verlassene Terrassen bei Vernazza.

Ein Lastesel

Die Badebucht bei Riomaggiore

Monterosso. Der einzige Sandstrand in Cinque Terre

Riomaggiore. Vorbereitungen für die Prozession

Die Prozession zu Ehren des Schutzpatrons San Giovanni Batista in Riomaggiore. Alle Fotos: Eva Mohringer-Milowiz

Cinque Terre
Oder wie man gemeinsam Nachteile in Vorteile verwandeln kann

Text / Bilder: Eva Mohringer-Milowiz

„An der ligurischen Küste Italiens gelegen, sind die Cinque Terre als Kultur- und Naturlandschaft gleichermaßen bekannt und attraktiv. Dennoch sind sie von Entleerung und Musealisierung bedroht. Um die Negativentwicklung zu stoppen, wird der boomende Tourismus gezielt eingesetzt. Dieser fungiert als Katalysator und setzt Prozesse in Gang, die über rein ökonomische Aspekte hinausgehen. Die attraktive Kulturlandschaft liefert die touristische Basis, umgekehrt trägt der Tourismus zur Erhaltung der Kulturlandschaft der Cinque Terre bei. Durch die Ausweisung der Cinque Terre als Nationalpark konnte eine eigenständige territoriale Einheit geschaffen werden. Die lokalen Akteure erhielten dadurch weitgehende Spielräume und entwickelten verschiedene innovative Projekte. Dazu zählen beispielsweise eine regionale „Eintrittskarte“ mit verschiedenen Servicefunktionen wie die freie Nutzung von Bahnen und Bussen, ein Qualitätssiegel für umweltbewusste Gastgeber, Patenschaften für Weinberge sowie Ferienakademien für die Kulturlandschaftspflege. Damit gefährdet Tourismus nicht, wie an manchen anderen Orten, die regionale kulturelle Identität, sondern wird zur Grundlage ihrer Erhaltung.“
(Auszug aus der Diplomarbeit „Tourismus als Katalysator integrierter Regionalentwicklung – das Beispiel Cinque Terre“ von Stefan Kah, Universität Bayreuth, Abteilung für Angewandte Stadtgeographie bei Professor Dr. Rolf Monheim)

Die Cinque Terre, ein schmaler Küstenstreifen von ca. 12 km Länge, eingezwängt zwischen Meer und Bergen, liegt im äußersten Südosten der ligurischen Riviera und gehört politisch zur Provinz La Spezia. Ein bis zu 800 m hoher Höhenzug fällt steil zum Meer ab.

Durch die geografische Lage war das Gebiet – vor dem Bau von Straße und Eisenbahn im 19. Jahrhundert – mit seinen fünf Städtchen Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola, Riomaggiore und den dazugehörigen Ländereien von den meisten großen historischen Entwicklungen abgeschnitten und blieb unbeeinflusst von politischen und wirtschaftlichen Veränderungen.

Es gibt wenig Wissen über die Vergangenheit dieser Dörfer. Alte Reiseberichte erzählen von der Armut und harten Arbeit, aber auch von intensiver Kommunikation und vielen, vor allem kirchlichen Festen.

Bis ins 12. Jahrhundert lebten die Menschen aus Angst vor Seeräubern und fremden Eroberungen in den Bergen des Hinterlandes. Erst dann wagten sie die Besiedelung des klimatisch günstigeren Küstenlandes in den engen Taleinschnitten der Flussläufe und deren Mündungen. An die steilen Felsen und Hänge gedrückt entstanden vier Siedlungen mit kleinen Hafenbecken: Riomaggiore, Manarola, Vernazza und Monterosso. Nur Corniglia liegt auf einer hohen, ins Meer kragenden Felsterrasse.

Zur Stützung der steilen Hänge und Felsen, zur Regulierung der Hangwässer und der Gewinnung von kleinen Anbauflächen für Gemüse, Obst, Wein und Oliven für den täglichen Bedarf wurden ca. 7000 km Trockenmauern errichtet. Über steile Treppen mussten die Früchte geerntet, mithilfe von Eseln in Vorratskeller gebracht oder außerhalb der Cinque Terre verkauft werden. Heute werden die geernteten Weintrauben in kleinen Transportzügen, ähnlich Zahnradbahnen, entlang einer Schiene ins Tal gebracht.

1872-74 wurden die Cinque Terre durch einen Straßentunnel und den Bau der Eisenbahnlinie von La Spezia über Genua nach Ventimiglia erschlossen. Die Bahnstrecke verläuft im Küstenbereich weitgehend in Tunnels, nur die Stationen liegen im Freien.

Mit der Verbindung zur Außenwelt begann die Abwanderung der Jüngeren. Zuerst fanden sie beim Bahnbau, dann im Militär- und Handelshafen von La Spezia und an anderen Orten Arbeit und ein leichteres und besseres Leben. Die Bevölkerungszahl ist seit den 1920er-Jahren stark zurückgegangen, in den letzten Jahren aber wieder angewachsen. Der dadurch entstandene tief greifende Strukturwandel in der Bevölkerung und ihren Bedürfnissen führte zur Aufgabe eines großen Teils der kultivierten Terrassenflächen (früher ca. 140 ha, heute ca. 25 ha). Die Trockenmauern wurden vernachlässigt. Immer wieder rutschte und rutscht eine Terrasse ab. Das Gewicht der Steine und der Erde belastet die darunterliegenden Terrassen. Dies kann sich zu einem größeren Bergrutsch summieren. Geologen befürchten, dass mit dem Verfall der Trockenmauern größere Abschnitte der künstlichen Kulturlandschaft der Cinque Terre ins Meer rutschen und die natürliche Vegetation, die Macchia, wieder die Herrschaft übernimmt. Daher ist die Erhaltung, Sanierung und Wiederherstellung der Trockenmauern das vorrangige Ziel der Nationalparkgesellschaft.

Viele Häuser werden von den ursprünglichen Eigentümern weiterhin als Sommer-, Zweit- oder Alterswohnsitz genutzt. Denn die Bewohner sehen es nun als Privileg an, dort zu leben, wo andere Urlaub machen.

1985 wurden die Cinque Terre zum Regionalpark ernannt, 1997 nahm die UNESCO die Cinque Terre in die Liste des Weltkulturerbes der hundert vom Verschwinden bedrohten Kulturlandschaften auf, 1999 wurden sie zum Nationalpark erklärt (Parco Nazionale delle Cinque Terre) und um ein Meeresschutzgebiet erweitert.

All das unterstreicht die Bedeutung von Landschafts- und Denkmalschutz und rechtfertigt die Bemühungen der Bevölkerung. Es führt zu größeren Unterstützungen in moralischer und finanzieller Hinsicht. Man ist sich einig, dass dieser besondere Ort nur durch einen sanften und nachhaltigen Tourismus erhalten werden kann. Wegen des Ansturms von zigtausend Touristen jedes Jahr musste ein Konzept entwickelt werden, das in jeder Hinsicht mit den entstehenden Ansprüchen, Notwendigkeiten und Veränderungen mithalten kann. So werden heute bevorzugt heimische und biologische Produkte verkauft und verwendet, kleine Geschäfte statt großer Supermärkte betrieben, keine Hotelburgen errichtet, und es wird auf einen bewussten Umgang mit den Wasserressourcen Wert gelegt. Die begrenzten Zufahrtsmöglichkeiten mit dem Auto und hohe Parkgebühren verringern das Verkehrsaufkommen auf das Notwendigste.
Die engen Häuserschluchten vervielfachen den Lärm der vielen Menschen wie ein Megafon. (Zum Glück ist um 2 Uhr nachts Sperrstunde.)

Die Orte selbst sind durch die schmalen Gassen, Straßen und vor allem die steilen, schmalen Treppen nur bedingt mit Fahrzeugen erreichbar und befahrbar. Rettung, Feuerwehr, der Transport von Lebensmitteln, Personen und Gepäck müssen sich nach den Gegebenheiten richten.
Die öffentlichen Busse sind klein. Dreirädrige Mopeds mit aufgetürmtem Gepäck auf den Ladeflächen zwängen sich mit Millimeterabstand durch gotische Tore.
Gepäckträger ist hierorts ein gefragter Beruf. Denn zu den meisten Häusern und Wohnungen führen vom Gartentor aus noch bis zu 100 Stufen hinauf oder hinunter.
Die Menschen finden kreative, alternative Lösungen und ungewöhnliche Arbeitsmöglichkeiten als Überlebensstrategien.

Viele Touristen kommen mit der Eisenbahn. Denn als Teilstück der Strecke Ventimiglia - La Spezia sind die Cinque Terre national und international gut vernetzt. Viele Menschen reisen jedoch immer noch mit dem Auto an. Die Folge sind große Verkehrs- und vor allem Parkplatzprobleme.
In Riomaggiore werden die Autos am Ortseingang und Ende der öffentlichen Straße durch einen Balken gestoppt. Dahinter liegt das große, durch geschickte Architektur und Farbgebung unauffällige Parkhaus, Parkgebühr: 25 Euro pro Auto und Tag

Bis vor ca. 40 Jahren waren einige Dörfer noch nicht mit dem Auto erreichbar.
Nach 1970, der Zeit des Autobooms, begann man, entlang des Bergzugs eine großzügige und zeitgemäße Panoramastraße mit Blick auf das Meer zu planen. Sie sollte La Spezia mit Sestri Levante verbinden. Durch das gerade erwachende Umweltbewusstsein und wohl auch kostenbedingt wurde der Bau nach ein paar Kurven und Brücken abgebrochen und so Natur und bestehende Architektur geschützt.
Heute gibt es Stichstraßen nach Vernazza und Corniglia. So ist das Gebiet vor Zersiedelung bewahrt worden.

Reisende aus der ganzen Welt sind heute hier anzutreffen. Unter anderem empfehlen amerikanische Reiseführer, bei einer Europareise „mindestens zwei Tage Cinque Terre“ einzuplanen. Am Wochenende nutzen Tagesausflügler aus La Spezia die bequeme Erreichbarkeit der Cinque Terre für Wanderungen. Bis vor ca. 20 Jahren noch ein Geheimtipp, kommen nun im Sommer auf einen Einheimischen schon mehr als zehn Touristen. Dadurch entstehen manchmal Zugverspätungen und Staus auf Wanderwegen.

Wegen der steilen Felsküste bleibt das Gebiet dem Tages– und Wandertourismus vorbehalten. Nur Riomaggiore bietet eine kleine Bucht mit großen Steinen und Monterosso einen meist überfüllten Streifen Sandstrand, wo man seinen, vom Wandern erhitzten Körper im Meer abkühlen kann. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Betten: wenige Hotels, mehr nette, private Zimmer und Appartementi. Campingplätze sucht man vergeblich.

Basierend auf Initiativen und Partizipation der Bevölkerung und lokaler Politiker wurde von der Nationalparkverwaltung in Zusammenarbeit mit internationalen, universitären Instituten ein strategisches Konzept zur Bewältigung der enormen Probleme erarbeitet. Unter anderem unterstützen die drei Hauptprojekte PROSIT – zur Erhaltung der Weinbergterrassen und Weinbergrekultivierung; MQA – die Zertifizierung touristischer Betriebe – und die Carta Cinque Terre, ein innovatives Verkehrskonzept, die Bemühungen der Menschen, eine der schönsten, künstlichen Kulturlandschaften der Welt zu erhalten.
Die Bevölkerung hat den Wert „ihrer“ Cinque Terre erkannt. Sie weiß, dass der Tourismus notwendig ist. Sie hat sich damit arrangiert. Gemeinsam, kreativ, behutsam und bewusst werden die Projekte Schritt für Schritt verwirklicht.

Eva Mohringer-Milowiz:
Geboren in Hatzendorf, Gymnasialzeit in Köln und Graz, Architekturstudium bis 1970, seit 1970 Mitarbeiterin im Bundesdenkmalamt, 1970-71 Stipendium in Paris, 1973 und 1999 Mitarbeit bei den Ausgrabungen in Ephesos.
Zwei erwachsene Kinder.
Fotografie mit Selbstausarbeitung seit dem sechsten Lebensjahr, Teilnahme an der Photokina in Köln 1956 und 1958.

KONTAKT: evamohringer@gmail.com

Verfasser/in:
Eva Mohringer-Milowiz
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