22/03/2022

Die Welt von gestern – heute Morgen

Die Welt ist erschüttert. Nach zwei Jahren Corona-Krise annektiert nun Russlands Wladimir Putin die Ukraine. Neben den menschlichen Dramen, die durch den Krieg entstehen, müssen wir auch feststellen, wie abhängig wir wirtschaftlich von Russland sind und wie wenig sich bisher hinsichtlich erneuerbarer Energien bewegt hat. Wir wollen weiterleben wie bisher, aber gleichzeitig den Planeten für zukünftige Generationen retten. Wir sind ein wandelnder Widerspruch.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

22/03/2022

von dir träume ich nicht mehr

©: Severin Hirsch

Die Welt von gestern – heute Morgen

„Sie faßten Entschlüsse, an denen man nicht teilhatte, und die man im einzelnen nicht erfuhr, und bestimmten damit doch endgültig über mein eigenes Leben und das jedes anderen in Europa. In ihren Händen und nicht in meinen eigenen lag jetzt mein Geschick. Sie zerstörten oder schonten uns Machtlose, sie ließen Freiheit oder zwangen in Knechtschaft, sie bestimmten für Millionen Krieg oder Frieden. Und da saß ich wie alle die andern in meinem Zimmer, wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke, indes es auf Tod und Leben ging, um mein innerstes Ich und meine Zukunft, um die in meinem Gehirn werdenden Gedanken, die geborenen und ungeborenen Pläne, mein Wachen und meinen Schlaf, meinen Willen, meinen Besitz, mein ganzes Sein. Da saß man und harrte und starrte ins Leere wie ein Verurteilter in seiner Zelle, eingemauert, eingekettet in dieses sinnlose, kraftlose Warten und Warten, und die Mitgefangenen rechts und links fragten und rieten und schwätzten, als ob irgendeiner von uns wüßte oder wissen könnte, wie und was man über uns verfügte.“ (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Göttingen 2018. S. 302.)

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Windischbühel, 31. August 2039

Früher war alles besser 
Früher war alles gut 
Da hielten alle noch zusammen 
Die Bewegung hatte noch Wut 

Früher, hör auf mit früher 
Ich will es nicht mehr hören 
Denn damals war es auch nicht anders 
Mich kann das alles nicht stören

(Die Toten Hosen, Wort zum Sonntag. Album: Damenwahl. Veröffentlicht: 1986.)

Früher war ja natürlich auch nicht alles gut. Aber es war besser. Und es war anders. Wir konnten uns frei bewegen, auf Urlaub fahren, ausgehen, uns mit Leuten treffen. Es gab die Freiheit, wählen zu können, zwischen politischen Parteien oder beruflichen Möglichkeiten. Wir durften unsere Meinung sagen und jederzeit unsere Behausung verlassen. Ich schreibe dies als mein Vermächtnis nieder, um künftigen Generationen eine Orientierungshilfe zu hinterlassen, damit sie überhaupt eine Ahnung davon bekommen, wie es sich leben ließe und wofür es sich noch zu kämpfen lohnt. 

Die Misere nahm – maskiert als Corona-Pandemie – in den frühen 20-ern ihren Lauf, beinahe als Paralleluniversum zum vorigen Jahrhundert. Damals wurde von einem lebensbedrohlichen bis tödlichen Virus aus China erzählt, das sich rasant und flächendeckend über den Globus verbreite. Als erste Konsequenz mussten Individuen (und Familien) sozial isoliert werden, um die Vehemenz der Ausbreitung einzudämmen, was in weiterer Folge dazu führte, dass sich – wo und wenn möglich – auch die Arbeits- und Ausbildungsplätze ins eigene Heim verlagerten. Dadurch hielt eine Erweiterung von Kontrollmechanismen und -instanzen im Privatbereich Einzug. Nachdem nicht-überlebensnotwendige Geschäfte temporär und immer wieder geschlossen wurden, die individuellen Konsumbedürfnisse sich beinahe ausschließlich ins Internet verlagerten, der Lebensmittelhandel den Wunsch nach bargeldloser Bezahlung äußerte, wurden wir Menschen, unsere Handlungen, unsere Haltungen immer transparenter und durchschaubarer und Geheimnisse, die nicht öffentlich werden sollten, immer schwerer zu verbergen – das Ideal einer anonyme Masse bestehend aus berechenbaren, prognostizierbaren Individuen. Letzten Endes traf diese Entwicklung einer erweiterten Kontroll- und Überwachungsstruktur nicht nur die Normalbürger und –bürgerinnen, sondern auch Menschen des öffentlichen Lebens und der Politik mussten für ihre Machenschaften bürgen, was einen weiteren Verfall der Glaubwürdigkeit in der Politik nach sich zog. Der Ruf nach authentischen, starken, aufrichtigen Menschen im politischen Leben wurde lauter und auf dem gut aufbereiteten Nährboden erwuchsen Autokraten und Despoten, die Verfassungen und Rechtssysteme bogen, um Legitimationen für ihre politischen Handlungen zu erlangen.

Nachdem Europa – bis auf den erschütternden Jugoslawienkrieg – seit 1945 ausufernde Kampfhandlungen auf eigenem Territorium erspart blieben, das Bild eines Krieges aus den Köpfen verschwamm, haben die Leute mehr Sorge um ihr Erspartes gehabt, als es als den Überfluss zu erachten, an dem es anderen mangelt. Das Vermögen zu teilen, wurde zum Vermögen, das bewahrt und vermehrt werden müsse. Lieber eine Wohnung, ein Haus, eine Firma, ein Konto zu viel als einen Menschen mit Migrationshintergrund. Die eigene Sicherheit geht schließlich vor, da fährt der SUV drüber. Als aber der russische Präsident Wladimir Putin, einer jener Eisenbieger autokratischen Herrschaftsstils, wie die Apokalypse über die Ukraine hereinbrach, erschütterte es auch die letzten verbleibenden Grundfesten europäischer Sicherheiten. Wer von uns Menschen sozialromantischen Gedankenguts damals vielleicht dachte, die Pandemie könne uns die wunden Punkte sozio-ökonomischen Zusammenlebens aufzeigen und Mitgefühl und ökologisches Umdenken lehren, wurde schnell eines Besseren belehrt. Die ökonomische Falle schlug wieder zu, die Abhängigkeiten wurden noch deutlicher. Kaum Spuren von Reformismusgedanken oder längst überfälligen Einschränkungen der Ökologie zuliebe, das Werk musste bis an die Grenzen seiner Tragfähigkeit am Leben erhalten werden. Zuerst musste aufgrund der Pandemie die Pharma-Lobby gestützt und gestärkt werden, dann kriegsbedingt die Waffen-Lobby. Profite durch Elend, für irgendwen muss es sich ja auszahlen. Ausgezahlt hat zuerst der Staat, dann wir Menschen. Die explosionsartigen Preisanstiege bei Rohstoffen und vor allem fossilen Brennstoffen übertrugen sich aufgrund erhöhter Transportkosten weiter auf Lebensmittel und alle übrigen Konsumgüter, was bedingt durch Trockenheit und Erderwärmung, durch wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Kriegstreibenden und der galoppierenden Inflation zu Engpässen in allen Lebensbereichen und in den ärmsten Gegenden dieses Planeten zu Hungersnöten führte, die – neben den Kriegsflüchtlingen - eine weitere Massenmigrationsbewegung zur Folge hatten. Nach der privaten Depression folgte die wirtschaftliche. Als schließlich, bestärkt durch die russischen Annexionsbestrebungen, Milorad Dodik den Traum einer unabhängigen Republika Srpska in Bosnien vorantrieb und Serbien seine Territorialansprüche im Nord-Kosovo gewaltsam geltend machte, war die Gesamtdestabilisierung Europas vollbracht. Kollabierende Staaten mit kollabierenden Sozialsystemen und kollabierte Staatenbündnisse wichen Diktaturen und Zweckbündnissen von Hyper-Konzernen. Das Schicksal der Welt liegt nun offenkundig in den Händen weniger. China ist lächelnder Dritter, es war schon seit jeher auf den Ausnahmezustand eingerichtet.

Ich habe die letzten Jahre in Abgeschiedenheit von dem zivilisatorischen Relikt, fernab der zivilisatorischen Errungenschaften wie Elektrizität und Internet in einer verlassenen Hütte im Wald verbracht. Die menschlichen Begegnungen sind rar geworden, aber im Gegensatz zu dem, was sich Zivilisation nennt, persönlich. Der Großteil der Menschheit arbeitet zuhause in sozialer Isolation in und/oder an der Weiterentwicklung der virtuellen Welt. Wir sind selbst zu Immobilien geworden, in die man investieren und die man verkaufen kann. Ob der Grund unserer aufoktroyierten Immobilität und Isolation in der Klimakatastrophe, in Kriegen, in unerschwinglichen Rohstoffpreisen oder mangelnden Rohstoffen, in Armut, in Pandemien oder schlicht und einfach in Verordnungen liegt, ist unerheblich. Einem auserwählten Kreis wird die Welt immer offenstehen. Ich bin nun über 60 und kinderlos. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von gesellschaftlichem Wohlstand, einem gut ausgebauten Werte- und Sozialsystem, von gesellschaftlichen Idealen und politischen Visionen, von Diversität und Meinungsfreiheit, von Frieden, von Selbstverwirklichung, (gewaltlosen) politischen Umwälzungen, einer druckfreien Entwicklung. Die Zukunft stand (vielen von) uns offen, die Welt hätte alles Mögliche werden können. Diese Welt ist eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die niemand jemals in Erwägung gezogen hätte, an deren Verwirklichung niemand jemals gearbeitet hätte, aber deren Entwicklung niemand verhindert hat. Die Vorzeichen dafür gab es schon vor über 50 Jahren, aber damals war der Zeitpunkt ungünstig, das wirtschaftliche Wachstum nicht auszunutzen, um persönlich davon zu profitieren. Wir waren selbst Privilegierte, die dem Materialismus anheimfielen, anstatt den idealistischen Zeitgeist zum Weltgeist zu erheben. Wir haben versagt. Diese Welt ist unsere. Es gibt keine Entschuldigung, die unseren Egoismus und unsere Untätigkeit vor den nächsten Generationen rechtfertigen kann.

Heute Morgen erreichte mich die Meldung, dass einem Versuchslabor ein Virus entwich, das sich bei einer Kreuzung mit Covid-Antikörpern als tödlich erweist. Es war ein Unfall. Niemand weiß, was passieren wird, niemand weiß, was morgen ist. Diese Welt war ein Unfall. 

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