28/02/2012
28/02/2012

Wohnhaus Liebiggasse 9, Graz, Bestand. Planung: Arch. Herbert Eichholzer, 1934. Fotoquelle: AGIS 2002

Wohnhaus Liebiggasse 9, Graz, nach dem Um- und Ausbau, 2010 (Blick von der Liebiggasse). Planung: Arch.in Marion Wicher. Foto: Michael Lahnsteiner

Wohnhaus Liebiggasse 9, Graz, nach dem Um- und Ausbau, 2010 (Rückansicht). Planung: Arch.in Marion Wicher. Foto: Michael Lahnsteiner

Wohnhaus Liebiggasse 9, Graz, nach dem Um- und Ausbau, 2010. Planung: Arch.in Marion Wicher. das Bild zeigt den Hauseingang mit einem Blick verstellenden neuen Briefkasten, der auch als Gedenktafel dient. Foto: Michael Lahnsteiner

Gegenüberstellung Alt (li) und Neu (re), Luftbild. Fotoquelle: google maps / bing

Gegenüberstellung Alt (li) und Neu (re), Luftbild. Fotoquelle: google maps / bing

„Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen, ist teuflisch.“
(Cicero)

Herbert Eichholzer (1903–1943) gehört nicht zu jenen Architekten, die durch ein umfangreiches Œuvre in Erscheinung treten. Er war kein Architekt, der die reine Ästhetik proklamierte, sondern einen Architekturansatz des ganzheitlichen Sehens. „Trotz seiner überzeugten Modernität gehörte Eichholzer nicht zu jenen Architekten, die die Theorie der Tabula rasa, des totalen Bruchs mit dem Überlieferten vertraten, um eine ihrer Zeit entsprechende Architektur entwickeln zu können. Im Gegenteil: Die Tradition hatte große Bedeutung für ihn, er fühlte sich in ihr tief verwurzelt.“ (Senarclens de Grancy, 2004, S. 92) Er prägte damit eine regionale Form der Moderne mit. In Österreich konnte sich nie eine reine Moderne durchsetzen wie z. B. durch das Bauhaus oder De Stijl proklamiert. Sie stand immer in Beziehung zur Tradition. „Die bodenständige Tendenz“ im Werk Eichholzers zu negieren, hieße deshalb laut Antje Senarclens de Grancy (2004, S. 119), „einen wichtigen Aspekt seiner Arbeit zu verdrängen. Gerade die Verflechtung gegensätzlicher Positionen macht in Eichholzers Werk ein spannendes Element aus.“

Eichholzer ist einer der bedeutendsten steirischen Architekten in einer Zeit, die von zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise geprägt war. Von seinen wenigen errichteten Bauten sind kaum noch welche im Originalzustand erhalten. Das Wohnhaus Liebiggasse 9 (1934–35) in Graz gehörte bis zu seinem Verkauf an die Opus Privatstiftung von Dr. Birgit Jandl (Geschäftsführerin der m2 Immobilien GmbH) dazu. Kurz nach der Übernahme begann der Abbruch der letzten verbliebenen Einbaueinrichtung im Gangbereich einer der Wohnungen. 2009 wurde mit dem Abbruch des Dachgeschosses begonnen.

Zu diesem Zeitpunkt stand das Gebäude noch nicht unter Denkmalschutz. Ein Verfahren war bereits 2007 eingeleitet und von Birgit Jandl beeinsprucht worden. Die Bauherrin bezeichnet sich selbst als architekturbegeistert und hatte sich laut eigener Aussage im Vorfeld über zwei Jahre intensiv mit der Moderne und Eichholzer auseinandergesetzt. Sie behauptete, es ginge ihr um die Rückführung in den Originalzustand.

Die Berücksichtigung eines derartigen offenen Bundesverfahrens im Zuge eines Bauverfahrens durch die Baubehörde ist von Gesetzes wegen nicht vorgesehen, eine Abbruchbewilligung war dadurch nicht ausgeschlossen. Damit unterlag die Beurteilung des eingereichten Umbaus mit Abbruch des Dachgeschosses und Errichtung von zwei Penthäusern in Form eines Staffelgeschosses der Grazer Altstadtsachverständigenkommission (ASVK). Das Gutachten der ASVK fiel damals positiv aus.

Die ASVK, in der sich auch ein Mitglied des Bundesdenkmalamtes (BDA) befindet, war zwar über ein offenes Verfahren informiert, allerdings wurde im Gutachten lediglich Bezug genommen auf die bedeutende „bauliche Charakteristik für das Stadtbild“ und das Erscheinungsbild „nach Maßgabe der Schutzwürdigkeit“. Wobei zum Erscheinungsbild (GAEG 1980) „alle gestaltwirksamen Merkmale des Gebäudes wie z. B. Dachform, Dachneigung und Dachdeckung“ gehören. Über die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines Gebäudes wurde nicht befunden.

Die nun kürzlich von der Architektin Marion Wicher (YES architecture, Graz) in einer Beilage der Kleinen Zeitung kolportierte Behauptung, dass das Gebäude „ursprünglich kein Steildach" hatte – der sich übrigens auch das Bundesdenkmalamt zum Zeitpunkt der Einreichplanung der Aufstockung anschloss – ist schlichtweg Humbug. Ein Blick ins Stadtarchiv hätte genügt, um dies festzustellen. Empfehlenswert ist dabei auch der Blick in den Akt der Nebengebäude Liebiggasse 5 und 7, denn wer diese Gebäude auch im Inneren kennt, wird eine gewisse Ähnlichkeit in der Grundstruktur feststellen können. Dabei entdeckt man für den oberen Abschnitt der Liebiggasse (Heinrichstraße – Johann-Fux- Gasse) eine Art Bebauungsplan („Situationsplan“) aus dem Jahr 1911 von Stadtbaumeister Karl Walenta, der auch die beiden identen Häuser Liebiggasse 5 und 7 (1911/12) plante und errichtete. Die Grundrisstypologie und die Gestaltungselemente dieser beiden Häuser dienten als direktes Vorbild für die Liebiggasse 9. Denn Walenta plante 1929 für den Bauherrn Dr. Richard Winter die erste Fassung des Eckwohnhauses mit Steildach. Dieser Einreichplan wurde 1934 in seiner gesamten Grundstruktur von der Baufirma Ed. Ast & Co in Graz übernommen. Die Pläne der Firma Ast zeigen nicht die für Eichholzer später so typische Plangraphik und Beschriftung. Die planerische Beauftragung an Herbert Eichholzer und Viktor Badl dürfte daher nur eine Detailüberarbeitung des bestehenden Walenta-Planes umfasst haben: Steildach mit Schleppgaupen, größere Dachgeschosswohnung, neue Fensterproportionen, um die Ecke gehende Balkone, einflügelige Eingangstüre mit rundem Fenster, die Pendeltür im Stiegenhaus, der Geländerlauf im Stiegenhaus und an den Balkonen sowie das Vestibül mit seiner filigranen Überdachung des Eingangsbereiches und einer Seitenwand aus blauem Opakglas.

Das Gebäude an sich wird in der einschlägigen Literatur kaum erwähnt, erst 2007 beschreibt Antje Senarclens de Grancy in ihrem Buch „Keine Würfelwelt“ das „wenig experimentierfreudige“ Mehrfamilienwohnhaus: Der Bau nimmt mit seiner Fensterproportion und Gesamtform die Ästhetik der 50er-Jahre vorweg. Zu diesem Erscheinungsbild gehörten auch die beiden breiten Schleppgaupen am ausgebauten Steildach, die vor allem in der Nachkriegszeit – eben in den späten 50iger-Jahren – bei den Häuslbauern Furore machten.
Unverständlich und befremdlich wirkt, dass jene Kommission, die sich nicht nur aus Architekten, sondern auch aus Historikern und Vertretern des Bundesdenkmalamtes zusammensetzt, ihre eigentliche Aufgabe, wertvolle Baudenkmäler zu erkennen und zu schützen, nicht umfangreich wahrnimmt. Sie wirft nicht einmal einen Blick in den historischen Bauakt oder zieht zumindest einen externen Fachexperten für die Moderne hinzu. Faktum ist, dass damit der ursprüngliche Zustand des einzigen, noch vollständig existierenden größeren Hauses von Herbert Eichholzer verloren gegangen ist. Zu hoffen ist, dass sich ein solcher Vorfall mit der Novellierung des Grazer Altstadterhaltungsgesetzes 2008 und der Installierung des Altstadtanwaltes nicht mehr wiederholt.

Völlig absurd ist, dass im Chor behauptet wurde, ein Steildach wäre ursprünglich nicht vorhanden gewesen. Man argumentierte damit, im Sinne des Architekten zu handeln und ein Gebäude durch diesen Umbau „in seiner Originalität zu bewahren bzw. rückzuführen, um den modernen Vorstellungen Eichholzers Rechnung zu tragen“. Da fragt man sich, wie denn das 1910 erbaute Michaelerhaus von Adolf Loos mit Flachdach aussehen würde und warum man vollenden will, was längst vollendet ist? Der Eklektizismus lässt grüßen.

Ob die neuen Luxus-Penthäuser der architektonischen Qualität und Weitsicht eines Herbert Eichholzer Rechnung tragen, sei dahingestellt.

BIOGRAFIE:
Herbert Eichholzer (1903–43)
studierte an der Technischen Universität Graz (1922–28) und arbeitete 1929 als Volontär bei Le Corbusier in Paris. Von 1931–38 war er als Architekt in Bürogemeinschaften mit Rudolf Nowotny und Viktor Badl tätig. 1932 arbeitete er in Moskau im Projektierungstrust „Standartgorprojekt“ im Umfeld von Ernst May, Mart Stam etc. 1938 flieht er über Paris nach Istanbul zu Clemens Holzmeister, wo er u. a. mit Margarete Schütte-Lihotzky zusammentrifft. 1940 kehrt er nach Österreich zurück, um den Widerstand neu zu organisieren. 1941 wurde Eichholzer verhaftet und 1943 in Wien hingerichtet.
Zu seinen bekanntesten Bauten zählen: Arbeiterwohnhaus Judenburg (1930), Operngarage Graz (1932), Haus Pistor und Ferner (1932) und Haus Lind (1936).

LITERATUR:
Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jh., Band II, Kärnten, Steiermark, Burgenland, Residenz Verlag, Wien, 1989, ISBN 3-7017-0322-1

Dietrich Ecker, Peter Schurz (Hg.), Herbert Eichholzer: Architekt, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Band Nr. 1, 2004, ISBN 3-708-30181-1

Robert Graf, Die Rosenbergsiedlung, in: Zeitschrift BWK, Beratung für Architektur, Wohnkultur und Kunst, 5. Jg., 1936, Heft 7/8, Seiten 5–7
Robert Graf, Junge Baugesinnung in der Steiermark, in: Zeitschrift Profil, Hrsg. ZV der Architekten Österreich, 4. Jg., 1936, Heft 12, Seite 554

Antje Senarclens de Grancy, Heimo Halbrainer, U. Hirschberg, Totes Leben gibt es nicht. Herbert Eichholzer 1903–1943, Springer, Wien 2004, ISBN 3-211-21278-7

Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt, Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne, Graz 1918–1938, HDA Verlag, Graz 2007, ISBN 978-3-901174-65-

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