12/07/2022

Wolkenschaufler_60

Gedanken über virtuelle Optionen und das Funktionieren einer parallelen Welt.
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Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

12/07/2022
©: Zita Oberwalder

Second Life, die seit 2003 begehbare virtuelle Welt, gibt es noch. Ab 1999 von der Firma Linden Lab in San Francisco entwickelt, wollte der Unternehmer Philip Rosedale ein „Metaversum“ generieren, wie es der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson 1992 in seinem Roman Snow Crash beschrieben hatte. Um sich in SL zu bewegen, kann man seinen Avatar gestalten, kann damit andere Avatare treffen, die andere wirkliche Personen verkörpern. Man kann Galerien besuchen, Grundstücke kaufen, Handel treiben. Man kann, und dazu wollte mich der 2016 verstorbene Medienkünstler Heribert Hirschmann motivieren (wenn nicht animieren), auch Geld in SL verdienen. Der Wolkenschaufler aber, Skeptiker von Natur, war nicht dafür zu gewinnen und so haben wir einander dort, in SL, auch nie getroffen. Wozu auch, denke ich immer noch, ist doch das eine, das richtige Leben lustig gleichermaßen wie be … scheiden genug. Ich erinnere mich, dass Heribert im damals noch bestehenden Medienkunstlabor am Kunsthaus Graz eine Ausstellung hatte, die zugleich im Ausstellungsraum (Eisernes Haus) und in dieser virtuellen Welt stattfand. In SL hatte er ein Grundstückchen konstruiert, das man als besuchender Avatar hätte erkunden sollen. Rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung aber hatte ein anderer Künstler aus Graz (dessen Name uns bekannt ist) den virtuellen Zugang raffiniert verbaut und virtuell blickte man auf eine Mauer, hinter der sich angeblich Hirschmanns Kunstwerk befand. Dieser Zustand war bis zum Ende der Ausstellung auch nicht zu korrigieren.
Eine Art Parallelerlebnis ähnlicher Qualität widerfuhr mir etwa zu dieser Zeit, als mir Emil Gruber einen Kaufvertrag – oder war es eine Urkunde? – zeigte, der/die ihn als Eigentümer eines Grundstücks auf dem Mond auswies. Kein Witz! Emil hatte sich auf wahrscheinlich krudem und windigem Weg um ein paar Tausend Schilling ein Latifundium auf dem Erdtrabanten gekauft. Schulterzucken war seine Reaktion auf meine Frage, wozu eigentlich. Nachdem auch Emil im Vorjahr verstorben und seine Witwe Erbin aller Verlassenschaft ist, stelle ich es mir einigermaßen schwierig vor, Rechtsnachfolge in der Sache zu beanspruchen. Nämlich bei wem?

Die Zeiten schreiten oder nach dem Nationalökonomen Uncle Bob: The Times They Are a-Changin‘. Das Wirtschaftsmodell Second Life wird wohl von Zuckerbergs, nun gleich Metaverse genanntem, vom Markt verdrängt werden, wenn auch ein aktueller Online-Artikel davon handelt, dass Mark seine Mitarbeiter:innen mit Metaverse „in den Wahnsinn“ triebe, weil viele nicht wüssten, woran sie eigentlich arbeiten sollen. Soweit mein geringes Verständnis reicht, ist das jetzt Meta genannte Para-Universum ein bestenfalls upgedatetes SL, in dem man, siehe oben, als Avatar undsoweiter … auch diverse Händel oder eben Hühner treiben kann. Verschiedene Realitäten und Räume des Meta wie Decentraland oder Cryptovoxels gehören inzwischen Unternehmen, bei denen man sich Avatare undsoweiter, s. o., kaufen kann oder beispielsweise den Abigail Feather Hat #2, den man seinem Avatar aufsetzen kann. Freilich auch Latifundien, Büros, Bars, Museen und Galerien können nach eigenem Ermessen, d.h. entsprechendem Investitionsvolumen, gestaltet und errichtet werden. Seit 2021, heißt es in diversen Online und Printartikeln, hat die Berliner Galerie König einen Schauraum auf Decentraland eröffnet. Mein Versuch, dorthin zu gelangen, gleicht dem Schaufeln von Wolken. Ich gelange zur Galerie König, wo etwa Werke von Erwin Wurm und der Roboterin Ai-Da nahezu wie im richtigen Geschäftsleben angeboten werden. Ich sehe den Verweis auf ein You-Tube-Video, in dem Manschgerln durch einen virtuellen Ausstellungsraum laufen. Ich selbst gelange dorthin aber nicht. Ein Musee Dezentral soll sich in Decentraland – also auf Meta – befinden. Dass es Meta sein soll, weiß ich aus der aktuellen Ausgabe (Juli 22) von art, dem Kunstmagazin, das mir nicht virtuell, sondern physisch vorliegt. Allein, auf der Eingangssituation https://musee-dezentral.com/museum gehe ich aber, nach Klick, meines Cursors verlustig. Das Bild dreht sich offenbar nach meinen Maus-Bewegungen und das Ding abzustellen, gelingt erst über den Task-Manager (Strg. Alt. Entf.). Nach abermaligem Versuch – nicht ins Startbild klicken! – lese ich schließlich von den Betreibern: „We are a Berlin-based team of Art“, also, „Wir sind ein in Berlin ansässiges Team von Kunst“. Das Team von Kunst, heißt es nach meiner Übersetzung weiter, „hat eine lange Geschichte in der Entwicklung von Metaverse-Projekten“ und bezeichnet sich als „Blockchain-Enthusiasten, die das weltweit erste, dezentrale NFT-Museum aufbauen“. NFTs, habe ich in einem früheren Wolkenschaufler schon einmal versucht zu beschreiben, sind Datenmengen mit Originalzertifikat, sogenannte Originale also gegenüber denselben (oder den gleichen?) Datenmengen ohne Zertifikat.

Wem nun soll ich meine Frage – wozu? – stellen, um ein freundliches Schulterzucken als Antwort zu erhalten? Freilich, it's the economy, stupid! Allerdings bin ich daran erinnert, dass ein Freund sich ein Grundstück auf dem Mond gekauft hat. Consumo ergo sum nach Zygmunt Bauman.

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