08/12/2020

Wolkenschaufler_41

Die Bevölkerung mit Lesematerial versorgen

.

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

.

Weitere monatlich erscheinende Kolumnen sind:

Aber Hallo!
, jeden 1. Dienstag
Schau doch!, jeden 3. Dienstag
zeitenweise, jeden 4. Dienstag
Schreyer Davids Monatsbriefe, jeden letzten Freitag im Monat

08/12/2020

Bücherbox Graz, Floßlendplatz

©: Emil Gruber

Die Bevölkerung mit Lesematerial versorgen

"And so it's moving day, moving day
Rip the carpet up off of the floor
Take your oil stove and out the door"
Moving Day (2009)
Loudon Wainwright III

Auf seinem Album High Wide & Handsome (ungefähr: voll dicht und fesch) singt Loudon Wainwright III unser Lied: Es ist der Tag auszuziehen, weil schon lange keine Miete mehr bezahlt wurde und bei den zwei Hühnern, die dem Vermieter zur Begleichung der Schuld angeboten werden, dürfte es sich um dieselben handeln, die dem Landlord gerade gestohlen worden waren.
Na ja, ganz entspricht die Situation ja nicht. Hier gibt es keine freilaufenden Hühner und wir haben auch die Miete stets pünktlich bezahlt. Dennoch ziehen wir, nach jetzt 22 Jahren, in eine andere Wohnung. Für meine Frau ist das in Graz die dritte Wohnung, für mich die sechste, was nicht zuletzt Indiz dafür sein mag, dass ich der ältere von uns beiden bin.

Nach 22 Jahren ist mir die Umzugsroutine abhanden gekommen. Bauchschmerzen bereitet mir aber nicht allein der Gedanke, wie wir unser ganzes Zeug an den anderen Ort schaffen werden. Kopf- und Bauchschmerzen bereitet uns vor allem der sich in den letzten zwei Jahren hier ausbreitende Geruch von sogenannten Raumdiffusern, die in den Nachbarwohnungen „für angenehmes Raumklima“ sorgen. Irgendwelche (Kunst-)Harzlösungen werden per Wasserdampf in den Räumen verteilt und riechen dort angeblich nach Vanille oder Zimt oder wasweißich. In unserer Wohnung dagegen riecht das Zeug, das über die Fassade und durch die geschlossenen Fenster kriecht, je nach Wetterlage nach Klebstoff, Nitroverdünnung oder Teer. Ich vermute, dass wir die quasi destillierten Lösungsmittel der Duftmischungen abbekommen, die uns Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, bitteren Geschmack und Schleimhautprobleme bereiten. Das Zeug setzt sich inzwischen in Kleiderschränken und unseren Computerlüftungen ab, bildet ölige Schichten auf Türen und Fensterscheiben, innen wie außen. Alle Versuche, den Betreibern solcher frei im Handel erhältlichen Vergiftungsmaschinen unsere Situation zu vermitteln, stoßen weiterhin auf Unverständnis. Nachfragen im Gesundheitsamt der Stadt und im Umweltamt des Landes führten jeweils zur Empfehlung, ich könnte ja einen Sachverständigen aus dem Haus der Baubiologie engagieren. Der nämlich würde gegen Honorar eine Messung vornehmen, mit der man eventuell Schadstoffe nachweisen könnte. Und dann, so meine Frage, schicke ich das Erkenntnis ans Salzamt? Bevor uns – es könnte allerdings bereits der Fall sein – bleibender gesundheitlicher Schaden entsteht, werden wir also weichen.

Jetzt aber, und hinsichtlich der verlorenen Routine, geht es darum, Ballast abzuwerfen, um binnen Monatsfrist, während der zwei Wohnungen gemietet sind, rüberzumachen, als stünde irgendwo eine Mauer zwischen der alten und der neuen Wohnung.Wir bringen beispielsweise Kleidung, die wir vielleicht, vielleicht irgendwann doch noch getragen hätten, in die einschlägigen Container. Neben der Frage, wann ich – während des Umzugs möglichst, weil eigentlich Voraussetzung, honorierte Arbeit leisten zu können –, wann ich also wieder ans Internet kommen werde oder ob es mich gar verlieren wird, stellt sich das Problem, wie sollen wir möglichst viele von in mehrfachem Sinn geschätzten 4000 Büchern an den anderen Ort bringen. Was also zuerst tun, um die neue Wohnung ohne Regale nicht mit Stapeln vollzustellen, die keinen Platz lassen, sich einzurichten? Wir nutzen die Nachfolger eines Kunstwerks des New Yorker Duos Clegg & Guttman! Deren offene Bibliothek, The Open Public Library, wurde (nach bestem Wissen) erstmals 1991 in Graz in der Reininghausstraße, dem Grillweg und der Triester Straße eingerichtet, als „Modell für eine direkte demokratische Institution“ und um „die Bevölkerung mit Lesematerial zu versorgen“ (1). Aus dem damaligen Kunstwerk wurde ein inzwischen weltweit praktiziertes Modell, Bücher über im Stadtraum verteilte Regale auszutauschen.
Wir bestücken also Bücherregale nach dem Muster wohl nie wieder selbst zu tragender Kleidung. Und ganz ähnlich steht man immer wieder vor dem Problem, werde ich, sagen wir, Laurent Binets Die siebte Sprachfunktion denn je noch einmal lesen? Aber Bücher haben ja nicht nur die kommunikative Funktion des gedanklichen Austausches zwischen AutorIn und LeserIn. Praktischerweise isolieren Bücher nämlich auch: physisch als Klimapuffer, weil Papier einen geringen Wärmeleitwert hat und sozial, weil man während des Lesens zumeist nicht mit den penetranten Vorlieben seiner Nachbarn beschäftigt sein sollte. Im Fall der Raumdiffuser aber funktioniert die isolierende Qualität der Bücher nicht.
Und während wir also die offenen Bücherregale zuladen, fällt mir auch noch – Matsch im Kopf, dem Geruch von Klebstoff geschuldet –, neben den Übersiedelungskonflikten, ein regallogistisches Manko ein: Wenn wir die Regale mit fragwürdiger Fachliteratur wie Die Technik der Malerei von einem tatsächlich nur als L. Losos genannten Autor (oder Autorin?) befüllen, mit Kochbüchern aus dem Maggi-Verlag und ähnlichem – wer wird, interessiert oder nicht, dieses Material wieder aus den Regalen nehmen, um Platz für „Literatur“ zu schaffen? Den Gedanken ausgeführt, müsste zusehends eine Art entropischer Verklausung in den offenen Bücherregalen zu beobachten sein, nach der schließlich stehen bleibt, was niemand wollen kann. Und damit hätte sich das Prinzip des Bücheraustausches erledigt.
Laudanum (Bestandteil der bekannten Räuchermischung Kyphi) und Loudon Wainwright III können eventuell aus der Krise helfen.

(1) http://offsite.kulturserver-graz.at/projekte/242

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+