07/01/2021

Plurale Konstellationen oder das Quartier als Einbahnstraße

Unter dem Motto Neues soziales Wohnen läuft gerade die Internationale Bauausstellung IBA_Wien 2022 und zieht Zwischenbilanz in einem Buch und einer Ausstellung. Diese ist über die Webseite der IBA_Wien virtuell zu sehen.

Vielerorts wird an Quartieren gearbeitet. „Selbstverortung, Begegnung, Inklusion, Lernzusammenhang – in der aktuellen Diskussion um die Zukunft des Sozialen in unseren Städten nimmt das Quartier eine Schlüsselrolle ein. Mitunter scheint es so, als gäbe es hier einen universellen Problemlöser, der quasi aus sich heraus einen enormen sozialen Mehrwert produziert.“ (Marcus Menzl)

Bettina Landl berichtet.

07/01/2021

IBA_Wien 2022, Screenshot Bettina Landl, siehe Link > iba-wien.at

©: Bettina Landl

Buchcover. Screenshot Red.GAT, siehe Link > jovis.de

©: Redaktion GAT

2020 war (auch) jenes Jahr, das einen umfangreichen Über- und Einblick in die seit 2016 und noch bis 2022 unter dem Motto „Neues soziales Wohnen“ laufende IBA_Wien gab. Zwischenbilanz wurde in einem Buch und einer Ausstellung gezogen, Problemfelder und Möglichkeiten darin beleuchtet.

Das nötige Kapital
Die Internationale Bauausstellung (IBA) gibt es seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Gemeinsam ist allen, dass sie sich als Spiegel ihrer Zeit auf gesellschaftliche, technische und kulturelle Strömungen und Entwicklungen verstanden wissen wollen. Die Wiener Ausgabe möchte aber „anders“ sein und charakterisiert sich als „Gegenmodell – oder Weiterentwicklung – zu allen bisherigen Internationalen Bauaustellungen“ (IBA_Wien 2022 / future.lab [Hg.], Neues soziales Wohnen. Positionen zur IBA_Wien 2022, 2020). Dabei ginge es nicht mehr „nur“ darum, bestehende Defizite zu beseitigen, sondern um ein „proaktives Handeln“ angesichts bereits absehbarer Herausforderungen. Wien habe sich ganz bewusst für dieses Thema entschieden und setzt damit genau dort an, wo die Stadt besonderes Know-how besitzt. Damit soll eine Sicherung leistbaren ‚sozialen‘ Wohnens garantiert und wesentlich zum Auf- bzw. Ausbau sozialer ‚inklusiver‘ Quartiere beigetragen werden. Der Begriff „Wohnquartier“ meint nicht nur (niedrige) Wohnkosten, sondern auch Freizeit, Spiel und Sport, Erholung, Natur, Kultur, Kommunikation, Mobilität etc. und damit die Sorge um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bisher wurde viel Zeit und Energie in Diskussionsprozesse investiert, die vorrangig einen ExpertInnenkreis und weniger eine breitere Öffentlichkeit einbezogen haben. Um aber die eigenen Anforderungen – Hineinwirken in das städtische Leben, in den Alltag von Stadt – erfüllen zu können, müssen verstärkt StadtbewohnerInnen und lokale AkteurInnen angesprochen werden. Das Establishment versucht damit den Anschein zu erwecken, Top-down und Bottom-up Methoden (harmonisch) miteinander zu verknüpfen und damit „Gemeinschaftliches“ zu schaffen.

Quartier – Zusätzliches Angebot
Vielerorts wird an Quartieren gearbeitet. „Selbstverortung, Begegnung, Inklusion, Lernzusammenhang – in der aktuellen Diskussion um die Zukunft des Sozialen in unseren Städten nimmt das Quartier eine Schlüsselrolle ein. Mitunter scheint es so, als gäbe es hier einen universellen Problemlöser, der quasi aus sich heraus einen enormen sozialen Mehrwert produziert“  schreibt Marcus Menzl, Professor für Soziologie der gebauten Umwelt an der Technischen Hochschule Lübeck, und fragt nach den positiven Effekten, die dem Quartier aktuell zugeschrieben werden und den Herausforderungen, um dieses so zu gestalten, dass es den Erwartungen auch entspricht. Menzl fasst das Quartier, entlang des gegenwärtigen Diskurses, als Ort bzw. „Knotenpunkt“ des Alltags – als jenen Ort, an dem sich die alltäglichen Wegestränge einzelner Haushaltsmitglieder bündeln und in dessen Umfeld im Idealfall viele ihrer Aktivitäten abgebildet werden können. Das setzt die Überzeugung voraus, dass inzwischen der Anspruch an den eigenen Wohnort ein anderer ist und dort nicht nur Platz für familiären Rückzug, ungestörte Erholung und Reproduktion der Arbeitskraft anzutreffen, sondern vielmehr eine kleinräumige Überlagerung von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Spielen, Erholen und Begegnen vorzufinden, erwartet wird. Wie dabei praktisch auf eine längere Sicht Homogenität vermieden und Diversität gefördert werden kann, bleibt undeutlich.

Freude schöner Worte
Nach genauer Durchsicht städtebaulicher Entwürfe in Bezug auf die Errichtung von Quartieren, drängt sich ganz besonders eine Frage auf: Wer möchte denn wirklich in einer „rund um die Uhr funktionierenden Stadtmaschine“ (vgl. Walter Siebel, Die Kultur der Stadt, 2015) leben; einer Inszenierung, die – allen guten Vorsätzen zum Trotz – auf einer Spielwiese von InvestorInnen aufgezogen wurde, regelkonformer „Stadtplanung“ entspricht und damit ein solch hohes Maß an Künstlichkeit aufweist, dass ein Wohlfühlen darin undenkbar scheint. Ganz offenbar besteht aber genau darin ein Bedarf – nach einem Angebot an kurzen Wegen zu Infrastrukturen, Versorgungsangeboten und Dienstleistungen, um damit sogenannten „anspruchsvollen Lebensentwürfen“ zum Erfolg zu verhelfen.
Eine weitere Bedeutungszuschreibung, nach Menzl, ergibt sich daraus, dass das Wohnen insbesondere für urbane Mittelschichts-Haushalte zu einer „Quelle spätmoderner Identität avanciert“ ist, der Wohnort für viele Individuen als „Ort performativer Selbstverwirklichung“ gilt (vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017). Die längst zum stadtpolitischen Standard gewordene Umsetzung von sozialer Durchmischung verspricht, zumindest in der Theorie, eine gleichmäßigere Verteilung der unterschiedlichen sozialen und ethnischen Milieus über das Stadtgebiet und damit die Vermeidung von stark segregierten Stadtquartieren. Dass die Alltagswirklichkeit diese „Ideale“ kaum einlöst, ist tagtäglich zu erfahren. Dass sich Stadt – in solchen Dimensionen – nicht so einfach am Reißbrett planen lässt, ist sicher. Quartiere erscheinen demnach inselgleich als „Städte“ in der Stadt, die sich in den Organismus eines größeren Zusammenhangs auf „gewaltsame“ Weise einnisten, um – der Zeit sei Dank – irgendwann als Teil davon wahrgenommen zu werden. 

Im Widerspruch stehen
Unter dem Stichwort der Inklusion bemühen sich soziale Träger darum, Menschen mit Zugangsschwierigkeiten zum Wohnungsmarkt möglichst dezentral in den Quartieren unterzubringen, in der Erwartung, dort einen geeigneten Einbettungs- und normativen Lernkontext für ihre Klientel vorzufinden. In klarem Kontrast zu der Bedeutungszuschreibung der sozialen Integration steht eine Tendenz, die von manchen StadtbewohnerInnen als Erwartung formuliert wird: die Tendenz, insbesondere im nahräumlichen Kontext eine soziale Homogenisierung zu betreiben. Sichtbar wird dies beispielsweise in der starken Nachfrage nach konstruierten Nachbarschaften (Baugemeinschaften, Öko-Dörfer, exklusive Wohnanlagen etc.), die gezielt bestimmte soziale Milieus ansprechen, aber etwa auch durch schleichenden Homogenisierungs- und Genrifizierungsprozesse in (angesagten) innenstadtnahen Stadtquartieren. Quartiere tendieren demnach nicht nur aufgrund von Marktprozessen dazu, soziale Homogenität auszubilden, sondern auch aus dem Antrieb der StadtbewohnerInnen heraus. Unfreiwillige und durch „rigorose Planung erzwungene Mischung“ (vgl. Hans Paul Bahrdt, Humaner Städtebau, 1968) kann zu Spannungen oder der Errichtung künstlicher Schranken im Nahbereich führen. Und sie wird auch nicht von Dauer sein, da die BewohnerInnen die erste Gelegenheit ergreifen werden, „sich wieder auseinander zu sortieren“. Menzl betont das „Commoning“, um zu einer kollektiven Gestaltungsverantwortung für das Gemeinsame, für das Quartier, zu kommen. D.h. in selbstorganisierten Bemühungen, Regeln und Positionen zu definieren, wie mit gemeinsam genutzten Ressourcen umgegangen werden soll und was jeweils im Interesse des Gemeinwohls ist. Die Frage bleibt, wie sich ein derartiges Vorhaben auf die „übriggebliebe“ Stadt auswirkt und welchen Nutzen sie davon hat. 

„Soziale Stadt“?
Was ein solches finanzielles Mammutprojekt wie ein Quartier „sozial“ macht, erklärt Uli Hellweg, freier Planer und Kommunalberater, anhand des geltenden Begriffsverständnisses. „Der Begriff des ‚Sozialen’ wird in der stadtpolitischen Debatte gegenwärtig von zwei Aspekten dominiert: vom wohnungspolitischen, im Sinne von ‚preiswert‘, ‚bezahlbar‘, ‚leistbar‘ (z. B. ‚sozialer Wohnungsbau‘) und vom stadterneuerungspolitischen, verstanden als Aufwertung sozioökonomisch benachteiligter Stadtquartiere (z. B. Städtebauförderung Soziale Stadt).“ Er hebt damit die Tendenz hervor, dass bei einem solchen Begriffsverständnis der eigentlich gesellschaftliche Charakter des Sozialen verloren gehe – so, als hätten die nicht-benachteiligten, also die bevorteilten und wohlhabenden Quartiere keine sozioöknonomische Identität –, von einer sozialen Verantwortung ganz zu schweigen. „Der vielbeschworene ‚gesellschaftliche Zusammenhalt‘ in unseren Städten nimmt auch deswegen ab, weil sich die wohlhabenden Viertel eben nicht als ‚soziale Quartiere‘ verstehen, sondern – wie man vielen Hochglanzbroschüren entnehmen kann – als im wahrsten Sinne ‚exklusiv‘. Dieser ‚Exklusivität‘ steht die Exklusion in den benachteiligten Quartieren gegenüber.“ In den Städten bilden sich zunehmend einseitige Sozialstrukturen heraus und Quartiere tragen wesentlich dazu bei, dass sich die „Communities“ zu „destruktiven Gemeinschaften“ entwickeln (vgl. Richard Sennett, Destructive Gemeinschaft, in: The Partisan Review, 1976), die den Gegenpol von urbaner Gesellschaft bilden.

Fiktive Stadtgemeinschaft(en)
Angesichts des Trends und dessen Rentabilität, wird im Kontext der Stadt-Quartiers-Entwicklung verlässlich darauf vergessen, Grund- und Bodenspekulation vonseiten der Politik zu unterbinden, Instrumente des Baugesetzbuches entschieden, koordiniert und vorausschauend zur Anwendung zu bringen und damit das Bau- und Planungsrecht in der Tat „sozial“ einzusetzen. Außerdem wird „anderen“ Ideen in diesem Transformationsprozess kaum Vertrauen, den leerstehenden Wohnräumen wie auch den sich leerenden Erdgeschoßzonen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie auch alternative Wohn- und Bauformen unwesentlich forciert.
Für nonkonformistische Alternativen soll und muss aber in einer diversen Gesellschaft Platz zur Verfügung gestellt werden – Grund und Boden dafür reserviert sein! Bestehende Ressourcen dürfen gegenüber Neubauprojekten keine nachrangige Stellung haben und die Frage, ob die sich in Mikrowohnungen verteilende(n) Mikrogesellschaft(en) wirklich jene (utopistische) Vision für eine zukünftige Stadt darstellt, die wir realisieren wollen, ist dringlichst zu beantworten.

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Buch
IBA_Wien 2022 / future.lab (Hg.):
Neues soziales Wohnen. Positionen zur IBA_Wien 2022
Jovis 2020, 256 Seiten, ca. 35 Euro

Ausstellung
Wie wohnen wir morgen?

WEST, 7., Stollgasse 17
8
online zu sehen
siehe Link > iba-wien.at

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