03/08/2016

Das 2014 präsentierte österreichische „Weißbuch Innenstadt“, beauftragt und finanziert durch den Steirischen Städtebund, den Österreichischen Städtebund, die Steiermärkische Landesregierung und die steirische Wirtschaftskammer, beschäftigt sich mit der Ortskernbelebung von Klein- und Mittelstädten.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen des GAT-Schwerpunkts Raumplanung.

03/08/2016
©: TU Graz - Institut für Wohnbau

„Baukultur ist ein permanenter Prozess, der von der gesamten Gesellschaft laufend aktiv weiterentwickelt werden muss. Die Politik ist gefordert, dafür geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.“
Landtagsenquete „Baukultur in der Steiermark“,  Mai 2014

Die Themen der steirischen Landtagsenquete 2014 waren Zentren stärken, Räume gestalten und Kreativität und Nachhaltigkeit einfordern – Grundsätze, zu denen man sich gern und leicht bekennen kann, weil sie auf das Paradoxon der sich leerenden Ortszentren bei gleichzeitig wachsender Zersiedelung zu reagieren versuchen.

Wie sieht es aber mit der Umsetzung aus? Um der Zersiedelung entgegenzuwirken, ist es vielerorts in der Steiermark bereits zu spät. Hier hieße Rückbau und/oder Abbruch beziehungsweise Renaturierung die Antwort, die keiner hören will. 

Zur Abwechslung könnte man also versuchen, nicht gegen etwas zu kämpfen – meist aussichtslos – sondern für etwas: Zentren zu stärken ist deshalb angesichts der derzeitigen demografischen Entwicklung ein sinnvolles Ziel zur Erhaltung und Förderung auch der sozialen Qualitäten einer Gemeinde, aber auch hier gilt es, einige Fragen zu überdenken.

Falls Menschen lieber in die Einkaufszentren vor Ort fahren – und selbst sehr kleine Orte außerhalb der Ballungszentren tendieren mittlerweile zur Errichtung solcher Shoppingmalls, weil der „Neue Mensch“ sich nur auf vier Rädern zuhause fühlt – wenn sie also einen Parkplatz ergattert haben und dort inmitten einer fensterlosen Umwelt ihr Glück (oder nur bargeldloses Vergessen) finden, ist das ihre freie Entscheidung? Wie könnte und warum sollte man sie zu zu-Fuß-gehenden InnenstadtbewohnerInnen „umerziehen“? Ist das nicht auch eine Form von Zwangsbeglückung, geboren aus dem verzweifelten Wunsch von landschaftspflegerisch gebildeten Gutmenschen, meilenweit vorbei an der Realität? (1)

Ein lebendiges Stadt- oder Gemeindezentrum ist abhängig von den BewohnerInnen, von der Art des Handels, vom Verkehr, von den Begegnungen, die sich hier abspielen und nicht zuletzt anscheinend vom spezifischen „Geruch“(2) des Ortes. Die beste Architektur, das wunderbarste Baudenkmal wird diese Tatsache nicht ändern können. Vor allem dann nicht, wenn sie von der (Raumplanungs-)politik nicht (oder zu wenig) unterstützt oder gar zerstört wird, wenn die BürgermeisterInnen mit ihren Entscheidungen alleine dastehen, wenn Konzerne den Gemeinden (parkplatzsichere!) Standorte außerhalb der Kernzonen abpressen und wenn ArchitektInnen nicht hartnäckig darauf drängen, gemeinsam mit ÖkonomInnen, SoziologInnen, KulturanthropologInnen und vor allem den ExpertInnen vor Ort, den BewohnerInnen, ein interdisziplinäres Programm zu entwickeln, und stattdessen glauben, alleinige (Gestaltungs-)HeilsbringerInnen zu sein.

Einen solchen integrativen Versuch, oder zumindest einer Art Handlungsanweisung zu einer solchen Vorgehensweise, stellt die deutsche Studie „Weißbuch Innenstadt“ dar, die 2011 in Berlin und Bonn veröffentlicht wurde. Aus einem halbjährigen diskursiven Prozess mit innerstädtischen AkteurInnen, Kommunen, Ländern, Kammern, Vereinen, WissenschaftlerInnen wurden sozusagen Quintessenzen gezogen. Allerdings bilden die Betrachtungspunkte von deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten sowie Ortszentren ein sehr breites Spektrum ab, und die Studie landet wohl auch deshalb ein wenig im Beliebigen. 

Die Schere zwischen Ballungszentren und kleinen Orten driftet auseinander, wie man in der Steiermark sehen kann: Graz und Leoben wachsen, während viele Gemeinden in der Obersteiermark merklich ausdünnen oder zu reinen peripheren Übernachtungs-Zer-Siedelungen um ehemalige, immer mehr verfallende Zentren werden, die von Leerstand geprägt sind. Es ist nicht das Gleiche, ob man in der Grazer Murgasse inmitten einer boomenden City nach NachmieterInnen für einen Leerstand sucht, oder ob das z.B. in Eisenerz passiert – die Voraussetzungen in einer wachsenden Großstadt und einer „Stadt, die gegen das Verschwinden ankämpft“(3),  sind gänzlich verschieden, nur die Notwendigkeit einer schnellen Reaktion wäre dieselbe.

Das 2014 präsentierte österreichische „Weißbuch Innenstadt“, beauftragt und finanziert durch den Steirischen Städtebund, den Österreichischen Städtebund, die Steiermärkische Landesregierung und die steirische Wirtschaftskammer, reagiert fokussierter auf die (ortskern-)zentralen Probleme von Klein- und Mittelstädten.

Ein Jahr lang wurden drei steirische „Laborgemeinden“, Bruck an der Mur, Hartberg und Bad Radkersburg, von dem interdisziplinären Projektteam sixpack+, bestehend aus Regional-, Raum- Verkehrs- und LandschaftsplanerInnen, ArchitektInnen und SoziologInnen sowie Marketing- und KommunikationsexpertInnen, intensiv analysiert und auch vergleichend betrachtet.

Die im Vorfeld grob definierten Handlungsfelder Wohnen, Öffentlicher Raum, Verkehr, Leerstände, Jugend & Generationen, Positionierung und Marketing wurden untersucht, wobei sich einige dieser Felder naturgemäß überschneiden – schließlich wohnt man ja auch im öffentlichen Raum, Verkehr gründet und findet Stadt, Leerstand ist schlecht fürs Marketing usw. Gerade durch die Kategorisierung rücken aber auch diese wesentlichen Wechselwirkungen in den Blickpunkt: Für die Jugend macht es in der Frage „gehen oder bleiben“ sicher einen Unterschied, ob eine Stadt „cool rüberkommt“, was wiederum von der eigenen Positionierung abhängt, die auch vom Stadtmarketing kommuniziert wird.

44 recht konkrete und detaillierte Handlungsempfehlungen, die von der raumplanerischen Ebene über Leerstandsmanagement, Revitalisierungsmaßnahmen, Wohnort und Lebensraum Innenstadt,  bis hin zur Erzeugung von Raumbildern und Mobilitätskonzepten reichen, werden ergänzt durch Best-Practice-Beispiele und durch einen interdisziplinär fundierten Vergleich der drei untersuchten Städte. Deutlich spürbar wird im Weißbuch Innenstadt auch der Zeitrahmen von einem Jahr, der diesem Projekt gegönnt wurde: Um einen Ort und seine EinwohnerInnen wirklich kennenzulernen, braucht es Zeit. Ein Dreitage-Workshop kann – mit entsprechender Vor- und Nacharbeit – Impulse für ein bestimmtes, bereits im Vorfeld klar umrissenes Ziel geben, aber keine reflektierte Strategie oder umfassende Begleitung für ein haltbares integratives Konzept sein.

Ein bereits prämiertes spin-off des Weißbuches erfolgte durch die Arbeit: Dorf 2.0_von der Leere bis zur Fülle, einem Gemeinschaftsprojekt von Mag. Rainer Rosegger (SCAN) und DI Werner Nussmüller (Nussmüller Architekten), die bereits dem Projektteam des Weißbuches angehörten. Für die Marktgemeinde Wildon und die Stadtgemeinde Rottenmann wurden nachhaltigkeitsorientierte Maßnahmen und Instrumente für eine integrierte Entwicklung leerstehender Bausubstanz entwickelt und teilweise bereits umgesetzt. Besonderes Augenmerk wurde auch auf die Aktivierung interessierter BürgerInnen und Schlüsselpersonen gelegt – Impulse kann man von außen setzen, aber langfristige Maßnahmen brauchen engagierte BürgerInnen vor Ort, die sie tragen und weiterentwickeln, dieser Erfahrung aus dem „Weißbuch“ wurde auch im „Dorf 2.0“ Folge geleistet.  Eine weitere wichtige, wenn auch nicht neue, Erkenntnis ist, dass bei der Dorf- und Raumentwicklung über die Legislaturperiode (und über die Gemeindegrenze!) hinausgedacht werden muss.

Es gibt also genügend Handlungsansätze, um mit den derzeit akuten Problemlagen Schrumpfung, Leerstand, Zersiedelung intelligent umzugehen?

Bei einer gutbesuchten Diskussion zum Thema „Weißbuch Innenstadt“ im HDA am 19.05.2016 war deshalb die Kernfrage, warum die realpolitische Welt – im wahrsten Sinn des Wortes – immer noch unverändert anders aussieht:

Da bestimmt immer noch der Großkonzern, ob er den kleinen, innerstädtischen Dorfmarkt in ein Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt „verwandelt“, RaumplanerInnen sehen sich als AuftragnehmerInnen der Gemeinden, nicht als qualifizierte fachliche BeraterInnen, die Menschen siedeln immer noch lieber im (von begeisterten ArchitektInnen geplanten?) Einfamilienhaus weit draußen, „energieautark“, aber von Erschließungsleistungen abhängig, die wiederum Gemeinde und Bund bezahlen müssen, den WählerInnen verpflichtete BürgermeisterInnen müssen diese und andere folgenschwere raumpolitische Entscheidungen verantworten... und die Ortszentren und Innenstädte sterben munter weiter vor sich hin.


(1) Interessanterweise geht die Zunahme des Internethandels weniger zu Lasten der Innenstädte als zu Lasten der shopping malls vor den Toren. www besiegt bmw?
(2) „flair“: ursprünglich aus dem Französischen: „Gespür, Witterung“
(3) Siehe http://derstandard.at/1336698242393/Landflucht-Eisenerz-Wie-ein-Ort-gege..., abgerufen am 03.07.2016

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