14/08/2023

Martin Grabner führt – ausführlich – über die 18. Architekturbiennale aus, die noch bis zum 26. November in Venedig zusehen ist.

14/08/2023

Im zentralen Pavillon in den Giardini hängt Lesley Lokko die „Fußabdrücke“ aller präsentierter Projekte von der Decke ab, kombiniert zu einem Ganzen.

©: Martin Grabner

Ein gigantisches verglastes Satellitenbild zeigt The Line in der saudi-arabischen Wüste.

©: Martin Grabner

In David Adjayes Kwaeε (Wald auf Twi, einer der beiden Hauptsprachen Ghanas).

©: Martin Grabner

Francis Kéré zeigt Arbeiten eingebettet in eine Lehmwand.

©: Martin Grabner

Ein direkt auf die Wand gezeichnetes Projekt von Mariam Issoufou Kamera.

©: Martin Grabner

Der brasilianischen Pavillon Terra mit Sockeln aus Stampflehm.

©: Martin Grabner

Die Installation von Grandeza Studio thematisiert den kolonialistischen Raubbau an Ressourcen direkt und reflektiert.

©: Martin Grabner

Nachempfundene Verteidigungswälle laden zur Rast im Grünen ein: ein Teil des ukrainischen Beitrags Before the Future

©: Martin Grabner

Alison Killings Zeichnung eines chinesischen Internierungscamps für Uigur*innen ergänzt den investigativen Film.

©: Martin Grabner

Die halbfertige Brückenkonstruktion vom österreichischen Pavillon über die Mauer nach Sant’Elena.

©: Martin Grabner

So wäre das Projekt von AKT und Hermann Czech geplant gewesen.

©: Martin Grabner

In Home Stage (Estland) ist Beteiligung erwünscht.

©: Martin Grabner

Die geöffnete Mauer zwischen den Nachbarn Schweiz und Venezuela.

©: Martin Grabner

Im lettischen Supermarkt können Ideen zum Zusammenleben ausgewählt und (symbolisch) gekauft werden.

©: Martin Grabner

Das Materiallager im deutschen Pavillon ist Wegen Umbau geöffnet.

©: Martin Grabner

Die Künstlerin Lauren Yaeger stapelt vor dem Pavillon der USA typische Massenprodukte aus Kunststoff zu klassischen Skulpturen.

©: Martin Grabner

Eine (fast) lebende Wand aus getrocknetem Myzelium.

©: Martin Grabner

Ästhetisch hochverdichtet ist das Wissen rund um die Nahrungsmittelproduktion im spanischen Foodscapes.

©: Martin Grabner

Protest trifft auf Tourismus im venezianischen Alltag.

©: Martin Grabner

Prolog: The Line

Um die Relevanz der diesjährigen Architekturbiennale zu verdeutlichen, kann man einen Abstecher in die historische Abbazia di San Gregorio nahe der Basilika Santa Maria della Salute machen. Dort wird – nicht als Teil der Biennale, aber ganz offensichtlich deren mediale Anziehungskraft nutzend – das saudi-arabische Projekt Neom präsentiert: die utopische Bandstadt The Line im saudi-arabischen Nirgendwo samt weiterer Regionen aka Resorts. 170 km lang, 200 m breit und 500 m hoch verläuft The Line beginnend am Golf von Akaba als gigantische schnurgerade, spiegelnde Wand durch die Wüste des gebirgigen Nordwestens des Landes. Ein Wunder, dass die Rechtsnachfolger von Superstudio nicht schon eine Urheberrechtsklage angestrengt haben. Für The Line, deren Konzept viel (oder nichts) sagend als „Zero Gravity Urbanism“ beworben wird, haben Architekturfirmen wie UNStudio, Morphosis und LAVA ebenso Entwürfe geliefert wie Adjaye Associates, Jean Nouvel, Peter Cooks CHAP und die Österreicher Coop Himmel(blau) und Delugan Meissl.

Das Grundkonzept sind stets zwei 500 m hohe Bauteile und der dazwischenliegende Stadtraum in unterschiedlichen gestalterischen Ausprägungen und funktionalen Schwerpunktsetzungen. Aber immer eine technoide, grün-gerenderte Schlucht irgendwo zwischen Utopie und Dystopie, wie wir sie aus diversen Science-Fiction- und postapokalyptischen Filmen kennen. Basierend auf dem Prinzip einer funktional durchmischten und dreidimensional stark verdichteten Stadt – ohne Autos und natürlich aus 100% erneuerbarer Energie gespeist – soll hier die Bevölkerung einer Metropole (für die gesamten 170 km mit rund 9 Millionen beziffert) auf nur 2% der bis dato üblichen Fläche leben und damit einen wesentlich geringeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Sehr vordergründig gerechnet zumindest. Rationale Gründe, wieso das in der Architekturgeschichte mehrmals erprobte und ebenso oft gescheiterte utopische Konzept der Bandstadt mitten in der Wüste entstehen muss, wo – außer einigen tausend Beduinen, die vertrieben werden müssten – niemand lebt, gibt es keine. Wie so viele interessante Utopien sollte The Line vielleicht eine solche bleiben.

Denn, wer hinter Neom, das von versprochener Sustainability, smarten Lösungen für alles und jedes und Marketingsprech (alles ist hier hyper: hyper-proximity, hyper-connectivity, hyper-mixed-use) nur so strotzt, in erster Linie großes Geld vermutet, liegt goldrichtig. Mit den visionären Statements der großen Architekturnamen sammelt ein saudi-arabischer Fond Geld ein, das vermutlich mit Öl- und Finanzgeschäften verdient wurde und nun zukunftssicher investiert werden will, falls das Öl bald nicht mehr sprudelt. Zwischen 2030 und 2045 sollen die einzelnen Regionen von Neom fertiggestellt werden, gebaut wird bereits seit 2021. Vor allem an den Teilen, die auch beim Scheitern der Bandstadt verwertbar wären: ein Bauteil rund um eine luxuriöse Marina, die Industrie-4.0-Stadt Oxagon nach einem Masterplan von BIG und bald die Freizeitstadt Trojena in den nahen Bergen. Sie vollendet die Kommodifizierung von Auszeit und Abenteuer zu einer „entertainment experience" mit künstlichem See und Themenparks klingender Namen wie Comic Gate, Fun Cluster, Enchanted Forest oder Lifestyle Management Resort. Neom erscheint wie das letzte Aufbäumen einer verglühenden Stararchitekten-Ära, das hoffentlich scheitert, bevor zu viele Ressourcen hineingeflossen sind, die besser anders genutzt werden sollten. Womit wir bei dem exakten Gegenteil von Neom wären – der 18. Architekturbiennale, kuratiert von Lesley Lokko.

Africanization oder die Vervollständigung der Erzählung

Sie hat die diesjährige Biennale The Laboratory of the Future betitelt und den teilnehmenden Ländern die Schlagworte Dekolonialisierung und Dekarbonisierung vorgegeben, die auch Leitlinie der von ihr kuratierte Hauptausstellung in der Corderie des Arsenale und im Hauptpavillon der Giardini sind. Bekannte Namen findet man auf dieser Biennale konsequenterweise deutlich weniger. Und das tut ihr gut. Sie ist jünger geworden, weiblicher, und vor allem afrikanischer. Lokko, schottische Architektin und Lehrende mit Wurzeln in Ghana, hat zur Hälfte Practitioners – sie erweitert die Disziplin der Architektur – aus Afrika und aus der afrikanischen Diaspora eingeladen. Aus gutem Grund: der Kontinent ist das Labor der Zukunft. Er hat die jüngste Bevölkerung der Welt und ist konfrontiert mit der schnellsten Urbanisierung. Was und wie dort gebaut wird, hat direkte und indirekte Auswirkungen auf unsere Zukunft, sozial und ökologisch.

Die umfangreichsten Präsentationen von genuin architektonischen Projekten (nicht selten wähnt man sich auf einer Kunstbiennale) betreffen daher aus Afrika stammende und dort bauende Architekt*innen. Der bekannteste ist der ebenfalls aus Ghana stammende und in London arbeitende David Adjaye, der gleich in mehreren Sälen viele seiner zahlreichen Großprojekte, oft außerhalb der westlichen Wahrnehmung im Globalen Süden errichtet, zeigen darf. Der in Berlin lebende Pritzker-Preisträger Francis Kéré gibt in einer über zwei Räume des zentralen Pavillons laufenden geschwungenen Lehmwand neben eigenen Projekten den lokalen Bauweisen seiner Heimat Burkina Faso sowie dem African Conversation Effort Netzwerk viel Raum. Einen Raum weiter zeigt die an der ETH Zürich lehrende und im Niger arbeitende Architektin Mariam Issoufou Kamera / atelier masōmī ihre Bauten mit starkem Bezug zum Lokalen, zu Tradition und Gemeinschaft. Ihre Projekte wie das mit dem Aga Khan Award ausgezeichnete Wohnprojekt Niamey 2000 aus Lehmziegeln oder das Hikma Gemeinschafts- und Bildungszentrum in einer verlassenen Moschee entstehen kontextsensitiv im partizipativen Prozess und zeugen von einem großen sozialen und ökologischen Verantwortungsbewusstsein.

Eine gute historische Ergänzung dazu ist der Film der Ausstellung Tropical Modernism, in der sich das Victoria and Albert Museum gemeinsam mit der Londoner AA und der Kwame Nkrumah University in Kumasi auf die Spuren der Moderne als Ausdruck des Nation-buildings und des Panafrikanismus in Ghana begibt, welches 1957 als erstes Land der Sub-Sahara seine Unabhängigkeit erlangte.

Die beiden Themen Dekarbonisierung und Dekolonialisierung verbindet der brasilianische Beitrag Terra und wurde dafür mit dem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet. In dem mit Stampflehmboden und -sockeln ausstaffierten modernistischen Pavillon wird eben dieses koloniale Narrativ des modernistischen Brasiliens dekonstruiert und der Fokus auf das reiche und einflussreiche Erbe der indigenen und afrobrasilianischen Bevölkerung gelegt, das beinahe zerstört worden wäre. Der Begriff terra wird im sozio-räumlichen wie ökologischen Sinn verstanden und aus der kritischen Betrachtung der Geschichte in eine soziale Praxis für die Zukunft projiziert.

Es geht Lokko aber nicht darum, dass ein Kontinent – jetzt eben Afrika – dem Rest der Welt erklärt, wie zu bauen ist. Vielmehr geht es darum, verschiedene Stimmen zu hören, die aufgrund ihrer Geschichte unterschiedliche Lösungsansätze und Ressourcen haben. Afrikanische Gesellschaften waren immer von Migration und Anpassung geprägt, eine Erfahrung, die eine wertvolle Perspektive in eine globale Kooperation einbringen kann. Diese Biennale will nicht eine falsche Erzählung der Architektur korrigieren, sondern die Erzählung vervollständigen.

Macht und Gerechtigkeit

Die Macht muss neu verteilt werden und so kommen auch zahlreiche Aktivist*innen zu Wort. Sie liefern einige der interessantesten Beiträge. In der Manier von revolutionären Öko-Krieger*innen macht das spanische Grandeza Studio in Seven Political Allegories sichtbar, wie der rücksichtslose Abbau von Lithium und seltenen Erden aus der Region Pilbara in West-Australien ein „geopfertes“ Territorium macht. Geopfert im Namen eines neo-kolonialistischen, neo-kapitalistischen Paradigmas der „grünen“ energietechnischen Transformation. Auf die dunkle Seite der Energiewende weist auch die Künstlerin Thandi Loewenson hin, die den Abbau von Graphit für Lithium-Ionen-Batterien in Moçambique in feinen Zeichnungen thematisiert – auf dunklen, schweren Platten aus eben dem Material.

Der wirtschaftliche Erfolg des Westens basiert seit der Industriellen Revolution (und auch schon davor) ganz wesentlich auf der Ausbeutung der Ressourcen des Globalen Südens. Jetzt, am Ende des fossilen Zeitalters, sind wir am besten Weg, dieses ungerechte Verhältnis fortzuschreiben. Die Rohstoffe für die Energiewende – Lithium, Kobalt, seltene Erden – liegen wie zuvor Kohle, Erdöl und -gas in der Erde, oft des Globalen Südens, vergraben. Während die Profite zu multinationalen Konzernen fließen, findet die Ausbeutung weiterhin unter oft haarsträubenden ökologischen und sozialen Verhältnissen statt. Die Klimakrise ist, so Lesley Lokko, eine kulturelle Herausforderung, nicht nur eine technologisch-wissenschaftliche. Um sie zu bewältigen, ist es nötig, voneinander zu lernen und die lange Periode der globalen Ungerechtigkeit zu beenden. Afrika trägt aktuell nur 4% zu den weltweiten Emissionen bei. Der Globale Süden wird aber zuerst und am stärksten von den Folgen der menschengemachten Klimakatastrophe getroffen. Es gibt also viel zu tun.

Ein paar Meter weiter präsentieren Eyal Weizmann (Forensic Architecture) und David Wengrow The Nebelivka Hypothesis: eine 6.000 Jahre alte ukrainische Siedlung, die – neben einem bemerkenswert geringen ökologischen Fußabdruck – keinerlei hierarchische Strukturen zeigt. Die Ausgrabung Nebelivkas legt eine egalitäre Stadtgesellschaft nahe, die Vorbild für aktuelle Fragen des Zusammenlebens sein könnte. Diese Recherche ist neben den zwei Teilen des offiziellen Pavillons Before the Future die dritte ukrainische Präsenz. Im Arsenale zeigt die Ukraine einen bedrückend niedrigen, mit dunklen Tüchern verhängten Bunkerraum und begrünte Erdwälle, die zum Rasten in der Sonne der Giardini einladen. Sie beruhen auf aus dem 10. Jahrhundert stammenden und Serpent’s Wall genannten Verteidigungsanlagen bei Kyiv, die seit 2022 gegen die russische Aggression wieder genutzt werden.

Ebenfalls investigativ macht Alison Killing aus Rotterdam sich und uns mit Satellitenbildern, Augenzeugenberichten und CAD-Modellen ein erschütternd klares Bild der Internierungslager, in die die chinesische Regierung über eine Million Uigur*innen in der westlichen Provinz Xinjiang steckt. Damit gelingt ein notwendiges Gegengewicht zum offiziellen chinesischen Beitrag, der mit hübschen Nachverdichtungsprojekten die Realität der Unterdrückung von Minderheiten und des Raubbaus am Planeten wegzuignorieren versucht.

Mauern einreißen

Weil sich vieles schleunigst ändern muss, in der Architektur und sowieso, um unsere Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu erhalten, hat Lesley Lokko die Teilnehmenden aufgefordert, Agents of Change zu sein. Einige der reflektiertesten Beiträge nahmen das wörtlich und dekonstruierten (auch) die Biennale selbst. Der österreichische Beitrag Partecipazione/Beteiligung ist hier sicher einer der stärksten, gerade weil er nicht wie geplant realisiert werden konnte. Das 17-köpfige Architekturkollektiv AKT und der Wiener Architekt Hermann Czech wollten die Hälfte des österreichischen Pavillons den Bewohner*innen des unmittelbar angrenzenden Stadtteils Sant’Elena zur Verfügung stellen, als Treffpunkt und Veranstaltungsort für die Nachbarschaft. Sant’Elena leidet wie ganz Venedig am Mangel an Raum für seine Bewohner*innen und an fehlendem Wohnraum durch Overtourism. Dieses Jahr übersteigt erstmals die Zahl der Touristenbetten Venedigs, die der Einwohner*innen, die seit den 1970er-Jahren von rund 170.000 auf unter 50.000 geschrumpft ist. Nicht zuletzt die Biennale, die bei ihrer Gründung 1895 auch als Initiative für eine Zukunft der Lagunenstadt gedacht war und die sich bei der 1. Architekturbiennale 1975 explizit für und mit den räumlichen Realitäten der Venezianer*innen ein- und auseinandersetzen wollte, ist mit ihrer ausufernden Raumnahme ein Faktor dieser Entwicklung.

Das Projekt von AKT und Czech wollte in enger Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen Sant’Elenas und lokalen Recht-auf-Stadt-Initiativen diese räumliche Praxis umkehren, Raum und die Verfügungsmacht über diesen wieder an die Stadtbewohner*innen abgeben. Eineinhalb Jahre lang bemühten sie sich um eine Genehmigung, doch die zunächst durch zwei Mauerdurchbrüche geplante Öffnung wurde aus (vorgeschobenen) Denkmalschutzgründen untersagt, die danach geplante Brücke ebenso. Die Biennale-Leitung zeigte kein Interesse an der freundschaftlichen, öffnenden Geste gegenüber den Venezianer*innen, so werden das Problem und die ambivalente Rolle der Biennale für Venedig jedoch umso deutlicher sichtbar, wie Hermann Czech sagt. Die halbfertige Brücke und die abgesperrte, für die Bewohner*innen vorgesehene Pavillonhälfte sind nun als mahnende Baustelle zu sehen, ebenso eine Recherche zur Raumnahme der Biennale in ganz Venedig. Das mit den Bewohner*innen entwickelte Programm findet in prekären Resträumen des Stadtteils statt und wird durch Stadtführungen ergänzt. Partecipazione hätte ein temporäres Gegenmodell werden können zur oft vorherrschenden Realität einer von der Immobilienwirtschaft getriebenen Stadtentwicklung, das gezeigt hätte, dass auch ein Zusammenleben und Teilen von Raum möglich ist, wie es Vizekanzler Werner Kogler bei der Eröffnung formulierte.

In eine ähnliche Kerbe schlägt der estnische Pavillon. Home Stage changiert erfrischend irritierend zwischen gelebtem Alltag und Performance und spielt mit dem Widerspruch zwischen dem Sicherheit gebenden Zuhause und dem Wohnungsmarkt als Spielball von Investoren. Dass sich der Pavillon Estlands selbst in einem der im österreichischen Beitrag dokumentierten, von der Biennale okkupierten Räume befindet (gleich nach dem Hauptausgang des Arsenale), ist angesichts des Themas eigentlich konsequent.  

Erfolgreicher dabei, Mauern einzureißen, waren die Schweizer. Wohl auch, weil sie im System der Biennale – und innerhalb deren „geschütztem“ Areal – bleiben. Der Pavillon von Bruno Giacometti und der unmittelbar angrenzende, einige Jahre später von Carlo Scarpa errichtete Pavillon Venezuelas teilen sich ein Stück der Umfassungsmauer. Dieses wurde teilweise abgebaut und erlaubt nun eine direkte Verbindung zwischen den Neighbours. Auf einem raumfüllenden weißen Teppich im Hauptraum kann man über die kombinierten Grundrisse spazieren und ihre Ensemblewirkung nachempfinden. Mit minimalen Eingriffen gelingt auf diese Art und Weise der Künstlerin Karin Sanders und dem Kunsthistoriker Philip Ursprung eine ebenso subtile wie wirkungsvolle, explizit architektonische Kritik am System der nationalen Repräsentations- und Leistungsschau, für die die Biennale (auch) steht.

Wieder-, weiter- und neu nutzen

In den Regalen von Lettlands Trade Center Latvia findet man 506 Ideen für ein besseres Zusammenleben, die in den letzten zehn Biennalen von den Länderbeiträgen entwickelt wurden – und zum allergrößten Teil noch immer auf ihre Umsetzung warten. Wie es sich für einen Supermarkt gehört, kann man die am dringendsten benötigten Ideen in den Einkaufskorb legen, um sie endlich anzuwenden. Vielleicht braucht es gar nicht immer mehr und mehr Ideen, sondern Entscheidungsträger*innen, die bestehende gute Ideen endlich beginnen umzusetzen.

Ins Tun kommen, das will auch das deutsche Kurator*innenteam rund um ARCH+ und verwandelt den Pavillon von einem Ort der Repräsentation in ein Materiallager mit Reparaturwerkstatt. Das gesammelte Material der Kunstbiennale des Vorjahres wird verwendet, um den Pavillon nach den gesellschaftlichen Vorstellungen der Kurator*innen instand zu setzen und zu erweitern: eine Werkstatt, eine Öko-Toilette, eine barrierefreie Rampe. In Workshops führen mit dem Material dann Studierende für die Dauer der Biennale in der umliegenden Stadt notwendige Reparaturen durch. Wegen Umbau geöffnet praktiziert angewandte Circular Economy auf materieller, aber auch sozialer Ebene.

Der türkische Beitrag Ghost Stories beschäftigt sich mit der Transformation bestehender, aber ungenutzter Bausubstanz, von der in der Türkei infolge des nicht immer korruptionsfreien Baubooms mehr als genug existiert. Das Re- und Upcycling ist auch in der Corderie Thema: Das venezianische Kollektiv AMAA zeigt die Transformation einer ehemaligen NATO-Basis zu einem Technologie- und Trainingshub, während Gloria Cabral, Sammy Bloji und Cécile Fromont aus Bauschutt und Ziegeln aus Minenabfällen Wandelemente schaffen, die, mit venezianischen Glaselementen verfeinert, ornamentale Muster aus dem Kongo und indigenen Brasilien zitieren.

Mit (Bau)Materialien beschäftigen sich außerdem die USA, die in mehreren künstlerischen Arbeiten die enge Verflechtung unseres Lebensmodells mit Kunststoffen und die Abhängigkeit unseres Wohlstandes von diesem ebenso faszinierenden wie toxischen Material thematisieren. Der belgische Beitrag In vivo fragt nach nachwachsenden Baustoffen und findet die Antwort im Lebendigen: Ein Raum aus getrockneten Myzelplatten lässt diese ebenso sinnlich erleben wie die labyrinthischen Ziegelwände im fast völlig abgedunkelten Usbekische Pavillon mit dem schönen Namen Unbuild Together. Unter dem Titel Foodscapes beschäftigt sich Spanien in mehreren zugleich faszinierenden und verstörenden Kurzfilmen und einer Fülle an Fotos und Grafiken pointiert mit der Produktion von Lebensmitteln und unserem agrarischen Fußabdruck.

Weltverbesserung, jetzt erst recht

Es ist angesichts der multiplen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind – und nicht wenige davon tangieren die Architektur in beträchtlichem Maße –, höchste Zeit, Architektur in einem so weiten Sinn wie noch selten zu betrachten. So schlägt das Pendel zwischen der Besinnung auf den Kern der Architektur (wie bei Rem Koolhaas’ Fundamentals 2014) und der starken Ausweitung der Disziplin, wie zuletzt bei Alejandro Aravena 2016, diesmal weit aus hin zum Glauben an die Kraft der Architektur, die Gesellschaft zu verändern. Allerdings nicht in der modernistischen Anmaßung, mit einem Masterplan eine neue Gesellschaft erschaffen zu können, sondern transdisziplinär, kooperativ und vielstimmig (mit entsprechend vielen Widersprüchen), experimentierfreudig, fast vollkommen ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Angst vor dem Unfertigen, vor losen Enden (© Hanno Rauterberg), die erst zusammenfinden müssen.

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Dieser Artikel erscheint im Rahmen von GAT+.

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